Texte, die du 2024 gelesen haben solltest
Liebe Leserinnen und Leser,
wir haben langsam keine Lust mehr, jedes Jahr nur noch als grau und traurig in Erinnerung zu behalten. Irgendwann ist mal gut, oder?
Nun sind auch nicht alle Texte in dieser Jahresbesten-Auswahl hoffnungsvoll und fröhlich, denn die Welt bleibt ja trotz unserer Unlust so, wie sie ist. Aber ihr findet darin auch Hoffnung. Und etwas zum Lachen.
Wir wünschen euch eine wilde Silvesternacht und dass wir im nächsten Jahr wieder mehr Sommerloch-Tiere feiern statt Kriege zu beobachten.
Herzlich eure
Annkathrin Weis und Robert Hofmann für das Reportagen.fm (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)-Team
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Julia Belzig empfiehlt:
Langer Atem (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
von Vivian Pasquet, Süddeutsche Zeitung (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Es ist ein besonderer Text, der einem selbst beim Lesen fast den Atem raubt. Seit Paul Alexander sechs Jahre alt ist, ist er wegen einer schweren Polio-Erkrankung auf eine riesige Beatmungsmaschine angewiesen. „Die alte Dame“ nennt er den Stahlzylinder, der etwas mehr als zwei Meter lang ist, in seinem Wohnzimmer in Texas steht und ihm das Atmen ermöglicht. Trotz bleibender Lähmung hat er Jura studiert, als Anwalt gearbeitet, geliebt und gelebt. Wenige Wochen nachdem die SZ-Redakteurin Vivian Pasquet mit ihm über sein erstaunliches Leben gesprochen hat, stirbt Paul Alexander nach 72 Jahren in der Eisernen Lunge. Zurück bleibt kein Text über das Sterben, sondern über das Leben. Berührend, aber nicht kitschig, schreibt Pasquet ein ganzes Leben auf. Man kann lesen, dass es eine gewisse Beobachtungsgabe, viel Empathie und Zeit gekostet hat. Viele Reportagenfans eint eine haltlosen Neugier für andere Menschen und wie sie ihr Leben leben. Dieser Text stillt diese Neugier ganz bestimmt.
Tom Schmidtgen empfiehlt:
Was passiert, wenn die AfD das sagen hat? (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
von August Modersohn, ZEIT Magazin (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Fährt ein ZEIT-Redakteur nach Thüringen und will berichten, wie es dem Landkreis Sonneberg geht, ein Jahr nach der Wahl von AfD-Landrat Robert Sesselmann. Eigentlich weiß man vor dem Lesen schon, was rauskommt. Aber August Modersohn bricht die Klischees: allen voran das vom Osten, der dumm und rechts ist und natürlich AfD wählt. Das schafften im Super-Wahljahr die wenigsten.
August war über ein Jahr lang immer wieder in Sonneberg, hat es geschafft und mehrmals mit Sesselmann zu sprechen. Im seinem Porträt zeigt er, was einen guten Reporter ausmacht: Er hat einen Blick für Details, beispielsweise für die widersprüchlichen Bücher in Sesselmanns Bücherregal oder für die Snacks, die er am Abend nach der Vereidigung während des Interviews isst. August ordnet seine Szenen nicht ein, liefert keine Erklärung mit, sondern lässt die Leser:innen entscheiden, ob sie den AfD-Politiker sympathisch finden oder nicht.
Am Ende entsteht nicht das Porträt eines rechten Teufels, sondern eher das eines überforderten Politikers. Und das Porträt seiner Gegner. Das ist unter anderem die Ehrenamtlerin Petra Gundermann, die sich in der Flüchtlingshilfe engagiert und sagt: „Wir machen unser Ding einfach weiter, in der Hoffnung, dass sich der Landrat nicht einmischt.“ So, wie es eben Millionen Menschen jeden Tag in Deutschland machen und Glück haben, nicht von der AfD regiert zu werden.
Julia Reinl empfiehlt:
Perfect Days (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
von Annabelle Seubert, ZEIT Magazin (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Ich knibble das Papierchen auf, stopfe mir das Kaugummi hastig in den Mund und stampfe vor Aufregung mit dem Fuß auf den Boden. Meine Zähne kämpfen sich durch die harte, süße Kaumasse, bis endlich die Füllung durch meinen Mund fegt. Aus saurer Freude kneife ich meine Augen zusammen. Nur wenige Sekunden später ist alles vorbei. Es folgt Geschmacklosigkeit. So in etwa erlebte mein siebenjähriges Ich ihren ersten Center Shock im Sommer 2001 und etwa so fühlt sich „Perfect Days“ von Annabelle Seubert an.
Sie beschreibt das Kreuzfahrtschiff „Icon of the Seas“ als Raumschiff, gigantischen Flipperautomaten oder Polly-Pocket-Haus in Bonbonfarben. Ikonische Fotos von Flamingos und Riesenrutschen, aufgenommen von Alexandra Polina, begleiten den Text. Alles in den ersten Zeilen schreit: Spaß, Spaß, Spaß! Doch schnell wird klar, dass man den wohl nicht finden wird in einer konstruierten Welt, die perfekte Tage verspricht. Klar, kann man ein Monsterschiff in Pastellfarben anstreichen - aber sieht man von ganz oben überhaupt noch das Meer? Seubert schreibt nicht einfach, dass Kreuzfahrten scheußlich seien. Sie erlebt, wie dieser Kosmos auf hoher See ein aus der Zeit gefallener Center Shock ist, eine bunt verpackte Enttäuschung.
