Wie ein sexueller Übergriff zur fotografischen Ikone wurde
August 1945, New York City. In der amerikanischen Metropole liegt etwas in der Luft. Viele Menschen spüren, dass der Zweite Weltkrieg, der die Bevölkerung jahrelang in Atem gehalten und unzählige Menschenleben gekostet hat, kurz davor steht, ein Ende zu finden.
Die New Yorker lauschen den Meldungen, hoffen auf die offizielle Proklamation, dass der Krieg vorbei ist. In den frühen Abendstunden verbreitet sich eine Nachricht, die von Präsident Harry S. Truman mehr als eine Stunde bestätigt wird: Japan hat kapituliert. Der Krieg ist vorbei.
Menschen strömen auf die Straßen, mit erleichterten Gesichtern. Sie lachen, tanzen und freuen sich miteinander über die Nachricht.
Mittendrin: Der deutsch-amerikanische Fotojournalist Alfred Eisenstaedt, der mit seiner Leica III für das LIFE-Magazin nach bemerkenswerten Momenten Ausschau hält. Am Times Square bemerkt er einen Matrosen in schwarzer Uniform, der die Straße entlangrennt und junge und alte Frauen wahllos an sich zieht und küsst.
Doch erst, als sich der Fotograf noch einmal umdreht, sieht er, dass der Matrose eine Krankenschwester, genauer gesagt Zahnarzthelferin in einem weißen Kleid küsst – und drückt viermal ab.
© Alfred Eisentstaedt | LIFE
Das Foto wurde eine Woche später im LIFE-Magazin gemeinsam mit anderen Fotografien der überalll in den USA stattfindenden Siegesfeiern gedruckt. Es gehört zu den bekanntesten und beliebtesten Aufnahmen des 21. Jahrhunderts – und wurde eine kulturelle Ikone. Vor allem zu einem Symbol der romantischen Liebe, da viele Menschen in diesem Bild ein Paar sehen, das sich küsst.
Eisenstaedt hatte offenbar im entscheidenden Moment das perfekte Bild gesehen und abgedrückt. Er hatte die Erleichterung über das Kriegsende festgehalten und dem Rest der Welt zugänglich gemacht. Doch eine entscheidende Sache sah er nicht.
Wie die abgebildete Frau den Kuss erlebte
Jahrzehntelang wurde nach der Identität der Protagonist:innen gesucht. Mehrere Männer kamen für den Matrosen infrage und beanpruchten diese. Eine ganze Reihe von Wissenschaftler:innen identifizierte Greta Zimmer Friedman als die geküsste Zahnarzthelferin. In einem Interview (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) sprach sie im Jahr 2005 erstmals über die Szene.
„Ich hatte das Gefühl, dass er sehr stark war, er hielt mich einfach nur fest, und ich bin mir nicht sicher, ob ich … – wegen des Kusses, denn es war einfach jemand, der wirklich feierte. Aber es war kein romantisches Ereignis.“ Es wäre nicht ihre Entscheidung gewesen, geküsst zu werden. Eher ein Ereignis der Art „Gott sei Dank ist der Krieg vorbei“, sagte Friedman.
Plötzlich war die Aufnahme kein Symbol mehr für romantische Liebe, sondern für eine Zeit, in der Frauen Männern unterstellt waren. Die 1940er, in denen es niemand für problematisch erachtete, dass ein Matrose auf offener Straße wahllos Frauen an sich zog und küsste.
Die hässliche Fratze der Rape Culture wird zelebriert
Statt eines schönen Momentes sehen wir ein Abbild sexueller Gewalt, die in dieser Zeit gesellschaftlich akzeptiert war. Ob Friedman geküsst werden wollte, war für alle – außer Friedman – am Bild Beteiligten zu keiner Sekunde relevant.
Natürlich kann man argumentieren, dass dies eine „andere Zeit“ war, in der gesellschaftliche Normen nicht dem heutigen Standard entsprachen. Das ist sicher korrekt. Es ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir es hier mit der hässlichen Fratze von Rape Culture zu tun haben.
Im Image-Magazin schrieben (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) die Autor:innen Amschlinger, Flad und Sautter 2017, die Fotografie repräsentiere eine Kultur, die sexuelle Gewalt ignoriert, bis zu einem gewissen Grade akzeptiert und teilweise sogar zelebriert. Und das muss aufhören.
Isabel Cara schrieb (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) in Cultura Colectiva: „Aber nachdem die Geschichte aufgedeckt wurde und wir nun wissen, was wir über sexuelle Übergriffe und Frauenrechte wissen, wäre es das Mindeste, wenn wir aufhören würden, dieses spezielle Foto zu feiern.“ So ikonisch es auch sein möge, es zeige ein Verhalten, das wir einfach nicht fördern sollten.
Das fotografische Learning
Wenn wir bekannte Aufnahmen von hochgelobten Fotograf:innen sehen, dürfen – oder müssen – wir uns erlauben, über die Bildkomposition hinaus kritisch das Bild anzusehen. Denn es könnte sein, dass wir erneut etwas übersehen. Manchmal kostet das Mut, denn diese Aufnahmen können über die Jahre einen augenscheinlich unantastbaren Status gewinnen.
Als Fotograf:innen, die das öffentliche Leben auf der Straße festhalten, können wir zudem die Frage stellen, ob das, was wir gerade sehen, für alle Beteiligten in Ordnung ist. Und, ob wir, statt zu fotografieren, einschreiten sollten.