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Warum wird das Wirtschaften politischer?

Begann es 2008? Oder erst 2022? Oder war rückblickend bereits das Jahr 2000 entscheidend? Die Frage, seit wann Wirtschaften im internationalen Geschäft politischer geworden ist, lässt sich je nach Perspektive verschieden beantworten. 2008/2009 – die Finanzkrise, 2022 – der Ukrainekrieg und 2000 kam mit Putin in Russland ein Mann an die Macht, dessen Agenda heute hinlänglich bekannt ist. (Interessante Hintergründe zu Russland habe ich im Podcast mit Volker Weichsel besprochen.) (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Richtig sind wahrscheinlich alle drei Daten, denn sie alle sind Wegmarken auf dem Weg zum neuen Status Quo: Das Wirtschaften von Unternehmen in einer hochbrisanten, hochpolitischen und hochkomplexen internationalen Umgebung und der schleichende Tod der liberalen Formel vom „Anything goes“ (Paul Feyerabend).

Der schleichende Tod von Anything goes

Der ökonomische Pragmatismus wurde über zwei Jahrzehnte herausgefordert: in Terrorangriffen auf Andersdenkende, in völkerrechtswidrigen Überfällen oder Angriffen, er wurde attackiert in den Verbrennungen von Flaggen anderer Nationen, er vertrocknete schließlich im Globalisierungsstau der Corona-Pandemie. Es scheint, dass die Diskussion über die der Formel „Anything goes“ inne liegende Hybris eines universal gültigen, aber nicht anwendbaren Kulturcodes das einzige sei, das noch geblieben ist vom liberalen Globalismus, der in den 1990ern am „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) seinen Höhepunkt erreichte.

Fukuyama war es auch, der erst 2019 davor warnte, dass eine Gesellschaft, die nur noch aus Partikulargruppierungen bestehe, nicht mehr mehrheitsfähig sei und dass Individualismus soziale Begrenzung brauche. Nationalstaaten, insbesondere im Westen bzw. Globalen Norden, kämpfen mit den Folgen einer Individualisierung, die den Staat als solchen angreift – die Verweigerung, politische Corona-Regeln zu akzeptieren oder in breiter Mehrheit Klimapolitik zu unterstützen, sind nur zwei prominente Beispiele.

Von innen heraus systemisch bedroht, sehen sich die bisherigen Gewinner der Globalisierung, wie auch Deutschland, zugleich damit konfrontiert, dass Handel nicht mehr umsonst zu haben ist. It comes with a price. Und damit ist nicht (nur) der Zoll gemeint, mit dem unliebsame Geschäftspartner in Zaum gehalten wurden. Erinnert sich beispielsweise noch jemand an Trumps Zollkrieg mit Europa? Es sind ebenso wenig die üblichen Regulationen gemeint, denn protektionistische Wirtschaftspolitik zum Verschaffen von Standortvorteilen oder zum Qualitätsmanagement zählt, entgegen manchen Kritikern, zum üblichen Besteck nationaler bzw. regionaler Handelspolitik. Und es ist damit auch nicht gemeint, dass die Veränderung, um die es gleich geht, eine schlechte sei – denn ein Gutteil der Veränderungen, denen sich ein Unternehmen strategisch stellen muss, kommt von den Menschen selbst: Den Verbraucherinnen und Verbrauchern, Bürgerinnen und Bürgern, der Zivilgesellschaft als Fundament des freiheitlichen Wirtschaftshandels, von dem alle Akteure profitieren.

Lückenschluss oder Agree to disagree

Das, was neu ist, ist ein Lückenschluss: Als europäisches Unternehmen etwa stehe ich für bestimmte Werte, die ich auch im Ausland repräsentiere und an denen ich gemessen werde. Das bedeutet, dass etwa in Regionen, in denen europäische Werte abgelehnt werden, Unternehmen eine Entscheidung treffen müssen. Nicht Anything goes, also ein blasses Abbild des Werteschemas, das im Fahrwasser der globalen Codes mitzuschwimmen vermag. Sondern die Frage: Können und wollen wir eine lokal verständliche Variante unseres europäischen Werteschemas präsentieren? Eine, die immer noch nachvollziehbar ist, aber mit den lokalen Varianzen umzugehen vermag? Eine, die auf die lokalen Bedürfnisse eingeht, aber auch bei sich bleibt? Kann das funktionieren?

Insbesondere Konsumentenmarken müssen eine Entscheidung treffen. Gehe ich in das Risiko einer missverständlichen Kommunikation? Missverständlich, weil die dortigen Codes nicht zu unseren passen. Missverständlich, weil wir unsere Botschaft, die für unseren Heimatmarkt gilt, dort nicht gut platzieren können – und es auffallen wird: Social Media und Sprach-KI lassen kommunikative Marktgrenzen ja längst verschwimmen. (Hörenswert dazu: der Podcast zu Shitstorms mit Dr. Christian Salzborn.) (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Es wird künftig also wichtiger sein, darüber nachzudenken, auf welchem Markt und wenn ja, wie Sie sich als Unternehmen dort positionieren. Sich diesen Fragen zu stellen, dürfte Unternehmen, die – wenn sie dem globalen Westen angehören – eine jahrzehntelange Praxis des Nicht-Politisch-Seins gewohnt sind, zunächst sehr ungewohnt vorkommen.

