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Gemeinfrei ins Jahr 2024

An Neujahr (ein ebensolches frohes wünsche ich!) wurde in Teilen des Internets wieder der “Public Domain Day” gefeiert: Fast überall auf der Welt werden zu diesem Stichtag geistige Schöpfungen frei, die - je nach Land - vor einer bestimmten Zeitdauer erfunden bzw. angemeldet wurden oder deren Urheber:innen vor einer bestimmten Zeit gestorben sind. Das ist in vielen Ländern unterschiedlich, was einige deutsche Medien nicht daran gehindert hat, einfach amerikanische Artikel abzuschreiben: Dort ist nämlich gestern der erste Schwung von Mickey-Mouse-Abbildungen, hauptsächlich der Film “Steamboat Willie (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)”, gemeinfrei geworden, nachdem insgesamt vier Gesetzesänderungen genau das in den vergangenen Jahrzehnten verhindert hatten. Das bedeutet aber nicht, dass wir in Deutschland nun mit der Urform der Comicmaus wild Kaffeetassen und T-Shirts bedrucken können: Hierzulande gilt, dass die Gemeinfreiheit zum Ablauf des Kalenderjahres 70 Jahre nach dem Tod des Schöpfenden eintritt. Walt Disney ist aber erst 1966 gestorben, sein Co-Regisseur Ubbe Iwwerks (das ist ein ostfriesischer Name, die Lebensgeschichte lohnt die Lektüre) gar erst 1971. Das bedeutet, dass wir in Deutschland erst am 1. Januar 2042 in den Genuss der befreiten Maus kommen.

Aber auch abseits von Walt Disney können wir uns darüber freuen, dass geistige Schöpfungen frei geworden sind: Durch den Ablauf der Urheberrechte sind sie aus einer der massivsten Freiheitseinschränkungen entlassen, die unser Leben im 21. Jahrhundert prägt. Das hat nicht nur mit Geld zu tun: Dass wir ansehen, hören, fühlen was sich andere ausgedacht haben und es dann mit unserem Geist weiterbearbeiten und neue Schöpfung daraus ziehen, ist eine Grundkonstante des Menschen, die durch die juristische und politische Durchsetzung strenger Urheberrechte massiv eingeschränkt worden ist. Wo immer in den vergangenen Jahrzehnten bahnbrechende kulturelle Entwicklungen zu sehen sind, haben sie aufgrund des Urheberrechts in der faktischen Illegalität stattgefunden, weil es weder machbar war jedes Sample für Hip Hop zu klären noch Memes denkbar wären, für die jedes Mal eine zeitlich unbegrenzte Online-Lizenz für ein Stock Photo (Kostenpunkt meist dreistellig) zu erwerben wäre.

Insofern seien hier schlaglichtartig einige, um mit Isaac Newton zu sprechen, Gigantinnen und Giganten vorgestellt, auf deren Schultern in Zukunft Kultur entwickelt werden kann, ohne Angst vor Abmahnungen, GEMA und anderem Allzuweltlichen haben zu müssen.

Hank Williams wurde 1923 geboren und dürfte damit der Jüngste unserer Vorgestellten sein, weil er mit nur 29 Jahren in einem Auto starb, das ihn zum Neujahrskonzert nach Ohio bringen sollte. Williams’ Einfluss auf die amerikanische Country-Musik lässt sich nicht hoch genug einschätzen, er brachte all die Tragik eines Alkohol- und Morphium-Abhängigen, eines Aussätzigen und gleichzeitig charismatischen Massenlieblings in die Musik, die später z.B. auch Johnny Cash auszeichnen sollte. Kaum jemand aus den USA, der zwischen 1950 und 1980 Songs auf einer Gitarre schrieb, wird Hank Williams nicht als Vorbild angesehen haben. Nicht alle seine Lieder sind nun gemeinfrei, das programmatische “I’ll never get out of this world alive” beispielsweise hat er mit Fred Rose zusammen geschrieben, der im Dezember 1954 starb (wir hören uns also in genau einem Jahr), aber wir können uns auf viele ungebundene Bearbeitungen und Cover-Versionen von Hits wie “Honky Tonk Blues” freuen:

https://www.youtube.com/watch?v=2eCRIVfy-GI (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Emmy Andriesse wurde in Den Haag als Tochter liberaler Juden geboren und nahm in den 1930er Jahren ein Studium in Reklame mit Schwerpunkt auf Film und Fotografie auf. Nach der deutschen Besetzung der Niederlande musste sie untertauchen, konnte aber schließlich mit gefälschten Ausweispapieren wieder ein “normales” öffentliches Leben führen. Als überzeugte Linke wurde sie Teil der Gruppe “Die untergetauchte Kamera”, die unter großem persönlichen Risiko die NS-Besatzungszeit fotografisch dokumentierte. Nach dem Krieg spezialisierte sich Andriesse auf Reportage- und Modefotografie, starb aber schon mit 39 Jahren an Krebs. Geblieben von ihr sind Schwarz-Weiß-Aufnahmen, hauptsächlich aus den 1940er Jahren:

Amsterdam, Winter. 1944-45

Selbstporträt, ca. 1950

Junge mit Topf auf dem Weg zur Suppenküche, Amsterdam Frühling 1945.

