Traktoren, Traktate, Legenden und Lektionen
Eine Woche voller Staus liegt hinter uns, und ausnahmsweise waren weder Baustellen noch Angehörige der „Letzten Generation“ dafür verantwortlich, sondern deutsche Landwirte und Leute, die gerne Freunde deutscher Landwirte wären und natürlich waren da auch Leute, die entweder die Regierung oder das Regierungssystem abschaffen wollen. Zwei Dinge haben diese Proteste so groß gemacht: Einmal die bemerkenswert große Lobby, die Landwirte immer noch haben, und das Protesthilfsmittel: Ein John-Deere-Traktor der Marke 6175M ist 2,8 Meter breit und 4,99 Meter lang und belegt damit 14 Quadratmeter Demonstrationsfläche, während ein üblicher Demonstrant zu Fuß bei polizeilichen Zählungen meist etwa einen Drittel Quadratmeter zugesprochen bekommt. Einen Trecker zu haben vergrößert eine Demonstration also um den Faktor 42; und da haben wir das Bedrohlichkeitspotenzial und die Möglichkeit zur schnellen und unräumbaren Straßensperrung noch gar nicht einberechnet.
Den Trecker als politisches Druckmittel haben wir nicht Konservativen oder Rechten zu verdanken, sondern ausgerechnet einer Vorform der Grünen: Im „Gorleben-Treck“ fuhren 1979 rund 350 Traktoren vom Wendland aus Richtung Hannover auf und schafften es gemeinsam mit zahlreichen weiteren Demonstrierenden, aus der geplanten Wiederaufbereitungsanlage für nukleare Brennstäbe das Zwischenlager Gorleben zu machen. Aber auch diese eher friedliche Gruppe kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Einsatz einer großen landwirtschaftlichen Maschine zur Artikulation politischer Forderungen eine gewisse Gewaltdrohung beinhaltet – gut zu sehen in diesem bekannten Video (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), in dem die Polizei alle Mühe hat, einen einzelnen Demonstranten unter Kontrolle zu bekommen. Ein friedlicher Angehöriger der „Letzten Generation“ ist für die Ordnungskräfte jedenfalls mit deutlich weniger Aufwand behandelbar.
Eine galante Überleitung zum nächsten Thema verbietet sich aus einer Vielzahl von Gründen, deshalb direkt hinein: Mit außergewöhnlich scharfen Worten hat der Hamburger Historiker und (Post-)Kolonialismushansdampf in allen Gassen Jürgen Zimmerer seinen Kollegen Norbert Frei attackiert (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre):
„Norbert Frei war einmal ein ernst zu nehmender Historiker. Wenn er über Postkolonialismus schreibt, erscheint er aber auch nur als "alter weisser Mann". Ahnung vom Thema zeigt er nicht.“
Was war passiert? Frei, der den Begriff „Vergangenheitspolitik“ in die unserem Fach verankert hat, hatte für die Süddeutsche Zeitung ein Mini-Essay von nicht einmal 10.000 Zeichen geschrieben, in dem es um die weiterhin nötige Erinnerung an den Holocaust ging, historisch hergeleitet und mit aktuellen Beispielen versehen. Ganz neu ist der Text nicht, er ähnelt in Teilen einem Beitrag, den Frei bereits 2022 in einem Sammelband (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) veröffentlicht hatte. Was Zimmerer so erzürnt, dürfte ein Absatz gewesen sein:
„In solchen Sätzen (Höckes Erinnerungswende, M.H.) schwingt ein kaum verhohlener Antisemitismus mit, der sich in ähnlicher Weise auch bei manchen postkolonialen Kritikern des deutschen Holocaust-Gedenkens zeigt: So etwa, wenn behauptet wird, die Deutschen entsprächen damit nur den Forderungen von "amerikanischen, britischen und israelischen Eliten" und missachteten darüber die Erinnerung an andere Gruppen, die ihrem Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus zum Opfer gefallen seien.“
Damit spielt Frei auf den australischen Genozidforscher A. Dirk Moses und seinen Beitrag „Der Katechismus der Deutschen“ an, der 2021 eine Debatte auslöste, die ganz offenbar noch lange nicht vorbei sein wird: Ob die deutsche spezifische Erinnerung an den Holocaust den Blick auf andere historische Verbrechen und damit auch die politischen Handlungsspielräume der Bundesrepublik einengt. Die ganze Debatte hier zusammenzufassen wäre ein absurdes, zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, allein: Frei äußert hier einen legitimen, von zahlreichen renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vertretenen Standpunkt, und das in einer vergleichsweise zurückhaltenden Form: Patrick Bahners (FAZ) etwa hatte Moses rundheraus vorgeworfen, den „Schuldkult“-Vorwurf der deutschen Rechtsextremen von links neu aufgemacht zu haben und ihn einen „Sieferle (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) von links“ gescholten.
