Guten Tag, werte Lesende!
Ich bin müde, schlechtlaunig und ratlos. Klimakonferenzen leisten da einen immensen Beitrag. Ein einziger Weltraumflug von Bezos, Musk und den anderen egomanischen LecktMichAmArschgesichtern produziert mehr klimaschädliche Emmissionen als die ärmste Milliarde Menschen in ihren ganzen Leben. Ursula von der Leyen lässt sich über eine Strecke von 47 Kilometern charterfliegen. Und die königliche Schaustellerfamilie stolziert mit Ökomiene und gigantischem ökologischen Fußbabdruck durch Glasgow.
Nein, ich habe nichts gegen Genie, Reichtum, Prominenz. Nur gegen deren fehlgeleiteten Einsatz. Außerdem hätte ich gern Antwort auf eine ganz simple Frage: Wie kriegen wir den Erhalt des Raumschiffs Erde und den Immer-mehr-Bedarf seiner Passagiere unter einen Hut? Bei der Gelegenheit fällt mir auf, dass Kolumnist und Kommunist sich nur durch einen Konsonanten unterscheiden. Ich gestehe, ich habe über Altershomosexualität nachgedacht und Altermilde, aber noch nie über Alterskommunismus. Eine Aufgabe fürs Wochenende. Ivh werde mich endlich mal mit Tomasz Koniscz befassen.
http://www.konicz.info/?p=4566 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Und wie kriegen wir jetzt die Kurve Richtung Heiterkeit?
Hier. Love it. Again and again.
https://www.youtube.com/watch?v=Mh4f9AYRCZY (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Viel Spaß,
Hajo Schumacher
Spaß an Schumachers Woche? Für alle, die meine Arbeit unterstützen möchten und können, gibt's hier (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) die Möglichkeit. Diese Woche verlose ich unter allen Steady-Freunden eine Dose meiner Lieblingssardinen.
1. Selfie der Woche
Mit Kimmich, Süle, Lewandowski, Sanè, Müller, Coman, Davies und Keule auf einem Bild... – jetzt ihr. @Karola: Danke für die Einladung.
2. Reflexion der Woche
Stefan Weichert lehrt an der Hamburg Media School, hat vocer.org miterfunden und forscht, meist gemeisam mit Leif Kramp, den ich gern mit dem Literaten Leif Randt verwechsle. Warum konstruktivem Journalismus die Zukunft gehört, weshalb Funk das Tollste ist, was die Öffentlich-Rechtlichen in den letzten Jahren zugelassen haben und wieso viele KollegInnen auf die Frage "Was würdest Du tun, wenn Du keine Angst hättest?" mit "Kündigen!" amtworten, das erklärt Weichert im Mutmach-Podcast.
Zwischen Burnout und Sinnkrise (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
3. Indian Summer der Woche
Ein Kleingarten bietet im Herbst immer wieder faszinierende Farbenspiele.
4. Wiederentdeckung der Woche
„Leprakranke grillen Hunde an Stöcken über brennendem Benzin. Obdachlose schieben Einkaufswagen vor sich her, in denen sich haushoch Millionen- und Milliardendollarscheine türmen, die sie aus Abwässerkanälen zusammengekratzt haben. Kadaver am Straßenrand - enorme Kadaver, so große Kadaver, dass es sich nur um Menschen handeln kann, kleben einen ganzen Block lang zermatscht am Bordstein.“
Huch? Neulich in Neukölln?
Nein. Eine kleine Passage aus "Snowcrash"von Neal Stephenson, auch schon 30 Jahre alt und gerade wieder aktuell. Denn die HeldInnen des Roman fliehen aus einer unwirtlichen Realität ins Metaversum, um ihre Avatare in einer heilen digitalen Welt entspannen zu lassen. Details hier.
https://de.wikipedia.org/wiki/Snow_Crash (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Mark Zuckerberg hat seine Pläne für ein Metaverse verkündet; vielleicht ein Ort für künftige Klimakonferenzen. Ich würde Facebook umgehend vergesellschaften (Vgl. Alterskommunismus). Habermas vielleicht auch.
Mehr Schaden, mehr Lügen, mehr Kampf
Bedroht Facebook die Demokratie? Diese Frage hat sich nun sogar Jürgen Habermas angenommen, Altmeister der Philosophie. Womöglich zu spät.
Facebook ist für die gesellschaftliche Atmosphäre, was die Mineralölindustrie für das Weltklima ist – eine ziemliche Belastung. Beide waren eine ganze Weile konkurrenzlos, aber die besten Zeiten sind vorbei. Lobbyisten und Mietmäuler zögern den Niedergang hinaus während immer neue Studien und Whistleblower belegen, dass das weltgrößte soziale Netzwerk den demokratischen Diskurs vergiftet. Zuletzt berichtete die ehemalige Facebook-Mitarbeiterin Frances Haugen dem US-Kongress, wie Wut, Irrsinn und Hass den Umsatz treiben. „Mehr Trennendes, mehr Schaden, mehr Lügen, mehr Drohungen, mehr Kampf", so erklärte Haugen den Abgeordneten das Erlösmodell. Zugleich wird bei Facebook getrickst und geflunkert, wie bei Big Oil, Big Tobacco oder Big Pharma zu schlechtesten Zeiten.
