Ball und Brandmauer
Es ist schwer vorstellbar, aber die Verpflichtung Franz Beckenbauers als Botschafter der Fußball-WM 2006 ist länger her als es zu diesem Zeitpunkt die WM 1974 gewesen war. Das, was später wahlweise als Sommermärchen oder „Sommermärchen“ oder Sommer-„Märchen“ bezeichnet wurde, hat immerhin schon 17 Jahre und ebenso viele Saisons hinter sich. Vereine, die für 2006 mit und ohne Steuergelder neue Stadien bauten, denken schon wieder über Neubauten nach. Es wäre an der Zeit, dieses Turnier zu historisieren. Das würde gerade ganz gut passen, weil es der Beginn einer sportlichen Hochphase des deutschen Herrenfußballs war, die jetzt schon eine ganze Weile vorbei ist und trotzdem immer noch neue Tiefpunkte erreicht.
Das hat nicht nur mit dem Sportlichen zu tun, von dem hier gar nicht die Rede sein soll, sondern auch mit der Institution selbst: Allein, dass einem so großen Sportverein rückwirkend für 2014 und 2015 die Gemeinnützigkeit aberkannt wurde, sollte in einer gerechten Welt reichen, dass dort niemand Hochrangigeres als das Kantinenpersonal weiterbeschäftigt wird. Aber man kann ja immer noch hoffen, dass es besser wird. Und während man sich an Niederlagen gegen Österreich schon gewöhnt hat, setzt sich der Sportdirekter Rudi Völler ins „Nius“-Studio. Und zwar nicht als Rudi Völler, sondern in DFB-Kleidung als DFB-Vertreter.
„Nius“, das wissen glücklicherweise immer noch nicht alle, ist der Versuch, rechtsextreme hassverseuchte Mediendiskurse auch in die Bundesrepublik zu tragen. Finanziert von einem Milliardär, dem sein Eishockeyclub nicht ausreicht um die Mehrheit der Deutschen zu ärgern, hat sich Julian Reichelt nach seinem unrühmlichen Aus bei der BILD dort eine publizistische Heimat ohne jede Hemmung geschaffen – man sollte sich damit, solange es geht, möglichst wenig aufmerksamkeitserzeugend beschäftigen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
Es gibt jetzt jedenfalls einige Empörung über Rudi Völler, nicht nur in den sozialen, sondern auch in einigen professionellen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) Medien (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Ein Statement des DFB gibt es, jedenfalls während ich das hier schreibe, nicht. Es ist durchaus möglich, dass man die Irritationen überhaupt nicht versteht, denn rein institutionell hat der Deutsche Fußball-Bund selten ein Problem mit rechten und rechtsextremen Personen und Standpunkten gehabt – dafür muss man nicht einmal Hans-Ulrich Rudel hervorholen, dessen Besuch im Trainingslager ich vor ziemlich genau einem Jahr an dieser Stelle beschrieben habe (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Es gibt genügend andere Beispiele. Das beginnt bereits mit dem Gründungspräsidenten Ferdinand Hueppe, einem Arzt, der Ende des 19. Jahrhunderts in der Fachliteratur schrieb:
„Der rein arische Norden war der Mutterschoß aller Völker, und ist die germanische Rasse das eigentliche kulturtragende Element. Diese Nordrasse ist nun einmal die höchste Stufe, welche die Menschheit erreicht hat.“
„Daß die physische Erscheinung der Juden durch das Stadtleben nicht gerade gewonnen hat, ist ebenso hinlänglich bekannt, wie daß sie dadurch auch ein außerordentlich hohes Maß von Geisteskrankheiten erwarben.“
Nun kann man einwenden, dass die Zeit eine andere war, aber: Auch Ende des 19. Jahrhunderts musste niemand Rassenhygieniker und Antisemit sein. Für den Vorsitz des DFB war es offenbar entweder Qualifikation oder zumindest kein Hindernis. Der vierte DFB-Präsident, Felix Linnemann, Amtszeit von 1925 bis zur vorübergehenden Auflösung 1940, war dann als Polizeidirektor gleich verantwortlich für die Deportation der Hannoveraner Sinti und Roma in Vernichtungslager. Auf seinem noch heute bestehenden Grabstein ist das DFB-Logo eingemeißelt. Sein Nachfolger Peco Bauwens hingegen war mit einer Jüdin verheiratet, die von den Nazis in den Selbstmord getrieben wurde, betrieb aber mit seiner Baufirma auch ein Lager für 100 Zwangsarbeiter und lobte den Weltmeistertitel 1954 als „Repräsentanz besten Deutschtums“. Und wenn wir mal von den Nationalismen absehen, war Bauwens maßgeblich dafür verantwortlich, dass der DFB 1955 den vereinsmäßigen Frauenfußball verbot, denn im
