Rechtsnormal - alles ganz normal?
Je weiter weg man lebt, desto eindeutiger ist der Befund: alles Nazis im Osten. Wenn man im Springer-Hochhaus sitzt, mag die Entfernung besonders weit sein. Wohnt man in Leipzig, ist man je nach Naturell beleidigt oder amüsiert.
Ostdeutschland ist so vielfältig wie Westdeutschland und jeder andere Landstrich, der Osten als Erfindung des Westens ist nicht umsonst ein Sachbuch, das im Frühjahr 2023 die Bestsellerliste dominiert.
Allerdings gibt es in der Tat ein Problem: die selbstbewusste Präsenz rechtsnormalen Gedankenguts unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit.
Plötzlich ideologisch nackt - und stolz darauf
Ein Bild dazu hat sich mir eingebrannt. Es ist schon einige Jahre her. Ich war in der Sauna, ein Ort mit komplizierten Spielregeln. Diskretion und Offenheit zu verbinden, scheitert bei manchen ("Gaffer"), aber im Großen und Ganzen funktioniert es. Wahrscheinlich auch, weil die meisten nackten Menschen nicht ihren Körper, sondern mit ihm ihre Menschlichkeit herzeigen. Imperfektion verbindet. Außerdem ist es ein Ort, der gemessen an der Menge der Leute ruhig ist. Klar, man schnabelt mit der oder dem Freund*in herum, aber eben leise. Und, mal ehrlich, am besten ist es doch, mit jenen in die Sauna zu gehen, mit denen man gut schweigen kann. Es gab also viele Gründe, warum die Gruppe von Männern mit rasierten Schädeln auffiel, die in der Mitte des Beckens standen und beim Wort "klatschen" unter beifälligem Gegröhle auf die Wasseroberfläche klatschten.
Stellen Sie sich einen durchtrainierten, weißen, überwiegend haarlosen nackten Körper vor, der danach schreit, als männlich wahrgenommen zu werden. Stellen Sie sich fünf davon vor, zweimal statthaft, zweimal gedrungen, einmal klein, die geduldete Ausnahme, Eifer und Ängstlichkeit zugleich verströmend.
Sie legten es darauf an, bemerkt zu werden. Sie räumten sich im Becken den Weg frei wie auf einem Gehweg, bei dem sie nebeneinander hergehen und ihren stechenden Blicken und lärmenden Sprüchen alle ausweichen. Durch ihr Sosein, eine kontrollierte Betrunkenheit (von sich selbst), fühlte ich mich provoziert, denn sie hatte nichts heiteres, nichts selbstironisches, nichts momenthaftes. Sie wollten Raum und nahmen ihn sich. Nicht am Rand, sondern inmitten des Beckens. Nicht leise, sondern laut und deutlich. Um sie herum bildete sich ein unsichtbarer Kreis, man ging um sie herum, aber man sah sie auch an. Fünf Männer im besten Alter (hier zwischen 20 und 30), die aus einem geschlechtslosen, manchmal auch geilen Saunakörper einen politischen Körper machten. Körper mit Aussage, Körper mit Ansage. Und vor dem wir disziplinlosen Wabbels uns gut in Acht nehmen sollten. Wir sind hier, das war die Botschaft. Wir verstecken uns nicht mehr. Es war die Rückkehr des biologischen Prinzips und ich weiß, wie ich - es war glaube ich 2016 - nach Hause ging und mir klar wurde, dass die Ratten aus ihren Löchern gekrochen waren.
Im Rückblick finde ich es erstaunlich, wie stark die Aversionen gegen Angela Merkels Apodiktum "Wir schaffen das" in der Breite der Gesellschaft war. Denn diese Gruppe in der Sauna wäre nicht möglich gewesen, wenn wir statt des Besitzstandwahrens das Besitzstandteilen geübt hätten.
Rückwärts statt Avantgarde: der Osten
Fahren Sie nach Leipzig, nach Weimar oder Jena, um lebendige Zivilgesellschaft zu erleben. Fahren Sie nach Chemnitz, Quedlinburg oder Altenburg, um Stadtentwicklung zu studieren. Aber fahren Sie nach Staupitz oder Tröglitz und hören Sie, was die AfD zeitgleich in den willfährig angeboteten Interviews und Parteitagen von sich gibt, hören Sie Ministerpräsident Kretschmer zu, und erleben Sie, was das neue "rechtsnormal" ist. Und diese neue Normalität beeinflusst auch uns, die aktiv dagegen stehen. Aktiv laut bleiben. Nicht plötzlich denken: Naja, stimmt, Flüchtlinge nehmen uns ja schon auch was weg. Oder: Europa ist schon irgendwie sch*.
