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Sie sind das vielleicht unterschätzteste Werkzeug im Kampf gegen die Klimakrise: soziale Kipppunkte. Wie können wir sie triggern?

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#48 #Gesellschaft #Wandel

Sechs soziale Kipppunkte für Klimagerechtigkeit

Das Triggern von sozialen Kipppunkten gibt Hoffnung in der Klimakrise. In diesen sechs Bereichen könnte plötzlich alles ganz schnell gehen. ~ 7 Minuten Lesezeit

Am 1. Dezember 1955 passierte in Montgomery im US-Bundesstaat Alabama etwas, das die bestehende soziale Ordnung gehörig ins Wanken brachte: Eine Frau stieg in einen Bus, setzte sich – und stand nicht mehr auf. Auch dann nicht, als ein anderer Fahrgast sich auf ihren Platz setzen wollte. Die Frau hieß Rosa Parks und laut damaligen Gesetzen hätte sie dem Fahrgast den Platz überlassen müssen, denn er hatte weiße Hautfarbe. 

Ihre Festnahme löste riesiges Aufsehen aus und war Anlass für die schwarze Bevölkerung, sich mit Busboykotten und zivilem Ungehorsam gegen die ungeheure Diskriminierung zu wehren. Die Bürgerrechtsbewegung, die schließlich zur Abschaffung der Jim-Crow-Gesetze und zu großen Erfolgen für die Gleichberechtigung führte, war geboren. Alles, was es brauchte, war ein ausreichend großer Teil der Bevölkerung, die Gerechtigkeit wollte – und eine mutige Frau.

Was damals passierte, war ein sozialer Kippprozess. Wo jahrelang gesetzlich festgeschriebene Diskriminierung herrschte, wuchs der Unmut unter der schwarzen Bevölkerung, trotzdem änderte sich erstmal: nichts. Als aber dann Rosa Parks festgenommen und vor Gericht gestellt wurde, kippte die vorherrschende Ordnung und es setzte ein abrupter und schneller Wandel ein.

Was können wir daraus fürs Klima lernen? Erstmal vielleicht, dass ziviler Ungehorsam ganz cool sein kann. Aber auch: dass Menschen systemische Barrieren, die gesellschaftlichen Wandel blockieren, aktiv niederreißen können. 

Das vielleicht mächtigste Werkzeug, das uns dafür zur Verfügung steht, ist das Triggern sozialer Kipppunkte.

Sechs Kipppunkte für Klimagerechtigkeit

Das Konzept der Kipppunkte ist Dir vielleicht schon mal begegnet. Es wird häufig im Klimakontext diskutiert, meistens geht es dabei aber um die physikalischen Kipppunkte im Erdsystem. Solche Punkte gibt es zum Beispiel im Amazonas-Regenwald, in verschiedenen Eisschilden oder im Permafrostboden. Ab einem gewissen Grad an Erwärmung werden diese Punkte überschritten, woraufhin ein abrupter und meist unaufhaltsamer Prozess der Veränderung ausgelöst wird: Eisschilde und Gletscher schmelzen ab, der Regenwald wird zur Steppe.

Kipppunkte können also gehöriges Horror-Material liefern. Sie können aber auch das genaue Gegenteil sein: der Schlüssel zur Klima-Utopie. Kipppunkte gibt es nämlich auch in sozialen Systemen, sie funktionieren sehr ähnlich. Bringen wir soziale Systeme zum Kippen, kann auf dem Weg zur klimagerechten Gesellschaft plötzlich alles ganz schnell gehen.

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Soziale Kipppunkte können wir aktiv triggern. Das bedeutet nichts anderes, als in einem System Bedingungen zu schaffen, die ein Kippen möglich machen. Ein Beispiel für solche Triggermaßnahmen sind Subventionen für Erneuerbare Energien, wie sie etwa mit dem deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetz eingeführt wurden. Richtig eingesetzt können solche Maßnahmen erhebliche Systemreaktionen hervorrufen, also etwa sich selbst verstärkendes Marktwachstum für Solar- und Windenergie und exponentielle Kostensenkung.

Je nachdem, um welches System es sich handelt, kann das Triggern unterschiedlich lange dauern. Das Finanzsystem etwa ist extrem schnelllebig. Viel länger hat es dagegen wohl gedauert, bis die Bevölkerung in ihrem Wertewandel bereit war für Rosa Parks.

