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Treten Sie näher an ihr digitales Endgerät – die neue Treibhauspost ist da.

Drei Sachen sind letzten Monat passiert: wir haben die zehnte Ausgabe veröffentlicht, über 500 Leser°innen haben uns abonniert und Karl Lauterbach hat uns retweetet. Weiter geht’s.

Falls du es noch nicht getan hast: 

#11 Interview

Warum es sich lohnt, für jedes Zehntelgrad zu kämpfen

Prof. Dr. Wolfgang Lucht ist Klimawissenschaftler und einer der meistzitierten Forscher der Welt. Im Treibhauspost-Interview macht er deutlich, dass wir es uns nicht mehr leisten können, die Wissenschaft zu ignorieren. ~ 8 Minuten Lesezeit

Wie geht jemand mit der Klimakrise um, der sie nicht nur bis ins Detail versteht, sondern sogar vorhersagen kann? Prof. Dr. Wolfgang Lucht ist Erdsystemforscher und Abteilungsleiter beim Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). In seinen Modellen kann er jeden Tag die verheerenden Folgen von Erderwärmung und Umweltzerstörung beobachten.

Wenn er nicht gerade die Bundesregierung berät oder bei IPCC-Reports mitschreibt, gibt er Interviews für den SPIEGEL oder das ZDF – und heute in der Treibhauspost.

Ein Gespräch mit jemandem, der in die Zukunft gucken kann. 

Herzlich Willkommen, Wolfgang Lucht. Bei der Klimaforschung deines Instituts führst du die Regie. Ist die Klimakrise für dich eher Horrorfilm, Krimi oder Komödie mit verdammt schwarzem Humor?

Dieser Film, der ja die reale Geschichte unserer Zeit wird, entwickelt sich noch: es kann ein apokalyptischer Film über die Dummheit daraus werden, aber auch ein Film über Rettung in letzter Minute. Ein Krimi ist es auch, denn die Geschichte ist auch eine der Verhinderung, der Täuschung und der Falschinformation.

Der bisherige Verlauf geht mir jedenfalls zunehmend auf sehr unangenehme Weise an die Substanz. Ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll. Es geht durch Herz und Niere bis in die Knochen. Es wird immer sichtbarer, dass wirklich passiert, was wir prognostiziert haben. Vor 20 Jahren mussten wir noch Überzeugungsarbeit leisten, dass der Klimawandel menschengemacht ist.

Aber jetzt sehen wir, dass die Folgen, von denen wir Wissenschaftler immer gesprochen haben, tatsächlich eintreten. Und plötzlich denkt man: Das wird jetzt wirklich real, die große Wende des Plots kommt nicht. Das zieht einem die Schuhe aus. Vor allem weil wir wissen, dass wir erst am Anfang stehen.

"Es geht immer wieder darum, auch in den schwierigsten Lagen für das zu kämpfen, was richtig ist"

Also doch ein Horrorfilm mit Überlänge?

Die Geschichte bleibt ja nicht stehen. Es geht immer wieder darum, auch in den schwierigsten Lagen für das zu kämpfen, was richtig ist und auf das zu setzen, was uns ausmacht: Menschlichkeit, Klugheit, Zusammenarbeit, Offenheit. Manchmal hilft dabei sogar schwarzer Humor, um nicht verrückt zu werden. Ich bin von Natur aus ein großer Optimist, aber mittlerweile fällt es mir immer schwerer, das Lächeln zu bewahren. 

"Was wir prognostiziert haben, passiert wirklich."

Es ist nicht mehr so leicht, denjenigen mit der nötigen Toleranz und Geduld zu begegnen, die noch immer alles besser wissen, obwohl sie falsch liegen. Manche spielen sich als Kämpfer für Freiheit und Selbstbestimmung auf, verharmlosen dabei aber komplett die Gefahren, die durch die Zerstörung der ökologischen Grundlagen genau diese Freiheiten gefährden. Wie spricht man mit diesen Menschen? Das ist ein ungelöstes Problem für mich.