Denn genau das passiert. Aus einer kritischen Diskussion der Gegenwart wird im rechtsnormalen Umfeld Systemkritik. Aus einer Kritik an einzelnen Maßnahmen entsteht Systemkritik. Aus der kritischen Würdigung demokratischer Institutionen wird Systemkritik.
Rechtsnormal, das ist die Verschiebung des Sagbaren, in dem auch Menschen, die nicht aktiv rechts sind, plötzlich Dinge laut sagen, die rechts klingen. Oder sie sagen - das ist einer Freundin aus Thüringen erst kürzlich passiert - "dann bin ich halt rechts". Rechtsnormal ist, wenn das Rechtssein so normalisiert ist, dass etwas anderes geschehen kann, dass die meisten, die die AfD in Umfragen jetzt hochkatapultieren, nicht auf dem Schirm haben werden: der Systemsturz.
Verfassungsrechtler haben das neulich einmal durchgespielt, und mir als Politikwissenschaftlerin lief es kalt den Rücken herunter, dass SELBST mit einem Grundgesetz, das stärker als andere demokratische Verfassungen antifaschistisch gedacht ist, mit überraschend wenig Änderungen profaschistisch wirkt.
Hört und liest man, was die AfD-Schergen mittlerweile so unverfroren öffentlich zu Protokoll geben wie jene Saunamänner 2017, ist völlig klar, dass diejenigen, die die Partei kontrollieren, auf diesen Systemsturz hinarbeiten. Und zwar überraschend kühl!
Auch ich habe die AfD lange als Gurkentruppe empfunden, Chaoten, die ihre Privatinsolvenzen mit den neuen Gehältern als politischem Mandatsträger abwendeten, Semibegabte, deren grober Wortschatz auf Bildungsnot schließen ließ und Rückwärtsträumer, die noch einmal das Lied von Männern hier und Frauen da singen, bevor die Gegenwart sie endgültig überholt. Ich konnte mir nicht vorstellen, was ein Bekannter schon früh sagte, dass es eiskalte Strategen in ihren Reihen gibt, die in langen Linien denken (Putin-ähnlich), weil das Gepräge nach außen so herzzerreißend dämlich war.
In dieser Dämlichkeit, die im Sinnbild Trumps, der auch zur globalen Massenbewegung der Rechtsnormalen gehört, und der Prügel, die sie dafür einstecken müssen, liegt das große Aktivierungspotential für die Radikalen von der rechten Seite.
Während Robert Habeck also sagt, dass die Transformation in eine klimagerechte Wirtschaft (Sie wissen schon, Planet retten und so) erstmal hart wird, bevor es wieder besser wird, sagt eine AfD mit freundlicher Unterstützung der Springerpresse, dass die Transformation unnötig ist und Robert Habeck im Grunde ein Sadist der kleinen Leute.
Ich weiß aus eigener Anschauung, dass Planung und Vorausschung schwer ist, gerade, wenn es unbequem ist. Menschlicherseits verständlich wollen wir wegsehen.
Dazu kommt, dass sich das Zielbild des guten Bürgers verändert hat, jener Bürger, der nicht unbedingt selbst und individuell Lebensziele plante, sondern froh war, wenn er es wie alle machen konnte. Nichts schlechtes daran, dass wir individualistischeren Köpfe uns davon absondern können und ein paar Dinge anders machen, hat zur Grundlage, dass die Mehrheit weiß, was Standard ist. Lange wars: Wohlstand, also Dinge haben, reisen, konsumieren können. Jetzt ist es, nicht das Gegenteil, aber kompliziert. Die richtigen Dinge haben, die richtige Reise unternehmen, bewusst konsumieren.