Der Giftstrom aus dem Silicon Valley alarmiert sogar Deutschlands wichtigsten Philosophen. 59 Jahre nach seinem Standardwerk „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ legt Jürgen Habermas, 92, einen Aufsatz zum „erneuten Strukturwandel“ vor, eine Erweiterung seines Klassikers, der die unheilvolle Macht der sozialen Medien beleuchtet.
Idealerweise, so Habermas, sei die medial vermittelte Öffentlichkeit eine Vernunftsmaschine der Demokratie, die Themen aufbereite, ordne und der Politik gleichsam als Aufgabenliste präsentiere. Dummerweise aber seien Verlage und Sender längst zu Machtinstrumenten geworden. Ausgerechnet diese klassischen Medien, findet Habermas plötzlich, müssten die Demokratie retten, weil ihre Kontrollmechanismen und Schleusen den Unsinn filtern. Soziale Medien wie Facebook dagegen prüfen und löschen allenfalls notdürftig. Kein Wunder: Negative Emotionen verbreiten sich weitaus schneller und weiter; Polarisierendes, Empörendes, Horror ist demnach gut für den Aktienkurs.
Facebooks habe die einstige Hoffnung nicht eingelöst, die Öffentlichkeit zu demokratisieren, weil jeder und jede mitreden kann. „Dieses große emanzipatorische Versprechen wird heute von den wüsten Geräuschen in fragmentierten Echoräumen übertönt“, so der Philosoph. Habermas bemängelt, dass social media die Trennung zwischen privat und öffentlich verschwimmen lasse und sich eine gefährliche „anonyme Intimität“ breit mache, in der Unsinn gleichberechtigt neben Klugem, Hass neben Erklärendem, Meinung neben Fakten stehen.
„Habermas hält das Experiment social media für gescheitert“, erklärt der Hamburger Medienwissenschaftler Stephan Weichert. Facebook und die anderen sind vielmehr zum Stresstest für die Demokratie geworden, wie die entgleiste Debattenkultur in den USA nahelegt. Dort ist Unversöhnlichkeit der kleinste gemeinsame Nenner. Bleibt die Frage: Wie viel Wut, Hass, Lügen hält eine Gesellschaft aus, wenn jeder jeden niederbrüllt? Und: Kann, will eine Demokratie einen verantwortungsvollen Umgang mit den Plattformen überhaupt lernen? Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen träumt von einer „redaktionellen Gesellschaft“, in der Menschen die Regeln des guten Journalismus´ von kleinauf lernen und anwenden: hören, prüfen, wägen, Fakten und Meinungen trennen, angemessen präsentieren.
Facebook-Chef Zuckerberg baut seinen Konzern derweil so zügig um, als wolle er kleinlichen demokratischen Bedenken ebenso enteilen wie einer Zerschlagung. „Der Zeitpunkt, Facebook zu regulieren, ist verpasst worden“, schreibt der Netz-Journalist Richard Gutjahr, der jahrelang von einem digitalen Mob heimgesucht wurde. Zuckerbergs Vorbild, so Gutjahr, seien nicht länger Bill Gates, „sondern Gott“. Konsequenterweise baut Zuckerberg an einer schönen, neuen Welt, einem digitalen Paralleluniversum namens „Metaverse“. Die Kundschaft starrt nicht länger auf Bildschirme, sondern taucht mit Hilfe von Brillen und Sensoren komplett in eine bunte Welt, um zu spielen und zu shoppen. Natürlich wird im Metaverse auch gewählt, allerdings nur noch zwischen Produkten und Unterhaltungsangeboten.
Mit freundlicher Genehmigung der Berliner Morgenpost
5. Virologe der Woche
Professor Hendrik Streeck ist, nun, hier und da umstritten mit seinen Prognosen. Ich sprach mit den KollegInnen Anna Lehmann (taz), Olaf Gersemann (Die Welt) und eben Streeck über die vierte Welle. Ich fand Streeck ganz vernünftig.
Auf den Punkt bei dw-tv (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
6. Tweet der Woche
7. Meditation der Woche
Saisongemäßer Aufreger ist ja der Laubbläser. Es gibt da eine sehr entspannende und gesellschaftsverträgliche Alternative.