„Kampf um den Ball verschwindet die weibliche Anmut, Körper und Seele erleiden unweigerlich Schaden, und das Zurschaustellen des Körpers verletzt Schicklichkeit und Anstand.“
Kommen wir näher an die Zeit der aktuellen Funktionäre: Als Rudi Völler Teamchef der Nationalmannschaft war, war Gerhard Mayer-Vorfelder sein Präsident, der ansonsten für die CDU im Landtag und baden-württembergischen Ministerien saß und 25 Jahre lang den VfB Stuttgart führte. 1987 polterte er (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), mitten im Historikerstreit, über linke Ausschreitungen:
„Die Chaoten in Berlin, in der Hafenstraße in Hamburg und in Wackersdorf springen schlimmer herum als die SA jemals!“
Schon ein Jahr zuvor hatte er in Baden-Württemberg veranlasst, dass Grundschüler:innen alle drei Strophen des Deutschlandliedes auswendig lernen sollten, und das in der folgenden Landtagsdebatte u.a. folgendermaßen begründet:
„Wir haben eine Geschichte, die eine schwierige Geschichte ist. Nur ist das Problem, daß wir unsere Geschichte nicht wegen der zwölf Jahre in ihrer Gesamtheit in Mißkredit bringen können. [...] Wir haben trotz der zwölf Jahre ein Anrecht auf nationale Symbole. [...] Ich war über Pfingsten acht Tage in Frankreich und habe mich dort mit Franzosen unterhalten. Die Franzosen arbeiten ihre Geschichte auch auf, auch ihre Geschichte während der Zeit des Dritten Reiches, die in Frankreich gar nicht viel einfacher war als die Geschichte des Dritten Reiches bei uns.“
1988 schrieb er dann einen Gastbeitrag über das Wohl des Geschichtsunterrichts, der inhaltlich nicht besonders ergiebig oder aufsehenerregend gewesen wäre, eine typisch konservative Charakterisierung von Geschichts- als Staatsbürgerkunde – wäre da nicht der Publikationsort gewesen: Mayer-Vorfelder schrieb in „Nation Europa“, einem 1951 gegründeten Zentralorgan der deutschen Rechtsextremen, dem die zweifelhafte Ehre gebührt, das erste in der Bundesrepublik hergestellte Medium zu sein, in dem in den 1950er Jahren der Holocaust geleugnet wurde. Eine Abmilderung der inhaltlichen Schärfe über die Zwänge des Strafrechts hinaus war nie erkennbar, noch 2006 bedankte sich die Zeitung auf ihrem Titelblatt bei Mahmud Ahmadineschad für dessen internationale Holocaustleugnungskonferenz.
Mayer-Vorfelder hat sich von seinem Rechtsaußenkurs nie distanziert, auch nicht beim DFB, im Gegenteil: Als das Bündnis aktiver Fußballfans (BAFF) 2001/02 eine Ausstellung über Rassismus und Diskriminierung im Fußball konzipierte und dabei auch Zitate des damals amtierenden DFB-Präsidenten auf eine Tafel druckte, strich der Verband den Veranstaltern die zugesagten 5.000 Euro Zuschuss und übte gleichzeitig Druck auf Bundesligavereine aus, ihre Zusagen ebenfalls zurückzuziehen. Der Vorwurf, die Zitate, zum Beispiel „Wenn beim Spiel Bayern gegen Cottbus nur zwei Germanen in den Anfangsformationen stehen, kann irgendetwas nicht stimmen“, seien aus dem Kontext gegriffen.
Seit diesen Zeiten hat der DFB sich durchaus gewandelt: Es gibt sehr symbolträchtige Kampagnen gegen Rassismus und für Integration. Debatten, ob ein in Ghana geborener Gerald Asamoah für die deutsche Nationalmannschaft spielen dürfte erscheinen uns heutzutage geradezu absurd. Aber große Institutionen wie der DFB mit hunderten hauptamtlichen Mitarbeiter:innen allein in der Zentrale, die zudem noch föderal von Landesverbänden kontrolliert werden, sind schwer im Kern zu ändern und neigen zu reflexhaften Rückfällen in alte Muster. Das hat dann mitunter auch nichts mit den Einzelpersonen zu tun, und vielleicht war Rudi Völler gar nicht klar, in was für ein Medium er sich da bei seinem Duzfreund Waldi Hartmann setzt. Genau deshalb gibt es die institutionellen Strukturen, die hier versagt haben – oder die es haben geschehen lassen, um die rechten Teile von Stammtischdeutschland nicht zu verlieren.