Not Your Habibti
Palästinensische Debatte um sexuelle Belästigung
Im palästinensischen Westjordanland, der Heimat ihrer Familie, erlitt Yasmin Mjalli erstmals sexuelle Belästigung. Aus ihrer spontanen Reaktion darauf erwuchs ein Modelabel – und eine feministische Initiative, die ihr Leben veränderte.
Von Mareike Enghusen, Tel Aviv
Es gibt Momente, in denen bringt Schmerz etwas Neues hervor. Im Leben von Yasmin Mjalli gab es vor fünf Jahren einen solchen Moment. Es war der internationale Frauentag, Yasmin war 21 Jahre alt und erst vor Kurzem aus ihrer bisherigen Heimat North Carolina, USA, nach Ramallah ins palästinensische Westjordanland gezogen.
Sie war ihren palästinensischen Eltern gefolgt, die vor vielen Jahren in die USA ausgewandert und nun zurück ins Land ihrer Wurzeln gezogen waren. Hier hatte sie zum ersten Mal erlebt, was für viele Frauen rund um die Welt eine bedrückende Begleiterin des Alltags ist: sexuelle Belästigung.
Zu jener Zeit war in den USA gerade eine Debatte über sexuelle Gewalt entfacht, ausgelöst durch die Enthüllung, dass der Filmproduzent Harvey Weinstein jahrzehntelang Frauen sexuell bedrängt und sogar vergewaltigt hatte. Neben „MeToo“, dem Wortpaar, das zum Namen und Symbol einer ganzen Bewegung werden sollte, verbreitete sich in jenen Tagen ein zweiter Slogan in den sozialen Medien: Not Your Baby. „Mir gefiel der Satz und wofür er stand“, erinnert sich Yasmin Mjalli. Kurzerhand erfand sie eine arabisierte Version: Not Your Habibti.
„Habibti“ lässt sich lose mit „meine Liebe“ oder „meine Geliebte“ übersetzen, kann aber einen anzüglichen Klang haben – insbesondere, wenn Männer so eine ihnen unbekannte Frau adressieren. Ihr neuer Slogan gefiel Yasmin Mjalli so sehr, dass sie ihn aus Stoff auf eine alte Lederjacke nähte und am Internationalen Frauentag in jenem Jahr damit auf die Straße ging. Anschließend postete sie ein Foto davon in den Sozialen Medien.
Sexuelle Belästigung weit verbreitet
Was dann geschah, sollte ihr Leben auf ungeahnte Weise verändern: Das Bild ging viral. Frauen in aller Welt teilten es, schrieben begeisterte Kommentare und begannen, von eigenen Erfahrungen mit sexueller Gewalt zu berichten. „Das war ein Schlüsselmoment für mich“, erzählt Yasmin Mjalli im Gespräch via Zoom. „Auch wenn man weiß, man ist nicht die Einzige, die diese Dinge erlebt, ist es sehr leicht, sich allein zu fühlen. Und dann poste ich dieses Foto, und andere Menschen schreiben: Mir ist das auch passiert – das hat alles verändert.“
Es ist Yasmin Mjalli wichtig, zu betonen, dass sexuelle Belästigung und Gewalt kein herausragendes Merkmal der palästinensischen Gesellschaft seien. Dass sie in den USA nichts dergleichen erlebt habe, führt sie lediglich darauf zurück, dass sie dort in einem Dorf lebte und nicht in einer großen, belebten Stadt wie Ramallah. Dennoch gibt es in den palästinensischen Gebieten zwei Komponenten, die geschlechtsbasierte Gewalt verstärken und ihre Bekämpfung erschweren – nachzulesen etwa in einem Bericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA).
Dort heißt es, dass zum einen die patriarchalen Werte und Normen, die in großen Teilen der palästinensischen Gesellschaft vorherrschen; zum anderen der jahrzehntelange israelisch-palästinensische Konflikt, der auf vielfache Weise die ökonomische und gesellschaftliche Entfaltung vor allem der Frauen hemmt. So erschwert beispielsweise die wirtschaftliche Dauerkrise den Frauen den Weg zu finanzieller Unabhängigkeit: Die knappen Arbeitsplätze gehen vorrangig an Männer. Eine Frau, die finanziell abhängig von ihrem Ehemann ist, hat weniger Möglichkeiten, sich aus einer gewalttätigen oder einengenden Beziehung zu befreien.
Traditionelle Einstellungen contra Emanzipation
In einem Bericht des palästinensischen Büros für Statistik von 2019 heißt es, knapp 30 Prozent aller Frauen in den palästinensischen Gebieten würden Opfer von geschlechtsbasierter Gewalt. Die wahren Zahlen dürften deutlich höher liegen angesichts der Scham, mit der das Thema besetzt ist. Einem Bericht des UNFPA (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) zufolge suchten nur 0,7 Prozent der betroffenen Frauen Hilfe – weil es nicht genügend vertrauenswürdige Anlaufstellen gebe als und aus „Angst vor Stigma und Vergeltung“.
Somit erschweren traditionelle Einstellungen den Kampf gegen geschlechtsbasierte Gewalt. In einer Umfrage von UN Women (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)im Jahr 2018 gaben die Hälfte aller befragten Palästinenserinnen und 63 Prozent der befragten Palästinenser an, eine Frau müsse Gewalt tolerieren, wenn dies dazu diene, die Familie zusammenzuhalten. Doch gesellschaftliche Einstellungen, in Nahost wie anderswo, sind in einem ständigen Wandel begriffen, den die zunehmende Vernetzung der Welt erheblich beschleunigt.