Wie bist du dazu gekommen, Erdsystemforscher zu werden? Eher aus Liebe zum Klima oder aus Liebe zu Klimamodellen?

Ich habe mich schon immer sehr dafür interessiert, auf was für einem Planeten wir eigentlich leben: seine Tiere, seine Landschaften, seine Geschichte und unsere Geschichte. 

"Marie Curie war mein Vorbild."

Später wollte ich das ganz Große und das ganz Kleine verstehen, den Bau der Atome und den Bau des Universums. Deswegen habe ich dann Physik studiert. Marie Curie war mein Vorbild mit ihrer Klugheit und ihrer Menschlichkeit. Meine Diplomarbeit schrieb ich dann über den Aufbau und die Entwicklung von Galaxien.

Meine eigentliche Arbeit sollte dann konkreter, relevanter werden. Ich wollte wissen: Was ist das für eine planetare Welt, in der ich lebe, die ich in meiner kurzen Lebenszeit wahrnehmen darf?

Du hast dich als Student in einer örtlichen Friedensgruppe gegen einen Atomkrieg stark gemacht. Würdest du dich heute als junger Mensch bei Fridays for Future engagieren?

Na klar, ich bin schon früh auf Fridays-Demonstrationen gewesen und habe gelegentlich auf deren Einladung dort auch schon gesprochen für Scientists for Future. Bei denen war ich fast von Anfang an mit dabei. Unsere Hauptbotschaft ist: Die Forderungen der jungen Leute sind aus wissenschaftlicher Sicht berechtigt. 

Wir finden ihren Protest wichtig und unterstützen ihn daher mit unserem Fachwissen. Die Schüler°innen wissen nämlich meistens besser Bescheid als die Erwachsenen, sie nutzen das Internet, um sich zu informieren. Es gibt auch zahlreiche Kontakte zwischen den jungen Menschen und uns Wissenschafterler°innen, bei denen es um Beratung und fachliche Überprüfungen geht.

Die Wissenschaft berät seit Jahren zum Klimawandel, wir haben auf sehr vielen Wegen unser Wissen und unsere Warnungen in die Öffentlichkeit getragen. Das hat ja auch zum Klimaabkommen von Paris geführt. Aber die Fridays for Future-Bewegung hat als soziale Bewegung einen enorm großen Effekt auf die Politik gehabt, den es zuvor nie gab und der wirklich entscheidend war und ist.

Die Scientists For Future wurden 2019 ins Leben gerufen. Du warst einer der allerersten, die mit dabei waren.

Ja, das war verrückt. Gregor Hagedorn, der S4F mit einigen Mitstreiter°innen gegründet hat, kontaktierte mich mit der Idee, zweitausend Unterschriften für ein Statement der Wissenschaft zu sammeln. Ich dachte, dass ich sehr beeindruckt wäre, wenn es einige hundert werden. Am Ende wurden es fast 27.000. Das war ein großer und wichtiger Erfolg. 

Es gibt aber auch einige, die bei solchen Dingen nicht mitmachen wollen, weil sie finden, dass die Wissenschaft sich heraushalten muss. Das ist aber ein Missverständnis.

Die Forderungen der jungen Leute sind für Scientists for Future aus wissenschaftlicher Sicht berechtigt.

Polarisiert ihr mit eurem Engagement bei Scientists for Future?

Nein, Polarisierung ist nicht unsere Art und passt nicht zu uns. Uns geht es um Aufklärung. Allerdings gibt’s, wie immer bei solchen Bewegungen, manchmal auch persönliche Angriffe von verschiedenen Seiten: Den einen sind wir zu forsch, den anderen nicht forsch genug. Die einen fürchten um die Stellung der Wissenschaft über den Dingen, die anderen möchten, dass man sich endlich mit zivilem Ungehorsam noch konkreter positioniert.

Einige würden euch lieber auf der Straße als im Rechenzentrum sehen?