Dass die Malereien von Raoul Dufy von den Nationalsozialisten als “Entartete Kunst” eingestuft und mindestens eines seiner Bilder auch vernichtet wurde, macht ihn mir von vorneherein sympathisch. Wie immer gilt, dass ich von Malerei wirklich überhaupt nichts verstehe, noch deutlich weniger als der übliche angenommene unverständige Betrachter. Wikipedia sagt, dass er Teil des Fauvismus war, ich sehe hauptsächlich sehr starke Farben und eine gewisse Abstraktion, bei der sich Farbflächen gewissermaßen “reimen”, die in der Realität nicht so nah aneinanderliegen würden. Für bessere Informationen konsultieren sie ihre Kunsthistorikerin oder ihren Kunsthistoriker.

Le Port du Havre, 1906

Der Strand von Sainte-Adresse, 1906

Der Schweizer Fotograf Paul Senn bestritt seinen Lebensunterhalt ab den 1930er Jahren mit Bildreportagen, im Zweiten Weltkrieg als Armeefotograf. Seine Bilder prägten das Bild der Schweiz von sich selbst und der Welt, seine Farbbilder hinterließen Eindruck im gesamten Genre.

Grand Canyon, 1946

Spanischer Bürgerkrieg, «Retirada», Flucht von Republikanischen Zivil- und Militärpersonen über die spanisch-französische Grenze [abgebildet in der Reportage «Nach Frankreich!» in: Der Aufstieg, 10. Februar 1939]

Älterer Mann sitzend vor einem Baum, Spanien 1939

Das Ende von 12 Jahren Nazi-Herrschaft in Deutschland, 1945

Was für Malerei gilt, gilt erst recht für Jazz: Ich kann ich nicht dazu bewegen, mehr darüber zu lernen. Trotzdem gehört Django Reinhardt in diese Liste, weil er einer der Pioniere des europäischen Jazz war, weil er nach einem Brandunfall lernte, Gitarre nur mit dem Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand zu spielen und nicht zuletzt, weil er der vermutlich einzige Roma ist, der in deutschen Bildungsbürgerhaushalten zum regelmäßigen Kulturinventar gehört. Fast 900 Aufnahmen existieren von Reinhardt, viele gemeinsam mit anderen, noch nicht seit 70 Jahren verstorbenen Musikern, daher hier stellvertretend eine seiner Solo-Improvisationen von 1937:

https://www.youtube.com/watch?v=J_B01zFebzA (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann die Schwedin Elsa Beskow damit, in einer Kinderzeitschrift Illustrationen zu veröffentlichen. Später übernahm sie auch das Texten und veröffentlichte fast 40 Bücher. Viele der Texte lassen sich schwer übersetzen und erreichten hauptsächlich ein schwedisches Publikum, die Zeichnungen sprechen mich aber auch ohne Sprachkenntnisse an:

Die Wichtelkinder

Hatt-Stugan

Der Maler John Marin scheiterte in einem ersten Anlauf daran, Architektur zu studieren, und wandte sich schließlich der abstrakten Malerei zu. Diese Kombination führte zu einem (für mein ungeübtes Auge) ziemlich einzigartigen Schaffen: Ein Stil, den ich hauptsächlich mit europäischer Landschaft verbinde, der sich aber der menschengemachten Bau-Gigantomannie der amerikanischen Großstädte Anfang des 20. Jahrhunderts widmet:

Weehawken railroad yards, grain elevators, 1910

Woolworth Building, No. 28, 1912

Brooklyn Bridge, 1912

Es gäbe noch viele, viele Menschen mehr, deren Schöpfungen wir angesichts des Todesjahres 1953 mehr Aufmerksamkeit schenken könnten. Sehr viele werden in Vergessenheit geraten sein, noch so ein Nebeneffekt des Urheberrechts, das rechtzeitige Neuauflagen in der Zeit der Mitlebenden allzuleicht verhindert. Das betrifft insbesondere Frauen, die es viel zu lange schwer hatten, in einer Art und Weise veröffentlicht zu werden, die eine lange Erinnerung sicherstellt. Bis sich das maßgeblich ändert und es ohne großen Aufwand möglich sein wird, gleich viele Künstlerinnen wie Künstler vorzustellen, werden noch einige Public Domain Days ins Land gehen.

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