Warum wir viel zu lange von “Protest” gesprochen haben
Hallo,
die Landtagswahlen liefen wie erwartet.
Wir sind ernüchtert, ratlos, ängstlich, müde und genervt von den immer gleichen eingeübten Reaktionen aller Politiker:innen. Wir könnten hier noch mehr (vor allem negative) Emotionen auflisten.
Aber das lassen wir lieber und wenden uns wieder unserer Arbeit zu. ⤵️
Heute erklären wir euch, warum wir viel zu lange über “Protestwahl” oder “Denkzettel” gesprochen haben. Diesmal geht es also nicht um ein rechtes oder rechtsextremes Narrativ. Sondern es geht um ein Narrativ, das demokratische Parteien (immer noch!) verwenden, um einen Wahlerfolg der AfD nach dem anderen zu erklären - und sie so weiter stärken. Mehr dazu unten.👇
Aber auch die AfD hat im Zuge der Landtagswahlen einen Klassiker aus der Mottenkiste gekramt: die antidemokratische Erzählung von der “gestohlenen Wahl (Opens in a new window)”. Über die Strategien dahinter haben wir auch schon einmal einen Newsletter geschrieben.
Das Narrativ taucht aktuell wieder auf. Dieses Mal gibt es aber einen konkreten Grund: Das vorläufige Ergebnis der Landtagswahl in Sachsen wurde nachträglich verändert. Aufgrund eines Softwarefehlers sei zunächst eine “falsche Sitzzuteilung” veröffentlicht worden.
👉Die Konsequenz: Die AfD verlor einen sicher geglaubten Sitz im Kabinett. Und einen entscheidenen dazu, er hätte der Partei ein Drittel aller Sitze, die Sperrminorität (Opens in a new window) und damit große politische Blockademacht gegeben.
Laut dem Cemas (Center for Monitoring, Analyse und Strategie) wird diese Sitz-Korrektur nun zum “Manipulationsversuch durch eine angebliche Elite umgedeutet (Opens in a new window)”. Cemas schreibt: “Mit der Falschbehauptung manipulierter Wahlergebnisse werden freie und demokratische Wahlen als einer der Grundpfeiler der liberalen Demokratie in Zweifel gezogen. Solche Behauptungen zahlen auch auf das langfristige Ziel von Desinformation ein: die Destabilisierung demokratischer Gesellschaften.”
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Die Erzählung von der “Protestwahl”
2017 zog die AfD in den Bundestag ein. Da hatte die 2013 als eurokritisch gegründete Protestpartei bereits einen heftigen Drift hin zum Rechtspopulismus vollzogen.
Der Politologe Frank Decker schrieb daüber für die Bundeszentrale für politische Bildung (Opens in a new window): “Begünstigt wurde der Rechtsruck durch die erfolgreich verlaufenen Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Spätsommer 2014, die die dortigen Landesverbände als Bestätigung ihrer Linie auffassten, den wirtschaftsliberalen Kurs zugunsten einer breiteren rechtspopulistischen Plattform zu überwinden.”
Vor allem Björn Höcke attackierte damals den gemäßigten Kurs der Partei.
Das ist zehn Jahre her.
Wir haben den Newsletter mit dieser Analyse Deckers begonnen, weil sie erahnen lässt, wie sehr Björn Höckes aktueller Sieg in Thüringen den künftigen Kurs der Bundespartei beeinflussen dürfte.
Einmal in aller Klarheit: Mit der AfD in Thüringen hat erstmals eine rechtsextreme Partei in Deutschland seit dem Ende des Nationalsozialismus eine Landtagswahl gewonnen (Opens in a new window). Und das mit einem Politiker an der Spitze, der laut AfD-Experte Andreas Kemper eindeutig “eine faschistische Ideologie verfolgt (Opens in a new window)”.
Es gibt aber einen großen Unterschied zwischen den Wahlen damals und heute. Damals zeigten Untersuchungen (Opens in a new window), dass AfD-Wähler:innen die Partei nicht mehrheitlich für ihre Inhalte und Positionen gewählt hat. Ihre Stimme sollte vielmehr als “Denkzettel” für die etablierten Parteien verstanden werden oder “aus Enttäuschung über deren Politik”.
Dieses Narrativ übernahmen damals viele politische Kommentator:innen. Die Zeit nannte die AfD beispielsweise “Protestpartei Nummer eins (Opens in a new window)”, auch die FAZ schrieb von der “Protestpartei AfD (Opens in a new window)”, ebenso die Welt (Opens in a new window) und viele weitere.
Die Erzählung der AfD-Protestwahl hat sich über die Jahre gesellschaftlich verfestigt.
Wie sehr, das zeigt eine Statistik (Opens in a new window) der Forschungsgruppe Wahlen, die das ZDF nach der Europawahl im Juni veröffentlicht hat. In dem Text steht, dass 66 Prozent aller Befragten glauben, “dass die AfD-Wählerinnen und -Wähler den anderen Parteien einen Denkzettel verpassen wollten”.