In der Praxis sind jene in der Minderheit, die mit Feingefühl und langer Hand eine differenzierte Entwicklungsstrategie verfolgen. Der verschämte Umgang mit wirtschaftlich attraktiven, aber (eher) autoritären Systemen ist die Norm. China, Russland, der Umgang mit arabischen Ländern – eine Haltung zu entwickeln, die transparent ist, aber Handlungsoptionen offenhält, ist nicht billig zu haben. Und eben langfristig anzulegen Der wirtschaftliche Erfolg der Führungsetagen wird üblicherweise in Jahreszyklen gemessen. Das belohnt eher den Taktiker als den Strategen. Ein Unternehmen, das dieser alten Globalisierungsroutine folgt, ist gefährdet, immer wieder auf einen „schwarzen Schwan“ zu treffen.

Nötig wäre, sich dauerhaft informiert zu halten, um gut vorbereitet zu sein, hinzuhören und gerade im interkulturellen Umfeld ein möglichst wahrhaftiges Verständnis von der anderen Kultur zu entwickeln. Transparenz zu widerstreitenden Werten im Sinne eines öffentlich kommunizierten Agree to disagree kann ein Sicherungsanker für Unternehmen sein, die handlungsfähig bleiben wollen in kulturell komplizierten Märkten. (Was neue Grundvoraussetzungen für Innovator*innen sind, ist in der Podcast-Folge mit  Anne Seubert nachzuhören).  (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Notwendig ist, sich das kulturelle Invasionsprinzip globalen Wirtschaftens und Handelns vor Augen zu führen: Was bei mir in der Heimat funktioniert, muss anderswo nicht funktionieren. Das hat am allerwenigsten mit dem Produkt selbst zu tun, kulturelle Werte und die Fähigkeit der (deutschen) Marke darauf einzugehen, sind wesentlicher Teil des Erfolgs. Eine von Ignoranz getriebene Positionierung funktioniert dabei ebenso wenig wie die kulturelle Aneignung, das bewusste Nachahmen lokaler Gepflogenheiten oder die unkommentierte Übernahme eines fremden Memes.

Es geht für Unternehmen nicht darum, als politischer Akteur in medias res zu gehen, also selbst Wirtschaftspolitik zu betreiben. Die These von der „Politisierung des Wirtschaftens“ bezieht sich zunächst auf den Abgleich der unternehmensinternen mit der externen Haltung.

Haltung = Purpose?

Der Purpose, der Zweck eines Unternehmens, beschäftigt jene schon länger. Tausende von Purpose Papers sind entstanden. Häufig beschränkte sich ihre Funktion darauf, den äußeren Ring des Markenkerns zu beschreiben: HR und Marketing waren in der Lage, Identifizierung für Kunden, Fans und Bewerber*innen anzubieten. Es gibt allerdings auch Purpose ohne Haltung – Sie werden wenig Mühe haben, Beispiele zu finden: Unternehmen, die cool klingen, aber wenig anbieten. Unternehmen, die eine widersprüchliche Darstellung von außen und innen haben (Elon Musk ist wenigstens ehrlich). Oder Unternehmen, bei denen das Management gereizt reagiert, wenn Mitarbeitende die Gültigkeit der eigenen Werte einfordern, von denen zufälligerweise einer „Gemeinschaft“ lautet …

Die Politisierung des Wirtschaftens bedeutet also zunächst einmal Hausaufgaben in der Unternehmensstrategie. Aufzuräumen in den Wertekatalogen und nur noch jene stehen zu lassen, die wirklich gelten „from top to toe“, also vom CEO zum Junior. Ihr Wertekanon als Unternehmen ist „biased“ mit jenem aus Ihrer Heimatregion – und das ist auch in Ordnung. Vielleicht geht es künftig noch mehr genau darum. 

Ein Beispiel, das ich immer wieder gerne erzähle, ist die unterschiedliche Bedeutung von „VUCA“, also der Fähigkeit in volatilen, unsicheren, komplexen und ambiguen Situationen zu handeln. In Republiken der ehemaligen Sowjetunion kennt und braucht man diesen Begriff nicht – denn dieser Zustand ist Normalität. Dies gilt vermutlich in ähnlicher Lesart auch für arabische und afrikanische Länder.

Für westliche Länder bzw. den Globalen Norden aber nicht. Für diese Länder ist VUCA ein wichtiger Baustein für einen Erfolg in der neuen Komplexität – nachdem jahrzehntelang der ökonomische Pragmatismus einen Common Ground für aufstrebende Handelspartner bot.