In einer mutmachenden Studie von 2020 (Opens in a new window) hat ein Team rund um die Soziologin Ilona Otto soziale Systeme identifiziert, die zum Kippen gebracht werden und so zu einer klimaneutralen Welt bis 2050 beitragen können.

In diesen sechs Bereichen könnte alles auf einmal ganz schnell gehen.

1 – Energie

Kipppunkt: Preis für Erneuerbare niedriger als Preis für Fossile

Mögliche Trigger: Subventionen und dezentrale Energieproduktion

Wichtigste Akteure: Regierungen, Energieminister*innen, Energieproduzent*innen, Bürger*innen

Benötigte Zeit zum Triggern: 10 bis 20 Jahre

In diesem System geht es – klar – um Windräder, um Photovoltaik-Anlagen, aber auch um die Förderung von Energieeffizienz. Der entscheidende Faktor, der beeinflusst werden muss, um in diesem System ein Kippen zu triggern, ist der relative Preis. Getriggert werden kann die Kippdynamik durch zwei Maßnahmen: die Abschaffung von Subventionen für fossile Energien sowie die gleichzeitige Förderung der dezentralen Energieerzeugung.

Das Kippen wird in Gang gesetzt, sobald erneuerbare Energie billiger sind als fossile Energien – und dieser Kipppunkt im Energiesystem steht kurz bevor beziehungsweise ist bereits erreicht: Im Jahr 2021 waren Solar- und Windenergie in den meisten Regionen die günstigsten neuen Energiequellen (Opens in a new window) und machten weltweit mehr als 75 Prozent der gesamten neuen Kapazitäten aus.

💌 Ausgabe #41: „Wir stecken längst in einem fossilen Energiekrieg“ (Opens in a new window)

2 – Gebäude und Infrastruktur

Kipppunkt: Neue Bauprojekte nutzen überwiegend klimaneutrale Technologie

Mögliche Trigger: Städte klimaneutral machen, Vorzeigeprojekte

Wichtigste Akteure: Stadtverwaltungen, Bürger*innen

Benötigte Zeit zum Triggern: 10 Jahre

Der Kipppunkt dieses Systems wird erreicht, sobald klimaneutrale Technologie die erste Wahl für neue Bau- und Infrastrukturprojekte wird. Wie hoch das Einsparpotenzial ist, zeigen die Autor*innen anhand des Beispiels von Brettschichtholz: Nutzt man statt Stahl und Beton dieses Material zu über 80 Prozent für den Bau eines 142-Meter-hohen Wohngebäudes, könnten 50.000 Tonnen CO2-Emissionen vermieden werden. Das entspricht den jährlichen Emissionen von 33.000 Autos. Zudem würde das Holz zusätzlich sogar 21.040 Tonnen CO2 binden.

Ein Triggern der Kippdynamik könnte mit großen Vorzeigeprojekten erreicht werden, etwa mit großen Städten, die sich zu radikaler Klimaneutralität verpflichten. Der Umbau von Städten würde zur schnelleren Verbreitung und zunehmenden Einsatz von klimaneutralen Technologien und Baumaterialien beitragen. Laut einer Fallstudie (Opens in a new window) könnten ambitionierte Pläne für Klimaneutralität in Städten die dortigen Pro-Kopf-Emissionen in 14 Jahren um 32 Prozent senken.

Initiativen wie Energy Cities (Opens in a new window) oder das Transition Town Movement (Opens in a new window) zeigen, wie Bürger*innen den Prozess vorantreiben können. In Berlin ist man zwar noch nicht ganz so weit, aber auch die enorme Mobilisierung rund um den Volksentscheid für eine klimaneutrale Stadt hat gezeigt, wie nahe wir dem Kippen schon sind.

3 – Finanzmarkt 

Kipppunkt: Klimaschädliche Projekte verlieren an Wert

Mögliche Trigger: Investments in klimaschädliche Projekte abziehen

Wichtigste Akteure: Finanzinvestor*innen

Benötigte Zeit zum Triggern: innerhalb von Stunden möglich

Weltweit wird immer noch fleißig in die Zerstörung des Planeten investiert. Aber was, wenn Investor*innen ihr Kapital aus klimaschädlichen Anlagen abziehen? Genau das will die Divestment-Bewegung vorantreiben, die sich nun schon seit über zehn Jahren weltweit ausbreitet. Nur ein Beispiel: In Norwegen (Opens in a new window) wurde bereits beschlossen, dass sich der staatliche Pensionsfonds komplett aus fossilen Investments zurückziehen soll.