Manche sind der Ansicht, dass wir Wissenschaftler°innen zu viel reden, zu wenig bewirken und es jetzt vor allem auf’s Tun ankommt. Das stimmt ja in gewisser Weise auch, wenngleich das enorm unterschätzt, dass ohne uns das ganze Wissen über die Klimakrise gar nicht vorhanden wäre. Wissenschaftliche Einsichten wie die planetaren Belastungsgrenzen haben einen enormen Einfluss auf die politische Diskussion.

"Auch Extinction Rebellion finde ich wichtig."

Ziviler Ungehorsam war in der Geschichte von Bürgerbewegungen und gesellschaftlichem Fortschritt sehr oft extrem wichtig. Für mich als Wissenschaftler ist aber ebenso die Frage wichtig, wie wir die sozialen Bewegungen und die Öffentlichkeit am besten mit Informationen versorgen können. Informationen, die zeigen, dass deren Ungeduld einen sehr guten sachlichen Grund hat, der uns alle betrifft und daher legitim ist. Wer darüber hinaus mehr machen möchte, kann bei einer NGO mitmachen, da gibt es sehr viele und sehr gute, sie sind die Seele des Engagements, sie sind die Träger der Forderungen.

Deswegen finde ich zum Beispiel auch Extinction Rebellion (Opens in a new window) wichtig. Aber man muss die strategische Funktion verschiedener Rollen durchdenken: Es geht um eine breite Koalition von verschiedenen Akteur°innen, nicht darum, dass alle dasselbe machen. Wo also ist meine Zeit am effektivsten eingesetzt? Einige halten diesen Ansatz angesichts der Krise für naiv, aber das sehe ich nicht so.

Du möchtest als Wissenschaftler also politisch unabhängig bleiben?

Natürlich ist auch Wissenschaft ein Produkt der Gesellschaft, der Zeit, der Menschen, die in ihr arbeiten und steht daher unter zahlreichen Einflüssen. Aber es gibt kaum ein anderes Thema, das so systematisch, gründlich und transparent bearbeitet worden ist wie die Klimakrise. Wenn wir unsere Gutachten für die Regierungen schreiben, sind wir darin frei. 

Das ist ein hoher Wert, der viel zur Glaubwürdigkeit der Demonstrationen auf der Straße beiträgt. An diesen nehme ich dann aber auch teil und würde dies auch meinen Kolleg°innen empfehlen, zum Beispiel beim kommenden globalen Klimastreik am 24. September.

Der nächste globale Klimastreik steht diesen Monat an – mit dabei: Scientists for Future.

Falls wir die Klimaziele von Paris – also maximal 1,5 bis 2 °C Erderwärmung – nicht einhalten, könnten wir in einem Zustand landen, den du “Verwüstungsanthropozän” nennst. Was können wir uns darunter vorstellen?

Anthropozän heißt zunächst, dass der Zustand der Erde nicht mehr verstanden werden kann, ohne den Einfluss der Menschen als wichtigen Faktor mitzudenken. Das betrifft natürlich das Klima, aber ebenso die Gestalt der Landoberfläche, die chemischen Eigenschaften der Böden, der Meere, der Sedimente. Gut bekannt ist inzwischen der Begriff „Heißzeit-Erde“, der 2018 geprägt wurde und die Gefahr beschreibt, dass die Erde, wenn wir fahrlässig bleiben, in einen Zustand mit nochmals höheren Temperaturen überwechselt. 

Das spricht aber immer nur das Klima an. Mir geht es aber darum, dass wir gleichzeitig auch die Ökologie unseres Planeten massiv degradieren. Die Biosphäre ist aber nicht nur unser Lebensraum, sondern auch der von allen anderen Lebewesen. Daher nenne ich eine solche Form des Anthropozän, die wir verhindern müssen, das Verwüstungsanthropozän. Im Englischen klingt es vielleicht noch treffender: “Wasteland Anthropocene”.

Erster Suchmaschinen-Treffer für "Wasteland". Mordor lässt grüßen.  