Nur stimmt das überhaupt nicht mit den Beweggründen der AfD-Wähler:innen überein. Die sagten zu 70 Prozent, dass sie die Partei wegen ihrer Politik wählen würden.
Das heißt die Mehrheit der Menschen glaubt, die AfD werde aus Protest gewählt. In Wahrheit sagen AfD-Wähler:innen selbst, dass stimme nicht, sie würden die Partei vie eher wegen ihrer Politik wählen.
👉 Und das ist ein großes Problem: Viel zu lange wurde die AfD-Wahl massiv verharmlost und zum bloßen Protest umgedeutet.
Warum aber haben sich nicht nur Wähler:innen, sondern auch Politiker:innen der etablierten Parteien so lange erzählt, dass die AfD vor allem aus Protest gewählt werde?
Dafür gibt es nachvollziehbare Gründe.
👉👈 Das Protest-Narrativ verschiebt Verantwortung
Wenn Politiker:innen sagen, dass die AfD aus Protest gewählt wird, dann schieben sie damit die Verantwortung anderen in die Schuhe.
Nach der Europawahl, bei der die AfD stark dazugewonnen hatte, sagte beispielsweise Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU): “Die Europawahl ist eine Protestwahl gewesen (Opens in a new window).” Und das, obwohl die Ergebnisse der Forschungsgruppen Wahlen da schon längst bekannt und öffentlich diskutiert wurden.
Unbeirrt aber führte Kretschmer damals aus, dass es “kein guter Politikstil” sei, “zentrale Fragen beiseite liegenzulassen und keiner Lösung zuzuführen”. Sein Ziel war also sehr wahrscheinlich, die Verantwortung für den Stimmenzuwachs der AfD der “Ampel und ihrer Migrations- und Energiepolitik” zuzuschieben. Denn die sei schlecht gewesen.
Wenn Politiker:innen davon sprechen, dass die AfD aus Protest gewählt werde, dann ist das oft eine strategische Erzählung. Im Juni wollte Kretschmer damit vermutlich seine CDU in ein besseres Licht rücken und die Verantwortung für den Erfolg der AfD im Versagen von Grünen, SPD und FDP suchen. Und nicht bei sich selbst, der ja auch politische Verantwortung in einem Bundesland trägt, in dem die AfD bei der Europawahl mit Abstand an erster Stelle stand (Opens in a new window) und nun nur knapp hinter der CDU zweitstärkste Kraft bei den Landtagswahlen geworden ist.
Es geht aber nicht nur darum, die eigene Partei zu profilieren. Eine andere Interpretation ist, dass für viele Politiker:innen das Protestwahl-Narrativ schlicht angenehmer ist als die Wahrheit: Sie müssen sich dann nicht mit den echten Motiven der Wähler:innen auseinandersetzen - dass sie in manchen Regionen Deutschlands einer gesichert rechtsextremen Partei ihre Stimme geben WOLLEN.
Auch deshalb warnen seit Jahren Expert:innen vor der Erzählung “Protestwahl”.
Einer ist der Soziologe Wilhelm Heitmeyer. Er wirft vielen etablierten Politiker:innen vor, sich nur selbst beruhigen zu wollen.
In der Taz sagt er (Opens in a new window): “Der Begriff Protestwähler oder Protestpartei ist eine Selbstberuhigungsformel. Darin steckt: Wenn wir uns nur Mühe geben und vielleicht die Renten erhöhen, kommen die alle zurück. Das ist eine Fehleinschätzung.”
Auch im Handelsblatt (Opens in a new window) wurde Heitmeyer zu dem Thema befragt. Dort ergänzt er, dass er den Begriff der Protestwahl für komplett verharmlosend halte: “Die Vorstellung, die [an die AfD - Anm. d. Red.] verloren gegangenen Wähler kämen zurück, wenn man kurz mal die Begriffe der Rechten übernimmt, ist irrig. Jene Mentalitäten, die die Menschen dazu bringen, AfD zu wählen, existierten schon lange vor ihrer Gründung, waren aber parteipolitisch ungebunden. Nun haben sie eine feste Anschlussstelle.”
Das führt zum nächsten Punkt.
🎁 Verschleierung der Ideologie
Die Mehrheit wählt die AfD aktuell nicht trotz, sondern wegen ihrer radikalen Positionen. Sie als Protestwähler:innen zu bezeichnen, verschleiert nur ihre Überzeugungen und “verniedlicht menschenfeindliche Positionen (Opens in a new window)”.
So fasst Pia Lamberty (Opens in a new window) zusammen, dass zahlreiche Umfragen und Untersuchungen schon lange zu dem Ergebnis kommen, dass fast jede dritte Person, die die AfD wählen würde, ein geschlossen rechtsextremes Weltbild zeige und beinahe 60 Prozent mindestens latent rechtsextreme Einstellungen besitzen würden und bereits im vergangenen Sommer 77 Prozent der AfD-Anhänger:innen sagten, dass die Partei “ihren persönlichen politischen Grundvorstellungen sehr/eher nahe” stehe.