Rechenaufgaben
Ich bin ja nicht so das Meditier. Rumsitzen und nach innen gucken regt mich auf. Gedanken sind flatterhafte Biester. Gerade da, schon wieder weg. „Das würde Dir mal gut tun“, sagt die Chefin, was umgehend meine zentrale Charaktereigenschaft mobilisiert: Reaktanz. Ich kombiniere Meditieren lieber mit Sinnvollem: Schlafen zum Beispiel oder Laufen oder Online-Solitär. Und jetzt im Herbst natürlich mit Harken. Japanische Mönche ziehen Kiesel zu messerscharfen Mustern; ich schaffe mit dem zenartigem Zug meines Rechens anmutige Haufen. Harken findet meist an der frischen Luft statt, fordert angenehm den Kreislauf, und mit der Blutblase in der Hand ist gut Angeben. Weil Rechenaufgaben selbst nervöseste Menschen erden, sollte Schulkindern, Tiktok-Akteuren oder Karl Lauterbach das Laubharken auf Rezept verordnet werden. Ich warte auf den Bestseller: „Laub des Lebens. Die Kunst des achtsamen Harkens.“
Laub kommt von Laube, die irgendwann unter all den Blättern nicht mehr zu sehen ist, zumal sich die Größe unseres Grundstücks (Handtuch) umgekehrt proportional zur Blattmenge (Tonnen) verhält. Selbst Äste weit entfernter Bäume zielen exakt auf unsere Scholle. Ideal für eine ausgiebige Meditation, von den Rändern zur Mitte, von Bahnen zu Haufen, dann über den Zaun zu den Nachbarn. Harken schafft den Flow, Raum und Zeit verlieren sich. Seit ich bis kurz nach Mitternacht durchgeharkt habe, legt mir die Chefin ein Leuchthalsband an. Ich plane ein 24-h-Harken, Marathon des Kleingärtners.
Ich weiß: An dieser Stelle müssten kulturkritische Garstigkeiten über Laubbläser beginnen, jene Geräte, die im selben Teil der Hölle erfunden wurden wie elektrische Salzstreuer, Fahrstuhlmusik oder Wiederverschlusskappen für Champagnerflaschen. Paah. Einfach ächten, ignorieren und zeigen, was eine Harke ist. Der einzig wahre Laubbläser ist unsichtbar, arbeitet meist leise, hat immer Akku, stinkt nicht, aber und schafft erst die Grundlage fürs meditative Harken. Mit Verlaub. Es ist der Wind.
Mit freundlicher Genehmigung der Berliner Morgenpost
So. Das war's. ich gehe jetzt Boxen, mit einem guten alten Freund.
Schönes Wochenende,
Hajo Schumacher
PS: Spaß an Schumachers Woche? Für alle, die meine Arbeit unterstützen möchten und können, gibt's hier (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) die Möglichkeit. Diese Woche verlose ich unter allen Steady-Freunden ein auf Wunsch signiertes Exemplar von Kein Netz. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Ach ja, die Sylt-Kolumne. Hier. Die letzte übrigens. Danke, Hennes.
Der wahre König von Sylt
Von Arno Nühm
Denkt man an Sylt, denkt man an GOSCH. JÜRGEN GOSCH. Der gelernte Maurer ist Fischkönig der Insel, einer der größten Arbeitgeber der Insel und Hauptdarsteller in einem der schönsten Stücke, die Benjamin von Stuckrad-Barre je verfasst hat. Vor Jahren hat er sich die Insel mit seinem Konkurrenten BLUM aufgeteilt. Die Hummer in beider Logos sehen sich zum Verwechseln ähnlich.
Urlauber, die die wirklich goldenen Zeiten miterlebt haben, wissen es allerdings besser. Der wahre König von Sylt hatte mit Fisch wenig am Hut. Fleischermeister Josef "Jupp" Thevis war Sylts Wurstkönig, rheinische Frohnatur und deutlich früher Multimillionär als "Jönne" Gosch. Wer zur Weihnachtszeit oder fürs Silvester-Fondue nicht bei "Thevis auf der Friedrichstraße" sein Fleisch geordert hat - und zwar Wochen im Voraus - hat nicht wirklich Urlaub auf Sylt gemacht. Bei Thevis musste man eine Nummer ziehen. Anstehen bei Jupp war auch für Sylter das Normalste auf der Welt. Als Sylts größter Viehzüchter mit eigener Herde wusste der Jupp immer, was er seinen Gästen verkaufte.
Gleich neben seiner Metzgerei befand sich eine kleine Altbierbar: . Theke, Stehbänke, ein paar Bretter zum Gläserabstellen. Die Zapfhähne wurden nur zum Fasswechseln geschlossen. Das "De Kök". Was nur wenig wussten: Im hinteren Teil der Kneipe lag eine kleine Küche, die mit der Metzgerei verbunden war. Wenn Jupp mal Pause gemacht hat, brutzelte er ein gutes Stück Fleisch für Gäste, die er mochte. Lecker. Herrlich. Gratis.
Irgendwann musste Jupp seine Metzgerei aufgeben. Ob es an GOSCH lag, der direkt gegenüber seinen Fischladen stetig vergrößerte? Mit dem "De Kök" war es bald zu Ende. Es gehört nun einem Unternehmer vom Festland. In den ehemaligen Räumen der Metzgerei befindet sich ein Textilgeschäft. Jupp Thevis ist im vergangenen Jahr im Alter von 80 Jahren kurz vor Weihnachten gestorben. Bis zuletzt hat er aus seinem Imbisswagen die besten Würste der Welt verkauft. Irgendetwas stimmt mit dieser Insel nicht mehr.