Im Gegensatz dazu steht als Zustand, den wir anstreben sollten, ein stabilisiertes Anthropozän mit einer wieder stabilisierten Erde. Das wird aber kein Zustand sein, den man am besten mit “Bewahren” beschreiben kann. Natürlich ist das Bewahren natürlicher ökologischer Verhältnisse enorm wichtig, wir müssen hier sogar einiges wiederherstellen. 

Aber zehn Milliarden Menschen werden auch in der Zukunft immer einen riesigen Abdruck auf allen Prozessen der Erde hinterlassen. Es wird also auch dann, wenn es gut geht, ein Anthropozän sein, ein von uns Menschen stark mitgestalteter Planet. 

Über den IPCC-Report, der im August erschien, wurde in so gut wie allen Medien berichtet, allerdings nur für wenige Tage. Wie bewertest du die mediale Berichterstattung über die Klimakrise?

Die Ressourcen- und Umweltkrise ist auch eine Gesellschafts- und Politikkrise. Gesellschaft und Politik sehen sich vor Herausforderungen, die sie zur Weiterentwicklung zwingen – und das unter großem Zeitdruck. In diesem Zusammenhang sehe ich aber echte Probleme auch bei den Medien, die mit unserer heutigen Diskussionskultur und mit der Digitalisierung zusammenhängen. Es geht infolge der neuen Medienstrukturen zu häufig um die kurzatmige Jagd nach Klicks. 

In einer aufgeklärten Gesellschaft braucht es aber intellektuelle, auch kulturelle Diskurse, bei denen kluge, längere, eben auch aufklärende Formate eine Rolle spielen. Das ist ja ebenso auch das Problem in der Wirtschaft, wo kurzfristige Gewinnmitnahmen und der nächste Quartalsbericht im Vordergrund stehen. Wir haben also generell ein Problem mit Langfristigkeit und das erfordert eine Weiterentwicklung unseres politischen Systems. 

“Der wichtigste Prozess, der auf die Zukunft unserer Erde einen Einfluss hat, ist das, was in unseren Gehirnen passiert.”

Hinzu kommt die ausgeprägte Neigung von Medien, alles zu oft als eine rein politische Frage zu sehen, bei der man die eine oder andere Meinung haben kann. Auch das erkennt nicht ausreichend die Rolle, die systematisches Wissen als Werkzeug in einer aufgeklärten Gesellschaft spielen sollte.

Hast du eine Idee, wie die Klimakrise in den Medien die Aufmerksamkeit bekommen kann, die sie verdient?

Zum einen hoffe ich, dass gut gemachte und qualitätsvolle neue Formate, die sich nicht an den alten Verlagshäusern und Anstalten orientieren – so wie ihr – ihr Publikum finden werden. Das Internet bietet hier viele Möglichkeiten. Ich hoffe jedenfalls, dass die digitalen Möglichkeiten nicht nur einschränken, sondern auch Raum geben, dass die festgefahrenen Formate Konkurrenz bekommen.

Das zweite ist, dass in Deutschland eine Zeitung wie der “Guardian (Opens in a new window)” fehlt. Also ein starkes Medium, das auf Qualität und Unabhängigkeit setzt, insbesondere auch finanzielle Autonomie. Wenn ich Multimillionär wäre, wäre das wahrscheinlich eines meiner ersten Projekte: eine pan-europäische englischsprachige Qualitäts-Zeitschrift zu initiieren, die sich dann über ein Genossenschaftsmodell selbst trägt und unabhängig bleibt. 

Denn der wichtigste Prozess, der auf die Zukunft unserer Erde einen Einfluss hat, ist das, was in unseren Gehirnen passiert. Und hier muss Europa auch seine Werte sichtbar machen und selbstbewusst der Welt zur Diskussion stellen als unseren Beitrag zum Dialog mit China, Afrika und der arabischen Welt.

Seit einigen Monaten postest du auch aktuelle Studien und klimapolitische Überlegungen auf deinem eigenen Twitter-Account. Nimmst du die Sache mit der medialen Aufmerksamkeit jetzt selbst in die Hand?

