Der Übermorgen-Blick
Wenn einer der besten Tricks im Umgang mit Krisen versagt, bleibt nur noch Gewöhnung
Als stolze Besitzerin wiederkehrender Depressionen und eines Lebens, in dem nie mehr als zwei aufeinanderfolgende Jahre frei von Krisen oder Schicksalsschlägen waren, habe ich im Lauf der Zeit einige Tricks gefunden, die mir durch schwierige Zeiten helfen.
Eine der bewährtesten ist etwas, das ich Übermorgen-Blick nenne.
Wenn es mir ganz, ganz schlimm geht, wenn alles in mir Schmerz und Verzweiflung ist, wenn ich glaube, eine Situation nicht auszuhalten, dann versuche ich, meinen Fokus auf das Übermorgen zu richten. Statt ununterbrochen das Jetzt zu fühlen, versuche ich, in die Vogelperspektive zu gehen und mir mich in der Zukunft vorzustellen. Ich lege mich und mein momentanes Leid auf eine etwas gröbere Zeitskala, um Fragen zu klären wie “Kann ich das überleben, kann ich je wieder anders fühlen als jetzt, kann ich mich davon erholen?”
In den meisten Fällen lautet die Antwort auf alle Fragen Ja. Zumindest, wenn es einen weltlichen Krisenanlass gibt. Trauer, Liebeskummer, solche Dinge. Auch wenn ich es in dem Moment nicht so fühle, weiß ich doch, dass diese Anlässe nicht meine Fähigkeit, Glück und Leichtigkeit zu empfinden, kaputt machen. Dieses Wissen hilft mir, die schlimmen Jetzt-Gefühle anzunehmen. Und das wiederum ist wichtig, um die Gefühle zu durchleben. Denn es ist ja beinahe schon ein therapeutisches Allgemeinplätzchen, dass der Weg aus Gefühlen raus nur durch sie hindurch führt.
Je eher man sie akzeptiert, desto schneller durchschreitet man den tiefsten und schmerzhaftesten Punkt und erreicht den Pfad der Besserung. Der Übermorgen-Blick ist eine Fortführung des persischen Ausspruchs īn nīz bogzarad: Auch das wird vorübergehen. Ich stelle mir mich in einer Zeit vor, in der es schon vorübergegangen ist, und das beschleunigt das Vorübergehen.
Jetzt befinde ich mich ja seit Oktober 2022 in einer absoluten Shitshow von Leben, die mit der Erkenntnis, keine erfolgreiche Autorin zu sein, begann, und sich dann über den Tod meines geliebten Bärli bis zur ewig langen Suche nach einer neuen Agentur und dem völligen Ghosting durch Verlage erstreckte. Und das alles, während das Geld auf meinem Konto rasend schnell dahinschmolz. Ich war nicht während der ganzen 2,5 Jahre depressiv, aber wenig überraschend habe ich mich auch nie weiter als drei Monate von einer neuen Episode entfernt. Alles in allem war mein Leben kippelig.
Und dann wurde aus einer drohenden finanziellen Notlage eine tatsächliche finanzielle Notlage, weil nichts, was ich seit dem Beginn der Shitshow angeleiert habe, finanzielle Früchte trug, und aus “This, too, shall pass” ein “Thou shalt not pass”.
Um den ganzen Artikel lesen zu können, musst du mich abonnieren. Abos geben mir als Freiberuflerin etwas finanzielle Stabilität. Danke!
Abos ab 4,50€/Monat! (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Déjà membre ? Connexion (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)