Brief #88: Realitätsflucht nach vorn
Mein lieber Sven,
geht das nicht besser, fragst Du in Deinem letzten Brief.
Die einzige Antwort, die mir richtig erscheint, ist eine Abwandlung eines Zitats des Philosophen Theodor W. Adorno. Es stammt aus einem Buch namens Minima Moralia, einer Sammlung von 153 Aphorismen und Essays über die Bedingungen des Menschseins unter kapitalistischen und faschistischen Verhältnissen.
Adorno arbeitete daran im amerikanischen Exil zwischen 1944 und 1947 und man kann sich ausmalen, wie er gedacht und gelitten haben muss mit Blick auf den Weltkrieg und die Verheerungen, die die Deutschen in der Welt genauso wie in sich selbst angerichtet hatten.
Er schrieb damals: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Es war seine Mahnung daran, sich den Sinn für das Richtige nicht nehmen zu lassen, auch dann nicht, wenn das richtige Leben zu verblassen droht vor all dem Falschen, was sich um einen herum abspielt und das so viele dennoch für richtig halten.
Meine Antwort auf Deine Frage lautet daher: Es gibt kein richtiges Handeln im falschen. Solange sich die Politik nicht nur in Deutschland weiter so schwer tut damit, die Ursachen der Krisen in den Blick zu nehmen, die uns im Moment über den Kopf zu wachsen drohen, kann sie nur scheitern. Dann agiert sie wie eine Feuerwehr, die Brände zu löschen versucht, aber die Brandherde übersieht und bei jedem neuen Feuer genauso überrascht tut wie die Gesellschaft, die diese Art der Politik mitträgt.
Ich kann kann mich gerade kaum entscheiden, welche Krise ich am eindrücklichsten finde, um zu illustrieren, was ich meine. Sind es die Feuer auf Rhodos von apokalyptischen Ausmaßen, die zur größten Evakuierung in der Geschichte Griechenlands geführt haben, darunter die vieler Touristinnen und Touristen, für die Behörden am Flughafen Ausreisedokumente ausstellen mussten, weil sie vor den Flammen so schnell hatten fliehen müssen, dass keine Zeit blieb, wenigstens den Geldbeutel mit dem Personalausweis zu schnappen?
Ich habe in der vergangenen Woche ein Interview gehört mit dem Sprecher von TUI, (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) der sich sichtlich mühte, den Anschein von Normalität zu wahren. Er führte die Feuer trotz aller Analysen der Klimawissenschaft, dass solche Feuer in einer Welt ohne Erderwärmung nicht möglich gewesen wären, vor allem auf Brandstiftung zurück und betonte auf Fragen nach der eigentlichen Ursache, die Menschen wollten eben Urlaub im Süden machen und es sei die Aufgabe seines Konzerns, dafür die Bedingungen zu schaffen. Was sollte er auch anderes sagen? Die einzige logische Reaktion auf die Fragen der Interviewerin wäre gewesen: Sehen Sie, das Geschäftsmodell der Tourismusbranche besteht seit Jahrzehnten darin, den Menschen eine unbeschwerte und sorgenfreie Wirklichkeit zu verkaufen, zu einem immer höheren Preis der Ausbeutung von Mensch und Natur, die wir gut zu verstecken gelernt haben – Sie können von mir jetzt nicht ernsthaft erwarten, dass ich derjenige bin, der dieses Geschäftsmodell für beendet erklärt. Dann bin ich in einer Stunde meinen Job los.
Und weißt Du, Sven, ich kann den Mann sogar verstehen. Ich habe auch einen Beitrag gehört, in dem ein Paar aus Schwaben zu Wort kam, das gerade auf Rhodos gelandet war, genau an dem Flughafen, an dem kurz davor verstörte Menschen ins Flugzeug gestiegen waren, froh darüber, der Hölle entkommen zu sein, nachdem sie erst am Strand gestanden und gefürchtet hatten, bei lebendigem Leib verbrannt zu werden, und dann tagelang am Flughafen auf mitgebrachten Handtüchern geschlafen hatten. Die beiden Schwaben aber sagten: Der Reiseveranstalter hätte den Flug storniert, also hätten sie selbst gebucht und führen nun in den Norden der Insel, da sei es sicher. Als lebten die beiden in einem Haus, in dem im Erdgeschoss die Menschen fast verhungern und sie sich das Essen im ersten Stock per Drohne von Lieferando liefern lassen. Samt Hinweis im Feld „Anmerkungen“ bei der Online-Bestellung: „Bitte nicht klingeln. Unter uns wohnt die Realität. Die isst uns sonst alles weg.“
Den Teil der Wirklichkeit auszuklammern, der den unmittelbaren Bedürfnissen entgegen steht, ist die beste Erfindung des menschlichen Bewusstseins und die furchtbarste und der Konzern TUI hat darauf ein Imperium errichtet.