In der gesamten arabischen Welt gibt es Organisationen und Initiativen, die tradierte Geschlechtermodelle aufzubrechen versuchen. Manche behutsam, manche radikal. In der palästinensischen Gesellschaft hat die Debatte um geschlechtsbasierte Gewalt in den vergangenen Jahren an Wucht gewonnen. Und Yasmin Mjalli hat dazu beigetragen.
Aus einer spontanen Aktion erwächst ein Modelabel
Ermutigt und inspiriert von dem Zuspruch, den sie mit ihrem Post erfahren hatte, tat sie zwei Dinge: Sie begann, sich offensiv mit dem Thema zu befassen, organisierte Treffen, veranstaltete Workshops für Frauen und dokumentierte Erfahrungen Betroffener. Und sie begann, Jacken mit der Aufschrift „Not Your Habibti“ zu fertigen und online zu verkaufen. In den USA hatte Yasmin Mjalli Kunstgeschichte studiert, um später einmal in einem Museum zu arbeiten. Mode zu gestalten war ihr nie in den Sinn gekommen.
„Anfangs sah ich das nicht als etwas Langfristiges“, erzählt sie, „aber dann hat es ein Eigenleben entwickelt.“ Nachdem sie mit dem Foto ihres ersten Entwurfs im Internet derart viel Zuspruch erhalten hatte, sammelte sie gebrauchte Jeansjacken und nähte den Slogan selbst darauf. Als die Nachfrage schneller stieg, als sie nähen konnte, machte sie ein Projekt daraus: 2018 gründete sie ein eigenes Modelabel, „BabyFist“, das sie später in „Nol“ umbenannte (Arabisch für „Webstuhl“), schloss sich mit palästinensischen Frauenkollektiven im Westjordanland und Gaza zusammen und professionalisierte Schritt für Schritt die Produktion. Bald wurden internationale Medien auf sie aufmerksam: Die US-Magazine „GQ“ und „Vogue“ interviewten sie, europäische und auch israelische Medien berichteten.
Denn Yasmin Mjalli hat eine eigene Geschichte zu erzählen. Sie will nicht bloß Mode verkaufen, sondern eine Haltung. „Mode ist zwangsläufig politisch“, sagt sie. „Wenn ich ein T-Shirt in einer Fabrik herstelle, von der ich nicht weiß, wie dort die Arbeitsbedingungen sind, welche Gehälter bezahlt werden, ob Frauen und Männer gleich behandelt werden – inwiefern dient das meiner feministischen Arbeit?“
Deshalb achte sie, wie sie versichert, bei importierten Stoffen und Farben auf ethische Produktionsbedingungen. Inzwischen ist ihr kleines Unternehmen zu ihrer Hauptbeschäftigung geworden, von den Einnahmen kann sie leben. Um die hundert Kleidungsstücke im Monat verkauft sie über ihren Online-Shop, den Großteil davon in die USA, die meisten übrigen nach Europa; Preise von 100 Euro für ein Oberteil können sich nur die wenigsten palästinensischen Kund*innen leisten.
Zugleich nutzt Yasmin Mjalli ihren steigenden Bekanntheitsgrad, um in der palästinensischen Gesellschaft Projekte und Debatten rund um Frauenrechte und Feminismus anzustoßen. So initiierte sie beispielsweise 2019 eine Serie von Workshops über Menstruation an öffentlichen palästinensischen Schulen: Ein Thema, das ähnlich wie sexuelle Belästigung mit Stigmata und Ängsten behaftet ist. Und das nicht nur in der palästinensischen Gesellschaft, wie Yasmin Mjalli in ihrem Bemühen, Stereotype zu meiden, betont, „sondern überall auf der Welt“.
Ein Gefühl von Heimat, trotz aller Widrigkeiten
Der israelisch-palästinensische Konflikt, der seit Jahrzehnten das Leben in diesem Teil der Welt überschattet, drängt sich dabei immer wieder auch in ihren Alltag. Wolle sie beispielsweise grüne Textilfarbe importieren, erzählt sie, würden die israelischen Behörden die Ware oft besonders gründlich und langwierig überprüfen, „weil sie fürchten, die Farbe würde zur Produktion von Uniformen genutzt werden.“
Auch wenn es um den Konflikt geht, gibt sich Yasmin Mjalli unverblümt politisch. Sie spricht von „der Besatzung“, wenn sie Israel meint, und auf der Facebook-Seite des „Nol Collective“, wie sie ihren losen Zusammenschluss mit palästinensischen Frauenkollektiven nennt, taucht in angespannten Zeiten schon mal der Hashtag #fuckisrael auf. Obwohl sie sich an heikle Themen wagt, werde sie kaum angefeindet, berichtet sie mit lässigem Schulterzucken – „und wenn doch, ist es mir egal.“
Trotz aller Widrigkeiten ist sie heimisch geworden in Ramallah. Sie verbessert ihr Arabisch, einst ihre Muttersprache, im Laufe der Jahre jedoch vom Englischen in den Hintergrund ihres Bewusstseins gedrängt. Sie habe sich von Stereotypen befreit, die sie in den USA über den Islam verinnerlicht habe, und Frieden gefunden mit ihrer Identität als arabische, muslimische Frau. „Ich habe das Gefühl, ich bin hier näher zu mir selbst gekommen“, erklärt sie. „das Einzige, was ich bereue, ist, dass ich nicht schon früher hergezogen bin.”