Je mehr Anleger*innen sich der Bewegung anschließen, desto stärker verlieren klimaschädliche Assets an Wert – bis das System kippt und die Gewinnung von fossilen Brennstoffen unprofitabel wird. Der Studie zufolge reichen nur neun Prozent der Investor*innen aus, um das Kippen zu triggern.

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4 – Normen und Werte

Kipppunkt: Ein Viertel der Bevölkerung steht für neue Werte ein

Mögliche Trigger: Fossile Energienutzung als unmoralisch benennen

Wichtigste Akteure: Medien, Meinungsführer*innn, Umweltorganisationen, junge Menschen

Benötigte Zeit zum Triggern: 30 bis 40 Jahre

Teilen genug Menschen die Überzeugung, dass das Verbrennen fossiler Brennstoffe unmoralisch ist, können sie das vorherrschende Normen- und Wertesystem einer Gesellschaft transformieren und so das Verhalten der breiten Bevölkerung verändern.

Um soziale Konventionen und etablierte Verhaltensweisen zu ändern, müssen längst nicht alle überzeugt werden, nicht einmal die Mehrheit. Kippen kann das System schon, wenn ein engagiertes Viertel der Bevölkerung für neue Normen und Werte einsteht.

Historische Beispiele, wie etwa die Abschaffung der Sklaverei, zeigen, wie lange sich dieser Prozess hinziehen kann. Die Studienautor*innen gehen im Kontext der Klimakrise von 30 bis 40 Jahren aus – Zeit, die wir nicht mehr haben. Mit Blick auf die Klimabewegung wird allerdings klar, dass der Wertewandel längst im Gange ist.

5 – Bildung

Kipppunkt: Klimakrise umfassender Teil des Lehrplans

Mögliche Trigger: Mehr Klimabildung einführen, gesellschaftliches Engagement

Wichtigste Akteure: Wissenschaftler*innen, Lehrer*innen und Jugend

Benötigte Zeit zum Triggern: 10 bis 20 Jahre

Wer nicht über die Ursachen, Auswirkungen und Lösungen der Klimakrise Bescheid weiß, wird sich kaum für mehr Klimaschutz engagieren. Entwickelt die Mehrheit der Menschen ein starkes Klimabewusstsein, wird uns das also einen Riesenschritt weiterbringen.

Der Hebel, um das zu erreichen, liegt in der Klima-Bildung – und den Kipppunkt in diesem System ist laut den Autor*innen dann erreicht, sobald die Klimakrise ein umfassender Bestandteil des Lehrplans in Schulen und Universitäten ist. Noch sei die Klimakrise viel zu selten und nur in vereinzelten Fächern Thema. Möglicherweise hat eine schwedische Schülerin aber längst einen Kippen in diesem Bereich ausgelöst.

Wie groß das Einsparpotenzial von Klima-Bildung sein kann, zeigen verschiedene Untersuchungen. Eine zweijährige Aufklärungskampagne in Schulen verschiedener italienischer Städte zum Beispiel führte bei den Beteiligten zu einer Reduktion ihrer Pro-Kopf-Emissionen von 7 bis 30 Prozent (Opens in a new window).

6 – Transparenz bei Produkten und Dienstleistungen

Kipppunkt: CO₂-Kennzeichnung bei Mehrheit der Produkte

Mögliche Trigger: Transparente Offenlegung von Emissionen

Wichtigste Akteure: Unternehmen und Regierungen

Benötigte Zeit zum Triggern: Wenige Jahre

Jeden Tag begegnen Dir sicher fünf bis zehn Nährwerttabellen – während Du Dich also schlau lesen kannst, was ein Produkt mit Deinem Körper macht, erfährst Du meist gar nichts über die Auswirkungen auf den Planeten.

Warum Produktverpackungen nicht auch mit „Earth Facts“ versehen? Einige Vorreiterunternehmen haben bereits damit angefangen – zumindest was die CO₂-Emissionen angeht. 