Und der Politologe Marcel Lewandowsky (Opens in a new window) schrieb im vergangenen Jahr, dass Wähler:innen der AfD “in doppelter Hinsicht eine relativ geschlossene Gruppe” bilden würden: Sie stünden einerseits sehr weit rechts und seien andererseits am stärksten populistisch eingestellt - sie teilten das “illiberale Demokratie- und Gesellschaftsverständnis” der Partei. Das ist laut Lewandowsky der Grund, “warum sie für die anderen Parteien so schwer erreichbar sind”. Sie hätten daher eine sehr geringe Wechselbereitschaft.
👉 Und diese Konsequenz karikiert die “Selbstberuhigungsformel” der Protestwahl, weil sie eben genau das ausschließt: Dass AfD-Wähler:innen beim nächsten Mal eine ganz andere Partei wählen könnten.
🐑🐺🐑 Der neurechte Plan geht auf: Etablierung auf dem Parteienspektrum
Die Protestwahl-Erzählung kommt aber nicht nur von außen, sie wurde auch eine Zeit lang aktiv von der AfD selbst bedient.
So hieß es immer wieder, dass die “Bürgerinnen und Bürger ihren Protest auf die AfD übertragen und sie daraus ihre Kraft beziehen” würde - Alexander Gauland (Opens in a new window) und Tino Chrupalla (Opens in a new window) sagten das beispielsweise.
Das hat einen guten Grund: Protest ist in einem demokratischen System ein legitimes Mittel, die Versammlungsfreiheit deshalb im Grundgesetz garantiert. Demonstrieren und Protestieren ist überaus positiv besetzt. Der Blick auf die AfD als Protestpartei hat deshalb auch ihre Etablierung mit ermöglicht, hat sie anschlussfähig gemacht.
Und das, obwohl sie sich in den vergangenen Jahren radikalisiert hat - unter dem Deckmantel eines demokratisch erwünschten Handelns ist sie immer weiter nach rechts gerückt, ist mittlerweile in Teilen verfassungsfeindlich. Besonders die Landesverbände, die am erfolgreichsten sind, wie in Thüringen und Sachsen.
Das feiern auch Neurechte als Sieg. In einem Text im neurechten Blog Sezession heißt es nach der EU-Wahl, dass die Protestwählerthese schon lange nicht mehr haltbar sei, weil “die AfD Schritt für Schritt ein eigenständiges Milieu [bildet], welches die Existenz der Partei im demokratischen Spektrum rechts der Mitte als normal voraussetzt und zugleich vor medialer Diffamierung und gegnerischen Kampagnen immunisiert ist.”
Weiter heißt es dort, dass es die AfD geschafft habe, dass es 82 Prozent der Anhänger:innen egal sei, ob die Partei “in Teilen als rechtsextrem” gelte - solange sie die richtigen Themen anspreche.
Die gleiche Frage wurde auch jetzt wieder bei den Landtagswahl gestellt. Und das Ergebnis: Es sind noch fünf Prozent dazugekommen. In Thüringen sagen 87 Prozent der AfD-Wähler:innen, dass es ihnen egal ist, dass die Partei in Teilen als rechtsextrem gilt.
Und nur 16 Prozent der AfD-Wähler:innen in Thüringen sagt, dass ihnen Björn Höcke “zu nahe an rechtsextremen Positionen sei” oder die Demokratie und der Rechtsstaat “mit ihm als Ministerpräsident” in Gefahr wäre.
Und das ist vermutlich das Ergebnis, das am meisten Sorgen bereiten sollte.
👉 Nicht nur hat die AfD sehr viele Stimmen etablierter Parteien eingesammelt - nein, das Label “rechtsextrem“ ist für diese Menschen kein Tabu mehr, sondern sogar Motivation.
📖 Es geht um alles!
Zum Schluss wollen wir unsere Arbeit der vergangenen Wochen, in der wir uns sehr genau mit einzelnen Inhalten der Thüringer AfD für den Wahlkampf beschäftigt haben, ein wenig schmälern.
Oder vielleicht besser: Wir wollen sie um eine Einordnung des Rechtsextremismusforschers Matthias Quent ergänzen, die wir sehr spannend fanden. Quent hat kürzlich geschrieben (Opens in a new window), dass es vielen AfD-Wähler:innen nicht so sehr um Details im politischen Programm der Partei geht:
“AfD wählen ist für einen Großteil der Wählerschaft längst der Kampf ums Ganze - die einzig mögliche Rettung vor dem Untergang Deutschlands, wie die Partei immer wieder emotionalisierend erklärt.” Es gehe im großen Kampf um die Verteidigung deutscher, patriarchaler und weißer Privilegien im Allgemeinen und der trotzigen Selbstbehauptung der Besonderheiten des Ostens wird die Klassenfrage der Imagination des Kollektivistischen untergeordnet.
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