Content is kaputt
Es ist Montagmorgen. Du liest die Blaupause, den Newsletter, mit dem du Communitys besser verstehst und erfolgreich Mitgliedschaften anbietest. Heute: Was verkaufen wir, wenn „Content“ beliebig verfügbar ist?

Hallo!
Nicht unwahrscheinlich, dass du noch nie Stern.de (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) besucht hast, aber lass uns mal am Beispiel dieser Webseite über die aktuelle Lage von Online-Medien sprechen, die sich dramatisch zuspitzt.
Auf einmal will der Stern digitale Abos verkaufen
Der Stern hat lange den Trend zu Digital-Abos verpennt. Während Zeit und Spiegel jeweils deutlich mehr als eine Viertelmillion digitale Abos verkaufen, setzte der Verlag Gruner+Jahr bis vor Kurzem auf Werbung beziehungsweise Affiliate-Marketing, also die Vermittlung von Produkten gegen Provision durch Artikel, Tests, usw. Ich persönlich halte wenig von diesem Modell, weil es den Journalismus drumherum diskreditieren kann, aber es war lange sehr lukrativ.

Auf seine alten Tage, und nachdem Gruner+Jahr verschrottet und an RTL verscherbelt wurde, hat der Stern 2024 die Kurve bekommen und will auf einmal Abos verkaufen, und zwar 100.000 Stück bis 2026 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Die Marktforschung hat wohl ein Publikum entdeckt, das trotz vieler etablierter Angebote noch kein Online-Abo besitzt, aber zahlungsbereit wäre. RTL ist bereit, drauf eine 30-Millionen-Euro-Wette abzuschließen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
Die drei Wundertüten: Zeit, Spiegel, Stern
Im Prinzip sollte so ein Modell auch gut zu einem Magazin passen, das aufwendig recherchierte und fotografierte Reportagen macht, dazu Interviews, Service, Gesellschaft und Unterhaltung zu einer im Stern-Umfeld als „Wundertüte“ glorifizierten Mischung verpackt. Denn genau solche Inhalte sind es, die gut konvertieren: Psychologisches, Service, gehobene Unterhaltung, wie sie heutzutage die Zeit perfektioniert hat (früher ein Blatt für die Intellektuellen), und mit der sich der Spiegel so Mühe gibt und sich gleichzeitig enorm schwertut, mit seiner harten Sprache und eher männlichen Leserschaft. Genau deswegen ähneln sich die Startseiten von Spiegel, Zeit und Stern – wenn nicht optisch, dann doch was die redaktionellen Inhalte angeht.
Ich muss sagen, ich bin sehr froh, dass ich nichts mit der Aufgabe zu tun habe, aus Stern.de (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) ein blühendes Abogeschäft zu machen. Denn während die Konkurrenz uneinholbar vorn liegt, steht auch dem neuen Besitzer des Sterns, RTL, das Wasser bis zum Hals. Der Sender will nämlich nicht nur aus einem in die Jahre gekommenen Magazin in sehr kurzer Zeit eines der größten Abo-Angebote des Landes machen, sondern gleichzeitig aus linearen Werbefernsehsendern (RTL, VOX, RTL II, Super RTL, N-TV, Toggo und noch ein paar andere) ein Streaming-Angebot (RTL+). Wie das läuft, könnten wir ja mal Stefan Raab fragen.
Ich spare mir die Häme; sie versuchen es immerhin. Aber es bleibt schwierig bis unmöglich. Immerhin wurden bis jetzt bereits 30.000 digitale Abos erreicht, bis Ende des Jahres sollen es dann schon 50.000 sein. Aber der Wind bläst von vorn. Ende letzter Woche wurde bekannt, dass der Stern die für Qualitätsmedien besonders wichtige Dokumentationsabteilung komplett dicht macht (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Wie bei Gruner+Jahr üblich, trug die Abteilung den peinlich aufgeblasenen Denglisch-Namen „Quality Board“, aber diese Qualität ist jetzt offenbar überflüssig. Was mit den 30 Mitarbeitenden passiert, bleibt nebulös. Sie werden wohl entlassen, sonst würden Kosten nicht sinken.
Der Grund sei das schwierige Werbegeschäft, teilt RTL mit. Das bedeutet wahrscheinlich – ich spekuliere –, dass der Stern immer weniger Geld mit Affiliate-Marketing verdient. Weil immer weniger Traffic auf der Seite ankommt.

Die Probleme des Sterns sind auch deine Probleme: Suchmaschinen-Reichweite
Das ist ausnahmsweise kein Stern-spezifischer Management-Fehler, sondern hat strukturelle Ursachen. Digitale Medienmarken verzeichnen seit 2023/24 teils dramatische Besucherrückgänge. Suchmaschinen-Traffic bricht ein, seit Google verstärkt KI-generierte Antworten anzeigt. So sank bei Mail Online die Klickrate, wenn Googles KI-Overview erscheint, um über 50 Prozent (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). „Portale, die auf Reichweite abzielen, sind tot. Das wird spätestens in ein bis drei Jahren überhaupt kein Geld mehr abwerfen“, sagt Dennis Ballwieser (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), Chefredakteur der Apotheken-Umschau. „Dieses Geschäftsmodell, das jetzt seit 20 Jahren funktioniert hat, ist zu Ende.“
Die Folgen der Traffic-Erosion sind gravierend. Websites, die stark auf Suchmaschinen setzten, verlieren Werbeerlöse und reagieren wie der Stern mit Sparkursen. Business Insider etwa strich in den USA ein Fünftel der Stellen, weil 70 Prozent des Umsatzes von Google und Meta abhingen und man „extreme traffic drops“ verzeichnete (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
Denn auch Social-Media-Zugriffe schwinden rapide. Facebook-Referrals zu News-Sites fielen um 50 Prozent innerhalb eines Jahres (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Ursache sind geänderte Algorithmen („family and friends first“) und der Rückzug von News bei Meta. Hinzu kommt verändertes Nutzerverhalten jüngerer Zielgruppen: Bereits 21 Prozent der 18-bis-24-Jährigen starten ihre Websuche auf TikTok (weitere 5 Prozent auf YouTube) statt auf Google (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
Content is Commodity, Community is king
Was sagt uns das alles?
„Content is King“, sagte die ehemalige Gruner+Jahr-Chefin Julia Jäkel gern. Jetzt isser kaputt. Inhalte zu produzieren, war nie billiger. „Content“ wird durch künstliche Intelligenz immer mehr zur Commodity, also zum kostenlosen und schnell überall verfügbaren Rohstoff. Klar: Das ist mittelmäßige und fehlerhafte Massenware – aber das beschreibt leider auch ganz gut den Content, den Reichweiten-orientierte Medien ihre menschlichen Mitarbeitenden bisher produzieren ließen. Und in der schieren Menge an Veröffentlichungen geht selbst Gutes leicht unter.
Für unabhängige Medien ist das eine gefährliche Entwicklung. Worin unterscheiden sie sich noch, wenn „Content“ beliebig verfügbar ist?
Die Antwort liegt jenseits des reinen Inhalts: in der Beziehung zum Publikum. Dazu ein andermal mehr.
Bis nächsten Montag!
👋 Sebastian
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