Ich nutze Twitter schon lange anonym, um mich über aktuelle Studien und Diskussionen zu informieren. Es gibt ja zwei Twitter, das schlimme, dumpfe Twitter und das engagierte, inhaltsvolle Twitter. Ich hatte aber schon lange überlegt, ob ich nicht endlich auch unter meinem Namen (Opens in a new window) etwas beitragen müsste, obwohl ich nun wirklich genug zu tun habe. 

https://twitter.com/W_Lucht/status/1430468201092198401 (Opens in a new window)

Einen letzten konkreten Anstoß gab dann das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom April. In diesem wurde das bisherige Klimaschutzgesetz als teilweise verfassungswidrig erklärt. Grundlage dafür waren unter anderem Berechnungen zum verbleibenden CO2-Budget, die ich mit dem Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung, gemacht hatte. 

Ich wollte über Twitter die Möglichkeit nutzen, dazu einige Aspekte zu erklären und häufig zu findende Missverständnisse aufzuklären. Eigentlich möchte ich aber zusätzlich zu unserer Forschung und der Klimapolitik vor allem zum Thema des Anthropozän twittern, auch über Geschichte und Literatur. Da bin ich noch nicht ganz.

Du berätst seit 2016 im Sachverständigenrat für Umweltfragen die Bundesregierung. Würdest du sagen eure Arbeit zeigt dort Wirkung?

Es ist natürlich nicht so, dass wir Wissenschaftler sagen “so müsst ihr es machen” und die Politik setzt es dann direkt um. So funktioniert das nicht, aus gutem Grund übrigens. 

"Das Umweltthema hat im Kabinett noch immer keine starke Position."

Die Gutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen sind meiner Meinung nach aber viel einflussreicher, als man denkt. Sie stärken eine Menge inhaltlicher Arbeit mit einer gewissen Autorität den Rücken durch wissenschaftliche Evidenz. Sie fördern den politischen Diskurs mit wissenschaftsbasierten Empfehlungen. 

Im Laufe der Zeit finden diese sich in der Politik und im Gesetzgebungsprozess wieder, die sich natürlich aus vielen Quellen speisen. Das ändert aber nichts daran, dass das Umweltthema im Kabinett noch immer keine allzu starke Position hat und von Wirtschaft, Finanzen, Landwirtschaft und Verkehr regelmäßig geblockt wird. Das wird sich aber, so wäre zu hoffen, nun endlich ändern.

Für alle, die das Interview erst nach dem 26. September lesen: Links sitzt die ehemalige Bundeskanzlerin Deutschlands und hört Wolfgang Lucht zu.

Wenn du dir genau eine Maßnahme aussuchen könntest, die die kommende Bundesregierung auf jeden Fall umsetzen müsste, welche wär’s?

Abgesehen davon, dass die Klimakrise überall von oberster Ebene bis in die Kommunen Priorität erhalten und mit einer Neubelebung der Sozial- bzw. Solidaritätspolitik einhergehen muss, halte ich eine Sache für sehr wichtig. Ich denke, wir sollten ernsthaft über ein Maßstäbe-Gesetz für ökologische Generationengerechtigkeit diskutieren.

Ein was?

Ein Maßstäbe-Gesetz – das weiß kaum jemand, ist aber total spannend. Das Modell hat seinen Ursprung in einem wichtigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1999 in einem ganz anderen Bereich, der Finanzpolitik. Es gibt in der Verfassung eine Bestimmung, dass Bund und Länder ihre Einkünfte in bestimmten Bereichen aufteilen. Es ist aber nicht geregelt, wie dies konkret erfolgen soll, welche Maßstäbe dabei also gelten. 

Das Bundesverfassungsgericht hat dann ein Urteil gefällt, dass es nicht sein kann, dass diese Aufteilung allzu sehr von tagespolitischen Machtkonstellationen abhängt. Also davon, wer gerade im Parlament die Mehrheit hat, da es um grundsätzliche Fragen mit Verfassungsrang geht. Das müsse längerfristig geregelt werden. Das Gericht hat daher die Verabschiedung eines sogenannten Maßstäbegesetzes vorgeschrieben, mit dem der Gesetzgeber sich seine eigenen Maßstäbe gibt und sich damit erstmal selbst bindet. Das ist dann damals auch geschehen. 