Vielleicht ist das frugale Leben im Gebiet der ehemaligen DDR einfach noch nicht lange genug her, vielleicht zieht "Sachen selbst einmachen" oder "Dinge wieder verwenden" nicht. Aber ICH dachte, als ich 2000 nach Leipzig kam, zuerst: krass, die sind uns voraus. Die werden mal viel besser mit der Wirklichkeit klar kommen, wenns weniger für alle gibt. Dass es so kommen würde, war dem breiteren Fachpublikum damals schon klar. Und ich, aus einer hochkompetitiven Region kommend (aka: Süddeutschland), fand diese "Geiz ist geil"-Stimmung noch krasser, als ich hier oft viel selbstgenügsamere Menschen kennen lernte, die richtig cool uncool waren. Da wir Wessis uns darüber andererseits ausführlich lustig gemacht haben (und zum Teil heute noch tun), kann ich mir aber schon vorstellen, dass der Vorteil in der Lebensroutine vielen gar nicht mehr klar ist. Stattdessen haben sich viele bis aufs letzte Hemd ausgezogen, um dieses, pardon, scheiß Reihenhaus zu kaufen, um das es ging. Und diese stehen jetzt da und sagen: Wärmewende? Dann verliere ich mein Haus! Und sagen JA zur AfD, weil sie sagt: Ich habe eine Lösung. Wir ignorieren das einfach alles und machen weiter wie bisher.
Die CSU sei zu links, sagen sie ...
Weitermachen ist - und das ist das Dramatische an der ganzen Geschichte - rechtsnormal. Ohne eine entschiedene Veränderung geht das Land den Bach runter. Und der Sprung vom "Ich will keine Veränderung" hin zu "die Grünen" hin zu "die Flüchtlinge" hin zu "die EU" ist dank der AfD klitzeklein geworden. Im rechtsnormalen Sprachgebrauch ist alles miteinander vermengt. Aber alles zahlt auf einen Systemumsturz ein. Ich wette die allermeisten, die im Sommer 2023 sagen (wie mir in München kürzlich ein gut situierter Handelsvertreter), dass "die CSU zu links sei mittlerweile" (auch hier ging es um Besitzstandswahrung und links ist jeglicher Eingriff des Staates, der das hartverdiente Geld wegnimmt) wissen das nicht. Deshalb müssen wir auch in den kleinen Dingen widersprechen. Auch wenn es mühsam ist. Aber zu vieles von dem, was gerade geschieht, nehmen wir hin. Auch ich damals in der Sauna: bin einfach weggegangen. Die Nazis zogen ihre Stärke aus kopflosen Konservativen (Obacht!), willfähriger Kommunistenhetze (was einige als Kampf gegen die Woken von heute sehen), aus Mitläufern, politisch vagen Leuten und Angsthasen. Wir sind näher dran, als ich es mir je hätte ausdenken könnten.
Seit mir das klar ist, habe ich ein Lautbleibeabkommen geschlossen mit der Demokratie. Der Begriff geht zurück auf das Stillhalteabkommen von Haldenwang, die Wahl der Europaabgeordneten der AfD nicht mit seinen kritischen Kommentaren zu torpediern. Ich bin mir nicht sicher, ob das die richtige Entscheidung war. Und glaube, dass wenn ALLE, die NICHT so denken, den MUND aufmachen im Großen und Kleinen, wir diese Partei wieder unter 10% kriegen könnten.
#lautbleibeabekommen - machen Sie mit! Rechtsnormal ist nicht normal.
Postscriptum
Klar, der Text überholt sich selbst. Hubert Aiwangers Aktion, Reaktion und unser diffuser Umgang damit dehnt das Problem des Rechtsnormalen weiter aus. Ich habe dazu zwei wesentliche Positionen als Kommentare zu Beiträgen auf LinkedIn verfasst, die ich hier wiederholen möchte.