So wirkt Zimmerers harsche, uninhaltliche Reaktion beispielhaft für eine seit dem 7. Oktober 2023 noch einmal verschärfte Debatte im deutschsprachigen Raum. Der hat sich im Gegensatz zur englischsprachigen Linken eben nicht einseitig in einer postkolonial verstandenen Palästinasolidarität positioniert sondern pluraler, widersprüchlicher und (meinem Eindruck nach) oft sorgfältiger argumentiert. Aus einer politischen Verantwortung für Israel, natürlich, aber auch gespeist aus einer seit über 30 Jahren andauernden Debatte, die internationale Stimmen offenbar kaum mitbekommen haben. Denn wer die deutsche Holocaust-Erinnerung als „Belehrung durch eine religiöse Autorität“ (um mal unbeholfen ‚Katechismus‘ zu übersetzen) wahrnimmt, der hat sich nie durch zehn Jahre antideutsche Textproduktion gekämpft. Da ist nämlich jeder Gott sehr, sehr weit weg.
Vom Gott zum Kaiser: Es war spannend zu sehen, wie die deutsche Öffentlichkeit auf den Tod Franz Beckenbauers reagierte: Neben einigen erwartbaren Erinnerungen, bitte die Schattenseiten nicht zu vergessen, überwog nämlich spürbar die Erleichterung, jetzt über den prägendsten Fußballer der Landesgeschichte mal wieder positiv reden zu können, über seinen Fußball (und die Eleganz ist ja wirklich beeindruckend, ganz anders als bei den Holzfüßen drumherum, die heute statt einer Weltmeisterschaft die Kreisklasse aufrollen würden) und seine Führung der ersten Nationalmannschaft aus Fußballmillionären 1990. Die sonst gerne kritischen Fußballexperten Arnd Zeigler und Philipp Köster ergingen sich in nostalgischen Lobeshymnen und erwähnten die Korruption um die WM 2006 nur pflichtschuldig. Außen vor blieb, wie eigentlich überall, Beckenbauers Verhöhnung der katarischen Gastarbeiter, unter denen er keine Sklaven gesehen haben wollte. Es wird spannend sein zu sehen, welches Bild Beckenbauers haften bleiben wird. Und wie lange das Bild überhaupt lebendig bleibt: Jamal Musiala, der bald 21 wird, konnte in den Interviews nach seinem Zwei-Tore-Spiel vom Freitag auf Fragen zum Bayern-Ehrenpräsidenten nicht mehr als ein paar Floskeln abspulen, wie auch: Beckenbauers letzte Trainertätigkeit endete sieben Jahre bevor Musiala überhaupt geboren wurde. Generationswechsel sind so, abrupt und unerwartet.
Zuletzt erschien der Artikel „Deutsche Unis haben ein MeToo-Problem (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)“ in der Zeit, der endlich und vollkommen richtig die Kombination aus Machtgefälle, Abhängigkeitsverhältnissen und verbreitetem Sexismus als Problem benennt. Das das so ist, ist unter den hier Lesenden sicherlich unstrittig, ich möchte dennoch zwei kritische Anmerkungen machen: Einerseits reflektieren die beiden Autorinnen meines Erachtens zu wenig, dass sie Historikerinnen sind, also aus der Welt eines Faches schreiben, in dem immer noch für viele Absolvent:innen die Karriere an einer Universität die direkteste Option zu einem erfüllenden, studiumsnahen und gut bezahlten (doch, wirklich) Job darstellt. Der Automatismus der Abhängigkeit vom Lehrstuhlinhaber besteht weitaus weniger in Fächern, in denen die Headhunter schon bei der Absolventenfeier mit Geldscheinen wedeln – gleichzeitig findet aber auch dort Missbrauch in allen Facetten statt.
Mein zweites Problem betrifft eine konkrete Forderung:
„Außerdem fordern wir, dass Hochschulleitungen ihre Fürsorgepflicht konsequent wahrnehmen und Vorfälle personalrechtliche Konsequenzen haben. Wer etwas beobachtet oder Gerüchte hört, sollte die Pflicht haben, diese zu melden.“
Ich halte die Vorstellung für äußerst kontraproduktiv, dem Opfer sexueller Ausbeutung die Entscheidung wegzunehmen, ob es deshalb straf- und arbeitsrechtliche sowie disziplinarische Wege beschreiten möchte. Eine solche Forderung, aus dem besten aller guten Willen gestellt, nimmt den Opfern ein zweites Mal die Agency über ihr Tun. Wir brauchen dringend bessere Anzeige- und Verfahrenswege und den Willen der Unis, hier auch wirklich vorzugehen – aber am Anfang aller Aufarbeitung muss der Wille stehen, den Opfern ihre Stimme oder ihr Schweigen zu lassen.