Oder ist es, nächstes Krisenbeispiel, der Rechtsruck, der nach Ungarn, Polen, Italien, Finnland und Schweden mehr und mehr ganz Europa erfasst? Am Wochenende fand in Magdeburg der erste Teil des AfD-Parteitags zur Europawahl im kommenden Jahr statt. Zum Spitzenkandidat wurde mit Maximilian Krah ein Mann gewählt, (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) der von sich sagt, er sei nicht konservativ, sondern rechts und als Abgeordneter im EU-Parlament sogar für die Fraktion der vereinten Hetzer untragbar war und daher mehrmals suspendiert wurde, unter anderem, weil er im französischen Präsidentschaftswahlkampf nicht Marie Le Pen unterstützt hatte, die Vorsitzende der als rechtspopulistisch bis rechtsextrem eingestuften Partei „Rassemblement National“ und Teil dieser Fraktion, sondern den noch radikaleren rechtsextremen Herausforderer Éric Zemmour. Krah gehört zu jener Art Politiker, die die EU für einen aufgeblähten Bürokratie-Apparat hält, der Probleme erzeugt, für die er dann Behörden schaffen muss, um sie zu lösen. Zum Beispiel: Migration. Und: Klima. Klar. Die Mensch gewordene Ichsucht, die Schwierigkeiten dadurch löst, sie für nicht existent zu erklären. In dem Haus, in dem Krah lebt, würden die hungernden Menschen einfach rausgeschmissen und die Türen und Fenster vernagelt. Und drin liefe dann so laut Musik, dass man das Klopfen und Schreien nicht hört. Wahrscheinlich irgendwas von Michael Wendler mit seinem aktuellen Album „Realitätsflucht nach vorn“.
Oder ist es, dritte Krise, der Ausnahmezustand, in dem Israel inzwischen angekommen ist nach der Verabschiedung eines Teils der sogenannten Justizreform am Montag der vergangenen Woche, mit dem das Parlament dem Obersten Gericht untersagen möchte, weiter seiner Kontrollfunktion nachkommen zu können? Ich habe am Mittwoch eine Dreiviertelstunde lang eine Diskussion verfolgt, (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) in der der Autor Ofer Waldmann sagte: Der Staatschef Benjamin Netanjahu ist auf dem Tiger des Rechtsextremismus in sein Amt zurückgeritten und nun läuft dieser Tiger Amok. Und die freie Journalistin Steffi Hentschke sagte hörbar beeindruckt davon, was sich vor ihrer Haustür in Tel Aviv abspielte: Ich kann mir nicht vorstellen, wie diese Situation ohne Gewalt zu Ende gehen sollte.
Ich frage mich dieser Tage, wie wir insgesamt aus der sich immer weiter zunehmenden Hitze aus ökologischen und politischen Brandherden herausfinden sollen ohne eine Eskalation, die alles aufs Spiel setzt, was uns bislang so selbstverständlich vorkam – Humanität, Freiheit, Frieden?
Wir sind in einem Stadium von Realitätsextremismus angekommen, in dem jene immer mächtiger werden, die sich für ihre Version der Wirklichkeit zunehmend brutalisieren und Gehör finden bei jenen, die nicht bereit oder in der Lage sind, zu verstehen, welche Gefahr darin liegt, sich an einer Welt festzuklammern, die im Verschwinden begriffen ist.
Daher braucht es eine Politik, die so mutig ist, die Ursachen zu benennen, die den vielen Krisen zugrunde liegen. Die Erderwärmung zerstört bereits heute Leben und treibt Menschen in die Flucht, die bei uns als „Wirtschaftsflüchtlinge“ diffamiert werden. Unser Wohlstandsmodell der vergangenen sieben Jahrzehnte ist nicht länger haltbar, weil es unter einer Art Grauer Star leidet: Es wird zunehmend blind gegenüber dem, was es an Schäden anrichtet. Wir brauchen einen neuen Begriff von Freiheit, der Verantwortung und Autonomie zusammenführt in einer Zeit, in der die individuelle wie die kollektive Handlungsfreiheit in einer Weise beschnitten wird wie wahrscheinlich noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Solange Politik diesen Paradigmenwechsel nicht vollzieht, kann sie gar nicht richtig handeln. Die Frage ist dann nur, wer auf welche Weise woran scheitert. Und gleichzeitig weiß ich, wie illusorisch es ist, auf Menschen in CDU, FDP oder SPD zu hoffen. Wer sagen würde, was ich so leicht dahin schreibe, wäre den Job in etwa so schnell los wie der Sprecher von TUI.
Und doch gibt es jene, die sich auf diesen Weg gemacht haben und bereit sind zum Risiko, für das richtige Handeln im richtigen in regelmäßige Stürme zu geraten. Einer davon heißt Dirk Neubauer: ein Mann, der neun Jahre lang Bürgermeister im erzgebirgischen Augustusburg war, dann aus der SPD austrat und sich seit einem Jahr als Landrat in Mittelsachsen überall dort der AfD in den Weg stellt, wo er ihr begegnet.
Auf die Frage, ob es nun einen Aufstand der Anständigen brauche, antwortete er: (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Wir alle entscheiden, wie die Geschichte ausgeht! Man darf niemanden aus der Verantwortung lassen. Ich sage den Leuten immer wieder: wenn euch nicht gefällt, was die AfD macht, müsst ihr laut sein, das selbst in die Hand nehmen und überlegen, wie ihr dem begegnet. Ich kann helfen, mich aber auch nicht um alles kümmern.
Insofern, lieber Sven: Vergiss Wissing. Auf ins Erzgebirge.
Dein Kai
PS: Mit dem Song dieser Woche habe ich mich nach der Diskussion am Mittwoch wieder so weit beruhigt, so weit das gerade möglich ist.
https://www.youtube.com/watch?v=Q9o2hF5IVGk (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)(Röyksopp – Lights Out ft. Pixx)