Zur Frage, warum ich grundsätzliche Wachsamkeit für geboten halte:
"Ich frage mich gerade, ob wir einem grundsätzlichen Problem auf die Schliche kommen. Ich kenne das Schindlers-Liste-Gefühl. Ich setze mich seither regelmäßig diesem Gefühl aus, weil ich bei diesem Film gemerkt habe, wie stark diese Selbstkonfrontation mit dem absolut Bösen nachwirkt. Als Menschen müssen wir uns gegenüber wachsam sein. Das beginnt im Kleinen, kann aber monströs enden. In der Relativierung von Aiwangers Tat(en) versteckt sich mE der Hinweis, dass diese Personen a) sich eben nicht bis zur Schmerzgrenze mit der deutschen Schuld auseinander gesetzt haben, und dann ist der Schritt zu denen, die dieses Wort hassen, nicht mehr ganz so weit. Und b) ein ganz grundsätzliches Verständnis von Werten, das nicht durch Selbstkonfrontation mit der prinzipiellen A*haftigkeit des Menschen geschliffen wurde. Deshalb kommen dann an so vielen Debatten zu Gleichberechtigung & Gerechtigkeit die von mir oft als ethisch unterirdisch empfundene Beurteilung. Besessen von der eigenen Perspektive und Bedürftigkeit - immer besser, schlauer als die der anderen. Weil die Leute sich Erkenntnis nie abgelitten haben. (Wach)sam bleiben, wissen, was uns qua Geburt erspart bleibt vs eigene A*haftigkeit anderen unterstellen. Das ist der Graben." (Kommentar im Beitrag von Marc Raschke (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre))
Zur Frage, ob das Verhalten mit 17 noch als Jugendsünde zu gelten habe, antworte ich, was mich damals beschäftigt hat:
"Mit 17? Jugendliebe, ohne Eltern in den Urlaub. Und: [habe m]ich über deutsche Geschichte informiert und mein grundlegendes Wertesystem im Austausch mit anderen, Büchern, Lehrer*innen justiert. Das leitet mich noch heute, in Bezug auf mein Menschenbild etwa oder wofür ich prinzipiell einstehe. Wie laut ich das mache - anderes Thema. Verschiebungen bei den Prioritäten - normal. Aber dieses Flugblatt auch nur mit sich herumtragen, ist so jenseits meiner Wertvorstellung, dass ich mich mit dem Begriff Jugendsünde schwer tue. Ich habe gerade eh eine kleine Sinnkrise, weil ich mehr über das Verharmlosen der Nazizeit im konservativen Spektrum sehe und lese als mir lieb ist. Iwie dachte ich, der antifaschistische Schutzwall sei, egal wie man ihn nun nennt, superstabil. Ich bin da aber vielleicht auch empfindlich, weil ich mich bis heute sehr viel dazu informiere und mir manchmal schaudert vor dem aktuellen stückweisen Verschieben des Denk- und Sagbaren. Das war mir mit 17 übrigens nicht so klar, ich habe mir nach einer Diskussion mit meinem Vater über meinen Opa nur geschworen, dass ich für dieses innere Bollwerk wirklich die Hand ins Feuer legen möchte und nicht so enden. Sich selbst gegenüber wachsam sein, das hab ich mit etwa 17 gelernt!" (Kommentar (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)zum Beitrag von Andrea Halbritter)
Vieles ist ja zur Problematik des deutschen Rechtsseins gesagt worden. Erhellend fand ich dieses Interview mit einem Sozialwissenschaftler aus 2019 bei der ZEIT. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) Der Forscher zeigt, dass politisches Denken in der Regel mehrere Generationen prägt - auch bei der AfD, die eben dort stark sei , wo es früher die NSdAP war ....
Was ich möchte: Die Dinge beim Namen zu nennen. Wer AfD wählt, wählt rechts. Wer nicht wählt, hilft indirekt der AfD. Vor allem aber: Wer die AfD wählt, hilft in der Regel gar nicht sich selbst, denn die Suggestion einer Kleinen-Mann-Partei ist eine Chimäre. Dagegen hilft meines Erachtens nur, jedem Unsinn nachzugehen, den AfD oder, wie ein Aiwanger, Rechtsnormale von sich geben bzw. getan haben.
----
Edit: Sehr lesenswert und ich warte auf sein Buch, das das wohl heißen sollte: "Der Westen - eine Erfindung des Ostens". Denn so ist es nun auch. Insbesondere das fehlende Bewusstsein, dass Staat und Gesellschaft zwei Paar Stiefel sind und das (vergiftete) Geschenk der Freiheit sehe ich auch als Ursache für den jetzigen Schlamassel.
AfD und Ostdeutschland: "Die Ostdeutschen haben wenig Ahnung von Russland" ( (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)t-online.de (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)) (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Abbildung 1: der Tyrann, Michael Mutschler, 2015
Zuerst erschienen in meinem Blog “die Textkultur”: Rechtsnormal - alles ganz normal? – Anja Mutschler - die Kunst der Worte (dietextkultur.de) (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)