In der Umweltfrage trifft aber genau dasselbe zu: Was bedeutet der allgemeine Artikel 20a des Grundgesetzes konkret, dass die natürlichen Lebensgrundlagen auch für die künftigen Generationen geschützt werden müssen? Was sind hierbei die Prinzipien, der Maßstab? Und wie kann man diese Fragen ein Stück weit aus der Kurzfristigkeit der Tagespolitik nehmen, dem Einfluss von Lobbygruppen und Machtkoalitionen entziehen, um nachhaltige Politik für die Zukunft mit zuverlässiger Linie zu machen?

Du möchtest Klima- und Naturschutz also stärker in der Verfassung verankern.

Die Möglichkeit, die damit auf dem Tisch liegt, ist ob wir uns frei und selbstbestimmt ein Maßstäbegesetz ökologische Generationengerechtigkeit geben wollen, das festhält, wie wir Artikel 20a des Grundgesetzes verstehen möchten. 

Das hätte drei wichtige Effekte, die ich für bedeutsam halte. Erstens hätte Politik einen längerfristigen Maßstab im Klima-, Natur-, Gewässer- und Landschaftsschutz. Dadurch könnte man langfristig rechtlich verankern, dass Investitionen von Bund und Ländern bestimmten Nachhaltigkeitskriterien entsprechen müssen. Zweitens könnte man, da es sich um ein Gesetz handelt, das der Gesetzgeber frei beschlossen hat, auf Einhaltung klagen. Und drittens könnte ein solches Gesetz den Maßstab dafür liefern, wie Kontrollgremien schon im Gesetzgebungsverfahren auf Einhaltung dieser Maßstäbe prüfen könnten, so dass es nicht immer nachträglich über die Gerichte gehen muss. Hier hatte der Sachverständigenrat für Umweltfragen einen “Rat für Generationengerechtigkeit” vorgeschlagen, der bei Bedenken im Bundestag weitere Debatten bewirken könnte, ohne die Autonomie des Parlaments zu gefährden. Das wäre eine konsequente Weiterentwicklung der Demokratie und unseres Rechtsstaats für das 21. Jahrhundert.

Kommen wir zu deinem Daily Business. Womit beschäftigst du dich jeden Tag?

Ich bin zunächst einmal Abteilungsleiter am PIK, einem außeruniversitären Forschungsinstitut in öffentlicher Hand. Dort ist unser Thema die Erdsystemforschung. Mit meinen Arbeitsgruppen erforsche ich vor allem die Biogeochemie der Biosphäre. Wir betreiben ein weltweit führendes globales Biosphärenmodell “LPJmL”. Wir simulieren damit auf unserem Hochleistungsrechner die Kreisläufe der globalen Landoberfläche von Kohlenstoff, Stickstoff und Wasser. Die Struktur und Entwicklung der Vegetation wird berechnet, ebenso die Landwirtschaft. 

Das Modell hilft uns zu verstehen, was im Klimawandel mit der Pflanzendecke der Erde passiert, wie die sich noch immer ausweitende Landnutzung das Erdsystem beeinflusst und wie sich bald zehn Milliarden Menschen innerhalb der planetaren Grenzen ernähren könnten. In anderen Teilen der Abteilung untersuchen wir aber auch Themen wie das Klima der Vergangenheit, extreme Wetterereignisse, die Eismassen der Erde und die Strömungen des Ozeans. Zusätzlich bin ich noch Professor für Nachhaltigkeitswissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin.

Aber mal ganz konkret. Wie sah dein Arbeitstag heute aus?

