Warum ich jedes Mal in der Psychiatrie zu fotografieren beginne
Ich habe rezidivierende, das heißt sich wiederholende Depressionen und ich muss deshalb im Schnitt alle zweieinhalb Jahre in die Klinik. Diese Zeiten sind der absolute Tiefpunkt in meinem Leben, häufig begleitet von suizidalen Gedanken und dem kompletten Verlust meines Selbstwertgefühles.
In den ersten Tagen – ich war bisher fünf Mal in der Klinik – schaffe ich es kaum aus dem Bett und ärgere mich darüber, wieder in der Klapse zu sein. Fuck. Ich will nur schlafen, schlafen, schlafen und meinen unfassbar großen Sorgen und inneren Schmerzen entfliehen. Lasst mich bitte alle in Ruhe.
Das Symptom der vollkommenen Antriebslosigkeit erlebe ich zu Beginn meiner Ernkrankung besonders stark. Mich überkommt eine brutale Lethargie, die mich wie zwei Zentner Steine ins Bett drückt und es mir zeitweise unmöglich macht, auch nur einen Finger zu beewegen.
Je nach Schwere der Depression gelingt es mir nach einer gewissen Zeit, öfter aufzustehen und langsam suche ich Kontakt zu Pfleger:innen, Ärzt:innen und Therapeut:innen. Ich brauche das Gespräch und den Austausch mit anderen und freunde mich oft mit meinen Zimmernachbar:innen an, die ich zu Beginn meines Klinikaufenthaltes fast immer überhaupt nicht ausstehen kann.
Fotografieren gibt mir Kraft
2010 brach eine schwere Depression über mich herein und ich musste zum ersten Mal in die Psychiatrie – und fand mich im Universitätsklinikum Heidelberg wieder. Der Schock über meinen Zustand saß noch tief, als mich die Psychologin in der ersten Therapiestunde fragte:
„Herr Gommel, was gibt ihnen im Alltag Kraft?“
Etwas irritiert über diese Fragestellung (ich hatte mit einem schmerzhaften Erstgespräch über meine Kindheit gerechnet) dachte ich nach. Und zählte auf: „Familie, Freundschaften, meine Arbeit, Musik machen und… fotografieren.“
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Die Psychologin gab mir als Hausaufgabe, einen Wochenplan zu erstellen, mir meine Kamera zu organisieren und jeden Tage auf dem Klinikgelände Fotos zu machen. „Tun sie das, was ihnen guttut – und fotografieren gehört dazu“, meinte sie.
Ich brauchte noch zwei ganze Wochen, um damit anzufangen, zu sehr hatte mich die Krankheit von innen ausgehöhlt und mir jeden Funken Lust und Freude entzogen. Doch als ich davon wieder etwas spürte, versuchte ich es. Erst jeden dritten, dann jeden zweiten und schließlich jeden Tag verbrachte ich draußen und machte Aufnahmen.
Es ist einwenig erstaunlich: Die Frage nach dem, was mir Kraft gibt, wurde mir auf die eine oder andere Weise bei jedem Klinikaufenthalt von meinen Therapeut:innen gestellt. Und jedes Mal ist die Fotografie ein Teil meiner Antwort.
Fotografieren wird zum Ritual
Um psychisch wieder stabil zu werden gehört neben den Therapieangeboten der Psychiatrie ein strukturierter Tagesablauf und Aktivitäten, die mir Freude bereiten. Die mein Selbstbewusstsein stärken. Die mir das Gefühl geben, okay zu sein.
Deshalb organisiere ich mir *immer* während der Klinikaufenthalte – sobald es mir besser geht – meine Kamera und plane mir für jeden Tag 10 Minuten zum fotografieren ein. Denn ich weiß: Selbst, wenn ich mich dazu zwingen muss, rauszugehen, ab und zu auf den Auslöser klicken, das schaffe ich.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen: Das alles schaffe ich nicht in den ersten Tagen meiner Depression. Wenn ich suizidal bin, denke ich im Traum nicht an meiner Kameras. Aber später, nach ein, zwei Wochen, wenn es mir ein bisschen besser geht, schon.
Und dann ist das Stichwort „Aktivierung“. Damit ist das Überwinden der krankheitsbedingten Trägheit und Kraftlosigkeit gemeint – und deshalb bekommt man in der Psychiatrie einen Tagesplan gestellt, den man sich zwar zum Teil selbst mit bestimmten Therapieangeboten selbst einrichten kann, aber zur Einhaltung man sich (so gut es geht) selbst verpflichtet.
In diesen Plan schreibe ich mir, sobald es mir besser geht, jeden Tag nach der letzten Therapieeinheit: 10 Minuten Fotos machen. So wird das Fotografieren zu einem Ritual, das – Woche für Woche – immer weniger Überwindung kostet. Und meistens wird daraus eine halbe oder ganze Stunde.
Natürlich habe ich auch Tage, an denen mich die Krankheit völlig ausknockt, ich Nachts kein Auge zu mache, in Sorgen und apokalyptischen Gedanken ertrinkte. Dann schaffe ich es nicht vor die Tür. Und das ist okay.
Warum mir fotografieren Kraft gibt
Auch gegen Ende einer depressiven Episode kann ich nicht einfach losfotografieren. Zeitweise fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren, wenn ich durch den Sucher schaue. Der Drang, sofort umzudrehen und mich wieder ins Bett zu legen, kann überwältigend sein – und häufig gebe ich nach. Doch von Tag zu Tag wird dieser Drang weniger und ich kann mich besser aufs Spazieren mit der Kamera einlassen.
Was aber ist daran so schön, dass es mir Kraft gibt – und nicht nimmt? Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich mir über die Jahre angewöhnt habe, innerlich zu entspannen und den Spaziergang mit der Kamera zu genießen.
Unterwegs denke ich nie an das eine Foto, das ich schießen muss. Ich erlaube mir, den Gerüchen der Stadt nachzuspüren, mein Gesicht in die Sonne zu halten oder einfach nur zu laufen. Und wenn mir etwas gefällt, bleibe ich kurz stehen.
Martin löst aus.
Während ich diesen Text schreibe, bin ich nicht depressiv und mein letzter Klinikaufenthalt ist über ein Jahr her. Trotzdem schnalle ich mir jeden Tag die Kamera um und laufe los. Denn was mir in Krisen Kraft gibt, tut es auch, wenn es mir gut geht.