Die Sichtbarmachung von Informationen zur Klimaschädlichkeit von Produkten und Dienstleistungen jedenfalls kann einen sechsten Kippprozess auslösen. Diese Transparenz ist enorm wichtig, um das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu schärfen – was sich wiederum auf Verhaltensweisen sowie das Mittragen von Klimaschutzmaßnahmen auswirkt.

Zur Veranschaulichung was hier möglich ist: Der Markt für Bioprodukte wuchs laut Studie – stimuliert durch die Kennzeichnung auf Produkten – zeitweise mit Raten von über zehn Prozent pro Jahr.

💌 Ausgabe #33: Der Moment, wenn wir uns wieder in die Augen gucken können (Opens in a new window)

Und jetzt?

Das Triggern von sozialen Kipppunkten könnte unser mächtigstes Werkzeug im Kampf gegen die Klimakrise sein. Die kleinen Schritte im Klimaschutz wirken plötzlich nicht mehr so entmutigend, wenn man sich vor Augen hält, dass sozialer Wandel nicht linear stattfindet, sondern plötzlich alles ganz schnell gehen kann. 

Entscheidend dabei ist, dass wir die Kipppunkte beeinflussen können, und mehr noch: ab einem gewissen Punkt reichen kleine Impulse, manchmal von einzelnen Menschen – eine Rosa Parks im Bus oder eine streikende Greta Thunberg –, um nachhaltigen Wandel anzustoßen.

Die vielleicht wichtigste Dynamik bei diesen Kippelementen aber: Die Systeme bestehen nicht isoliert voneinander. Das Kippen im einen System, kann das Kippen im anderen auslösen und schließlich zu einer Kaskade an Veränderungen führen. Entfalten sich mehrere Kippdynamiken zugleich, befördern sie uns vielleicht noch rechtzeitig auf einen Paris-konformen Pfad.

Soziale Kippdynamiken haben das Potenzial, die Emissionskurve ordentlich nach unten zu drücken. 📸: Otto et al. (Opens in a new window)

Die Fridays-Bewegung zum Beispiel, ausgehend vom Bildungssystem, hat das Potenzial Normen und Werte und damit auch das Verhalten von Menschen in kurzer Zeit nachhaltig zu verändern. Das Bewusstsein für die Klimakrise wächst, was wiederum dazu führen könnte, dass die Kennzeichnung von Produkten mit „Earth Facts“ gefordert wird, dass die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas zunehmend stigmatisiert wird, und dass der Support für Klimaschutz-Maßnahmen steigt, einschließlich der Abschaffung von fossilen Subventionen. 

Diese Liste ist übrigens kein ultimativer Masterplan. Vielmehr ist er eine erste Übersicht und ein Leitfaden für die nähere Erforschung von sozialen Kippelementen. Damit wir besser verstehen, wo und wie wir sie am effektivsten auslösen können.

Das nötige Wissen und die Technologien für eine klimaneutrale Welt sind jedenfalls vorhanden. Entscheidend ist jetzt, dass sich der sozial-ökologische Wandel schnell genug vollzieht. Kipppunkte könnten dabei äußerst hilfreich sein.

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Machst Du noch bei unserer kurzen Community-Umfrage mit?

Für wie wichtig hältst Du soziale Kipppunkte für die Stabilisierung des Klimas?

Und hier die Umfrage-Ergebnisse aus unserer letzten Ausgabe (Opens in a new window): Eine große Mehrheit der Treibhauspost-Leser*innen ist dafür, dass die Kirche dazu verpflichtet werden sollte, ihre Investitionen offenzulegen.

Umfrage-Ergebnisse Ausgabe #47

Zum Schluss noch eine kleine Empfehlung: Treibhauspost-Leser Daniel Bartel lädt zum Mitmachen bei „The Week“ ein (online und kostenlos). The Week ist eine Gruppenerfahrung für Freund*innen und Bekannte, die erkennen hilft, was in der Klimakrise auf uns zukommt und was wir tun können. Hier geht's zur Anmeldung (Opens in a new window).

Die nächste Treibhauspost bekommst Du am 6. Mai.

Herzliche Grüße
Manuel

Treibhauspost-Partner

💚 Herzlichen Dank für die Unterstützung an alle Treibhauspost-Partner:

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Topic Gesellschaft

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