Es standen wie jeden Tag mehrere Videobesprechungen an, denn wir arbeiten noch immer viel im Home Office, übrigens sehr erfolgreich. Ein wichtiges Thema ist derzeit die neue Earth Commission, eine mittelgroße internationale Kommission aus erstklassigen internationalen Wissenschaftler°innen. Sie soll in Ergänzung des IPCC in verschiedenen Arbeitsgruppen regelmäßig über den Zustand des gesamten Erdsystems, also nicht nur des Klimasystems berichten. Gleichzeitig soll sie Klima und Biodiversität, den Status der Erde und eine Governance für Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit durch wissenschaftsbasierte Ziele zusammenbringen.

Du kannst mit deinen Modellen quasi in die Zukunft gucken. Wie gehst du persönlich mit der Erkenntnis um, dass wir trotz der vielen Warnungen auf ein Kippen vieler Erdsysteme zusteuern?

Ich versuche meiner Verantwortung als Wissenschaftler gerecht zu werden, so gut ich das kann. Indem ich Beiträge leiste, die ich wichtig finde. Ansonsten bin ich auch ein bisschen der Geschichte ergeben, die ja nie aufhört und in der jede°r von uns auch nur eine einzelne Stimme ist. Auch wenn einige mehr Einfluss auf den Gang der Dinge haben als andere. 

Es ist nüchtern betrachtet vermutlich nicht unwahrscheinlich, dass wir trotz allem am Ende in irgendeiner Version des Verwüstungsanthropozän landen. Aber solange das nicht Fakt ist, will ich dafür kämpfen, dass es doch nicht so kommt und dass so viel bewahrt oder sogar wiederhergestellt wird, wie möglich. Denn die Geschichte hat auch immer wieder Revolutionen, Überraschungen und Wenden erlebt. Jede gerettete Tierart, jede mit mehr Augenmaß entwickelte Landschaft, jedes geschützte Stück Natur und jedes Zehntelgrad Erderhitzung, das vermieden wurde, sind es wert, sich mit aller Kraft dafür einzusetzen. 

Denn das große Erbe der Evolution sind all die Lebewesen, die nicht wiederkommen werden, wenn sie einmal verschwunden sind. Lebewesen, die unsere Welt bedeutungsvoll machen, unsere Landschaften schaffen, unseren einzigen Lebensraum zu dem machen, was er für uns ist. Diejenigen, die vor allem darunter leiden werden, wenn das alles enorm degradiert wird, sind wir selber.

“Jedes Zehntelgrad Erderhitzung, das vermieden wurde, ist es wert, sich mit aller Kraft dafür einzusetzen.”

Hast du zum Abschluss noch eine Sache, die dir persönlich Hoffnung gibt, bei den ganzen Herausforderungen, die vor uns liegen?

Es klingt jetzt vielleicht etwas pathetisch, aber auch in den dunkelsten Zeiten muss man die Bereiche des Lichts verteidigen, also die Bezirke des Lebens und der Mitmenschlichkeit. Wir kolonisieren in enormem Ausmaß die Erde und andere Menschen, aber wir kolonisieren auch die Zukunft. Wir müssen also darüber nachdenken, wie wir uns dekolonisieren.

Konkret hoffe ich, dass eine junge Generation auch international diese Veränderung einfordert. Ich wünsche mir, dass durch die neuen sozialen Bewegungen verstanden wird, dass das 20. Jahrhundert endgültig vorbei ist und wir neue Wege finden müssen. Denn ökologische Verluste sind meist nicht umkehrbar. Es stehen eine Menge an Möglichkeiten zur Verfügung, hier weiterzukommen, die wir nur aufgreifen müssten. Das sind aber oftmals nicht die Rezepte, die in der Vergangenheit erfolgreich waren, da muss man neu denken.

Wir brauchen jedenfalls für die Zukunft jede Menge Kreativität, Leidenschaft und Klugheit. Und wir können es uns nicht mehr leisten, die Wissenschaft von der Erde zu ignorieren. 

Wenn Du uns unterstützen willst, kannst Du eine von drei Sachen tun:

Schönes Wochenende
Julien

📸 Bildrechte:

1) Peter Himsel
2) Franziska Lucht
3) fridaysforfuture.de
4) CC 4.0 Budhiargomiko
5) PIK Juni 2019
6) Markus Wächter

Topic Forschung

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