Der Purpose wird nun zu einer Haltung, die Unternehmen auserzählen können, und zwar von „innen nach außen“. Jede unternehmerische Handlung zahlt ein auf diesen Purpose. Denn Haltung ist in der neuen internationalen Weltordnung kein Widerspruch mehr zum wirtschaftlichen Erfolg. Oder anders formuliert: Purpose und Haltung müssen künftig zusammenpassen

Information schlägt Indifferenz

Die Politisierung des Wirtschaftens bedeutet auch, dass ein stets aktueller und differenzierter Blick auf die internationale Weltordnung wichtig wird. Die Aufgabe von Politik hat sich verändert – nicht zur Freude aller Unternehmen, die Regularien bevormundend finden oder sich über einen wertegeleiteten Politikertypus mokieren. Aber was, wenn dies nun die Zeit ist? Weil sich Werteregionen bilden, in denen starke Übereinkünfte herrschen und bei denen die Regulationen dafür sorgen, dass Unternehmen zukunftsfit werden – eben, weil das alte Globalisierungsmodell tot ist? Politik setzt den Rahmen für erfolgreiche nationale bzw. regionale Wirtschaft. Kein*e demokratische Politiker*in hat Interesse an der Schlechterstellung der eigenen Wirtschaft. Wirtschaftspolitik wird gerade in den unsicheren Zeiten der nächsten Jahre ein notwendiges Instrument sein, um im Wettbewerb der Nationen bzw. Regionen richtige Impulse zu setzen.

Was bedeutet all dies für Unternehmen? In einer Zeit, in der die europäische Wirtschaft im Osten auf Handelsmächte trifft, die dem Universalismus der Menschenrechte abgeschworen haben, und in der die USA im Westen den Protektionismus wieder entdecken; in einer Zeit, in der – rein utilitaristische? –Netzwerke wie BRICS wachsen; und schließlich in einem emanzipatorischen Zeitalter, das in afrikanischen und arabischen Ländern den westlichen Wertetransfer in Frage stellt, auf dessen Welle der Exporthandel jahrzehntelang mitgeschwommen ist – in dieser Zeit ist ohne eine differenzierte Analyse der Vor-Ort-Situation wirtschaftliches Handeln schlicht unmöglich. Gerade, weil gelernte kulturelle Codes nicht mehr funktionieren. Etwa die Wucht, mit der in der gegenwärtigen Debatte die Rolle von Israel und Palästina verhandelt wird – oft wenig trennscharf zwischen Judentum, Islam, zwischen Hamas und Zionismus – zeigt uns, dass in einer global vernetzten Gesellschaft, die das Spiel mit der Aufregung längst inhäriert hat, alte Glaubenssätze nicht mehr gelten bzw. neu verteidigt werden müssen. Die gesellschaftliche Debatte fragt: Was bedeutet denn Nie wieder? Messen wir nicht mit doppelten Standards? Fragen, die früher höchstens in wissenschaftlichen Fachkreisen heftig diskutiert wurden, werden nun laut gestellt. Sich als Unternehmen zu positionieren und zu sagen: Nie wieder, bedeutet heute also auch: Nie wieder mit Leben zu füllen. Was meine ich damit? Wie unterstützen wir das? Ist unsere eigene Geschichte clean dazu?

Eine globale Selbstverständlichkeit zu irgendetwas scheint es nicht mehr zu geben. Möglicherweise gab es sie nie, aber in einem politisch indifferenten Zeitalter, dessen späte Ausläufer zumindest bis zum Ukrainekrieg gingen, waren diese Unterschiede insbesondere bei Kaufentscheidungen untergeordnet. Heute ist der wirtschaftliche Erfolg daran gekoppelt, dass ich mich der Komplexität der politischen Stimmungen meiner Kundschaft stelle – insbesondere als Konsumentenmarke. Als Unternehmen muss ich mir (neue) Fragen stellen. Und nach echten Antworten suchen.

Über mich: Der Kern aller beruflichen Aktivitäten ist meine Liebe zum geschriebenen Wort, mein Interesse an größeren Zusammenhängen und mein, wie ich es neuerdings nenne, Lautbleibeabkommen mit der Demokratie. Geboren 1979 im Süden der Republik war ich von 1998 bis 2007 hauptsächlich schriftstellerisch und journalistisch tätig (Badische Zeitung, student!, Kunststoff). Außerdem arbeitete ich als Lektorin für Prosatexte und Wissenschaft. Die Auseinandersetzung mit professionellen Texten in PR und Content Marketing begann 2005 und setzt sich bis heute fort. Die literarisch-lyrische Beschäftigung und die sachlich-zweckorientierte befruchten sich dabei bei mir gegenseitig und bringen verschiedene Textarten zum Vorschein. Die Gründung der Forschungs- und Beratungsgesellschaft Nimirum 2010 gemeinsam mit Dr. Christophe Fricker war mein Manifest für mehr Faktentreue in Debatten. Seit Januar 2021 lebt Nimirum als Research-Institut 20blue (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) fort. Als Netzwerk der Besten: aus Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur und verschiedenen Ländern beraten wir interdisziplinär Wirtschaft und Politik in der aktuellen Transformation hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft und Wirtschaft. Als Art Aficionada baue ich derzeit eine Kunstvermittlung und einen Kunstsalon auf. 

Sujet 20blue outlooks

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