Martin Hogger empfiehlt:
Wie verändert sich Stille, wenn Mama stirbt? (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
von Anna Scheld, Science Notes (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Lange hatte ich Angst vor Stille. In dem Raum, den sie in meinem Kopf schuf, breiteten sich verlässlich das Urängste aus (nicht mehr existieren, nicht gemocht werden, und so weiter). So betäubte ich die Stille lange mit Musik und Serien und Vorhaben und Podcasts. Bis ich kaum mehr einen originellen Gedanken dachte.
Ich habe noch nie etwas Vergleichbares fühlen müssen, wie das, was Anna Scheld in ihrem Text so eindrücklich schildert. Trotzdem konnte ich jeden einzelnen Gedanken nachfühlen. Das ist besonders. Anna hat sich für den gegenteiligen Weg entschieden. Sie hat die Stille strategisch eingesetzt, um der Trauer entgegen zu treten. Sie schildert das, ohne sich als Guru aufzudrängen, ohne die (oft branchenübliche) Besserwisserei. Der Text ist eine Ansammlung aus klugen Gedanken und einfühlsamer Autobiographie. So still und schön und traurig geschrieben, wie das Thema selbst.
Gabriel Rinaldi empfiehlt:
Die Überlebenden von Nir Jitzchak (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
von Katharina Kunert, Stern (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Es ist eine besondere Langzeitbetrachtung des Kibbuz Nir Jitzcha und seiner Bewohnerinnen und Bewohner. Katharina Kuhnert hat für den Stern vier von ihnen ein Jahr lang begleitet. Alle eint die Sehnsucht, in ihre Heimat zurückzukehren. Jeder hat aber seine Art, mit dem Terrorangriff der Hamas umzugehen, der am 7. Oktober 2023 alles für immer veränderte. Kuhnert stellt Ilan Yoseff vor, den Tierhüter des Kibbuz, der seine Schlangen und Schildkröten rettet. Oded Bahar, den Friedensaktivisten, der sagt, es gebe Extremisten auf beiden Seiten des Zauns. Die Leserinnen und Leser erfahren von den Bunkern der rund 200 Häuser, die vor Raketen schützen, aber keine Türschlösser haben. Von Nachbarn, die ermordet oder verschleppt wurden. Es gelingt Kuhnert, die Gefühlswelten der Überlebenden zu zeichnen. Das Grauen, auch jenes im nur wenige Kilometer entfernten Gaza, ist in jedem Satz spürbar und immer auch zwischen den Zeilen. So wie die immer kleiner werdende Hoffnung auf Normalität.
Henrik Schütz empfiehlt:
Vom Gurren und Murren (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
von Nora Voit, DUMMY (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Wie in jeder schönen deutschen Stadt fliegen und scheißen auch in Limburg Tauben herum, wie es ihnen gefällt. Die einen lieben sie, die anderen hassen sie. Weil es in der kleinen Stadt in Hessen aber zu viele gab – insgesamt 700 Tauben – wollte man sich der Mehrheit mit Genickbruch entledigen. Es folgte ein gewaltiger Shitstorm und aus Limburg wurde “Schlimmburg”. Nora Voit hat aus dieser Geschichte eine sprachlich wunderschön witzige Reportage gezaubert, dass sie für mich die beste des Jahres 2024 ist. Ich bin sehr neidisch auf die vielen kurzen, lustigen und gleichzeitig klaren Beschreibungen, wie die vom Bürgermeister Limburgs: “Hahn, 52, ist urlaubsreif.”. Ich liebe es. Und Dank Nora Voit frage ich mich immer dann, wenn ich in Köln eine Taube sehe: Nimmt dieser Vogel die Anti-Baby-Pille?
Robert Hofmann empfiehlt:
Serhij, der gestohlene Sohn (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
von Jonathan Stock, Der Spiegel (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
“Was, wenn der Feind nett ist?”, ist so ein Satz, der bleibt. Jonathan Stock schreibt über eine Familie in der Ostukraine, deren Sohn zu Beginn des Überfalls erst nach Russland gelockt wird und dann zurückkehrt. Warum er zurückkommt, bleibt offen. Ob er überhaupt wieder Zuhause sein möchte, ebenfalls. Denn es geht in dem Text auch darum, was es mit Menschen macht, die plötzlich aus ihrem Umfeld, ihrer Familie, ihrer Kultur genommen werden, um woanders zu anderen Menschen erzogen zu werden.
Es geht hier also um das, was offiziell als Genozid gilt: Den Versuch, eine Kultur zu vernichten, indem man ihr den Nachwuchs raubt. Es geht um die brutale Gewalt Russlands gegen die Ukraine, vom schwersten Verbrechen, das Völker einander antun können. Und Jonathan Stock findet die in dieser vermeintlich so kleinen Familiengeschichte. Er ist einfühlsam, ohne kitschig zu werden, beobachtet genau, ohne sich in Details zu verlieren.
Ich meine, wir müssen diese Geschichten kennen. Gerade jetzt, da wir im Warmen sitzen und zusehen, wie die AfDs und BSWs dieser Welt die Diskurse dominieren, um unsere Unterstützung für das überfallene Land zu zersetzen.
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