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In der zwölften Ausgabe: VORHÖLLE I: BARGELD, TÄTOWIERUNGEN, WILLE ZUR UNBARMHERZIGKEIT +++ VORHÖLLE II: HITZE, MÄNNLICHKEIT, FISCH 

Hallo!

In den vergangenen Wochen habe ich zwei Arten von Vorhölle für euch getestet.

1. Vorhölle I

Stadt meiner Kindheit. Die Mutter wird mit 96 Jahren auf eine Weise mit ihrer Sterblichkeit konfrontiert, gegen die Verdrängung nicht mehr hilft. Sie wütet, und weil ich gerade da bin, wütet sie gegen mich. Ich möchte ihr helfen, aber ich kann ihr nur helfen, wenn sie anerkennt, dass ihre Macht schwindet. Es kommt zu Ausbrüchen, die ich nur schwer verarbeiten könnte, hätten Horrorfilme mich nicht darauf vorbereitet. (Ja, ästhetische Erfahrungen haben einen Nutzwert im wirklichen Leben! Sie helfen.)

Sie will, dass ich ihr Bargeld besorge, eine kleine Summe, für sie aber so groß, dass sie glaubt, man werde mich auf dem Rückweg zu ihr unweigerlich totschlagen und ausrauben.

Das Geld wird am Schalter ausgezahlt. Ich war seit zwanzig Jahren nicht mehr in einer Bankfiliale. Diese sieht nach Bankfiliale aus, Vorstadt. Alles normal. Man blättert mir Scheine hin und gibt mir einen Umschlag. Ich stecke das Geld in die Hemdtasche und ziehe meine Jacke darüber zusammen, wobei ich beobachtet werde.

Jetzt will ich es wissen. Ich trete ins Freie, vorbei an einem unverwüstlichen Gummibaum in einem Kübel, wie in Bankfilialen schon Gummibäume in Kübeln standen, als meine Mutter noch Macht über mich hatte. Ich gehe zu Fuß, gemessenen Schrittes; der Weg zum Haus meiner Kindheit ist vielleicht fünf Kilometer lang. Mit jedem Schritt fordere ich die Ängste meiner Mutter heraus: Nun kommt schon, ihr finsteren Gesellen! Schlagt mich endlich tot! Wie im Wirtshaus im Spessart, wie in der 87. Folge von „Der Kommissar“. Tut ihr den Gefallen.

Ich bin dieser Welt, die mich umgibt, aber völlig egal. Die Sonne ist nordisch blendend, ein kaltes Licht, ich schwitze trotzdem. Das einzige, was versucht, mich zu schlagen, sind Kindheitserinnerungen: Die Strecke war früher mein Schulweg. Es geht vorbei am „Hotel Perfekt“, zweigeschossig mit Tattoo-Studio im Erdgeschoss, schräg gegenüber vom Griechen neben der Tankstelle. Es geht über die Schienen der Bahnlinie. Als Kind habe ich vom Rücksitz hinter meinem Vater aus ein Mal die Güterwaggons gezählt, es waren 53. Mein Vater war sehr ungeduldig.

Auf einem Parkplatz lege ich Rast ein. Hier gab es einmal ein großes Autohaus. Die Anlage ist zu einer kleinen strip mall geworden, mit dem üblichen Rossmann und dem üblichen Edeka. Bei Rossmann gibt es Eistee. Auf einen Findling, der verhindern soll, dass Autos direkt vor den Laden parken, kann ich mich ausruhen. Neben mir geht ein stämmiger Mann auf und ab, in weißen Dreiviertelhosen, markige Tätowierungen an den Unterschenkeln. Er hat nur einen Arm und kommt mir immer ein paar Zentimeter zu nah.

Was ich sehe, ist Struktur, in die Menschen sich fügen. Alles ist klar angelegt: Schienen, Straße, Radweg, Parkplatz, Findling, Rossmann. Asphalt mit Randstreifenbegrünung, gegenüber Aldi. Hier gibt es keine andere Welt.

Die Szenerie kommt mir unbarmherzig vor, mehr noch: geprägt von einem Willen zur Unbarmherzigkeit. Entschlossen trostlos.

Zuhause verweigert meine Mutter weiter jede Art von Hilfe. Mit aller Kraft, und sie hat noch viel Kraft. Es geht auf und ab. Das Unentschiedene der Lage versetzt michin einen merkwürdigen Schwebezustand, in dem viel Platz für Angst ist oder für unentwirrbar gemischte Gefühle oder Wut. Auf mangelnde individuelle Vorsorge zum Beispiel, aufmangelnde Akzeptanz biologischer Tatsachen, auf die Neigung, den Tod zu verdrängen oder als narzisstische Kränkung zu betrachten. All das hat Konsequenzen und macht es auf ganz konkrete Weise sehr sehr schwierig, wenn es drängt, also ungefähr beinahe jetzt.

Das ist meine Vorhölle I: Trostlosigkeit ohne Ausweg. Ordnung. Die Zeit vergeht nicht. Man weiß, dass man sterben muss, aber man stirbt nicht. Die Sonne scheint.

Ich lenke mich mit Kriegsfilmen ab, in denen unausweichlich viel gestorben wird und in denen die Lage unausweichlich so ist, dass Entschiedenheit hergestellt werden muss. Darum geht es ja im Krieg, um das Erzwingen einer Entscheidung, koste es, was es wolle.

2. Vorhölle II

Brennendes Sonnenlicht. Eine Urlaubslandschaft an der Adria. Hauptsaison.

Zu viel von allem: zu viel Licht, zu viel Schweiß, zu viel Heteronormativität. Ich war dem kleinbürgerlichen Familienleben lange nicht mehr so gnadenlos ausgesetzt, den Männern, die ihre Autorität behaupten müssen, wütend auf der Suche nach der besten Strandliege, im Schlepptau die von ihrer hausväterlichen Aufgeblasenheit erschöpften Frauen, mit den Kindern, die entweder weinen oder bald weinen werden. Männlichkeit als Fronarbeit bei 35 Grad im Schatten. Immer nach unten treten.

Natürlich gibt es auch: sanfte Brise unter Kiefern, klares Wasser, frisch gegrillten Fisch. Alles noch da, man holt sich seine Insta-Momente ab. Man muss sie sich erarbeiten. Aber als der easyjet-Pilot auf dem Rückflug fröhlich ansagt, in Berlin sei das Wetter genau wie eben an der Adria, herrlicher Sommer (35 Grad im Schatten), packt mich eine tiefe Verzweiflung.

Vorhölle II ist eine Genusslandschaft, die man nicht mehr genießen kann, bei gleichzeitig hohem Druck, trotzdem so zu tun als ob, weil man sich eben so zu verhalten hat, auch der Wirtschaft zuliebe. Wie war der Urlaub? Oh, ganz toll, danke!

Gleichzeitig dreht jemand den Temperaturregler immer weiter auf.

Das ist dann irgendwann schon kein Leben mehr. Im endlos verlangsamten Sterbeprozess freut man sich über den frisch gegrillten Fisch und gibt dankbar Trinkgeld.

Alles normal. Vielleicht ist es das, was meine beiden Vorhöllen miteinander verbindet: Die Behauptung von Normalität. Das Verharren in der behaupteten Normalität.

3. Danke

Danke fürs Lesen, danke fürs Abonnieren. Danke fürs Weitersagen, Dank im Voraus für Feedback aller Art. Danke fürs Bezahlabo Abschließen, wenn das Geld reicht.

Übrigens bin ich der Meinung, dass das Patriarchat zerstört werden muss.

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