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Keine Sorge, auch wenn es der Titel nahelegt, geht es heute nicht ums Oktoberfest.
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#57 #Forschung #Essay #nature-based solutions
Trampeln, Fressen, Kacken
Wir besitzen eine Wunderwaffe gegen die Klimakrise, die bislang völlig unterschätzt wird. Wie Klimaschutz neben Windrädern und Solarpanels noch aussehen kann. Lesezeit: 9 Minuten
Ich habe nie geglaubt, dass Kühe lila sind, und doch muss ich zugeben: Das meiste, was ich über die Tierwelt weiß, kommt nicht aus eigenen Erfahrungen. Mein Wissen wurde mir vor allem über irgendwelche Bücher und Bildschirme zugetragen (ein Glück habe ich der Fernsehwerbung von Milka nie getraut).
Umso krasser war es für mich, als ich mich diesen Sommer endlich mal von den Netflix-Dokus losriss, mich durch den Berliner Betondschungel kämpfte und rausfuhr, raus aus der Stadt und in die Natur. Ich wollte Wisente sehen. Wi… bitte?
Meine Bildschirme hatten mir verraten, dass Wisente Europas größte Säugetiere sind, eine Rinderart, die vor hundert Jahren von uns Menschen fast ausgerottet wurde. Heute sind Wisente auf dem besten Weg, wieder einen stabilen Bestand zu erreichen.
Aber wie ist es, den Tieren in freier Wildbahn zu begegnen? Welche Geräusche machen sie? Wie bewegt sich ihr Fell, wenn sie davontraben? Das konnten mir meine Bildschirme nicht verraten. Ein Besuch im Naturschutzgebiet Döberitzer Heide, wo eine Herde von hundert Wisenten lebt, vielleicht schon. Also fuhr ich hin.
Ökologisch wertvoll und überhaupt nicht lila: Wisente in der Döberitzer Heide. 📸: Peter Nitschke.
Beim Wisent-Projekt in der Döberitzer Heide geht es vor allem um Artenschutz, um das Retten einer einzelnen Tierart. Dachte ich zumindest. Aber mein Ausflug zeigte mir, dass am Überleben von Wisenten noch so viel mehr hängt.
Und mir wurde etwas Mutmachendes klar: Wir Menschen besitzen im Kampf gegen die Klimakrise eine Wunderwaffe. Ein Ass im Ärmel, das nicht nur mit Wisenten zu tun hat.
Klimaschutz mit Fell und Flossen
Unsere Wunderwaffe (ich verrate gleich, worin genau sie besteht) zählt zu den sogenannten „natürlichen Klimalösungen“, im englischen Fachsprech „natural climate solutions“ oder „nature-based solutions“ (NBS) genannt.
Solche NBS sind quasi die unverzichtbare Ergänzung zu technologischen Lösungen wie Solar- und Windkraft. Denn höchste Priorität hat – durch Energie-, Agrar-, Verkehrswende und Co. – Emissionen aus fossilen Energien und Landnutzung auf Null zu bringen.
Für 1,5 Grad brauchen wir aber auch reichlich negative Emissionen. Und hier kommen NBS ins Spiel. Sie zielen darauf ab, intakte Ökosysteme zu bewahren oder wiederherzustellen. Wälder aufforsten, Grasland schützen, Moore wiedervernässen: All das bindet Unmengen an CO₂ – und die Natur wird gleich mit geschützt. Zwei planetare Megakrisen mit einer Klappe, sozusagen.
💌 Ausgabe #25:Die To-Do-Liste zur Rettung des Planeten (Opens in a new window)
In der To-Do-Liste des IPCC zur Rettung des Planeten sind NBS ganz oben mit dabei. Der IPCC zählt sie zu den Top 5 der effektivsten Klimaschutz-Strategien. Daneben haben verschiedene Studien das Potenzial von NBS quantifiziert (einen Überblick gibt’s in diesem Report (Opens in a new window) des UNEP und IUCN in Kapitel 3.2).
Das Ergebnis: Sie könnten rund 30 Prozent zur globalen CO₂-Einsparung beitragen, die bis 2030 für die Einhaltung von 1,5 Grad nötig ist.
Pflanzen, Böden... und das war's?
Und hier kommt das Aber. Der Weltklimarat (IPCC), die Internationale Union zur Bewahrung der Natur (IUCN), der Weltbiodiversitätsrat (IPBES): Alle Institutionen von Bedeutung pochen in ihren Berichten zwar auf naturbasierte Klimalösungen. Sie reden dabei aber vor allem davon, sich Pflanzen und Böden zunutze zu machen. Über unsere Wunderwaffe schweigen sie sich aus.
Fast nirgendwo wird die Bedeutung von Tieren thematisiert – dabei sind sie unser Ass im Ärmel bei der Bekämpfung der Klimakrise. Es geht um ganz bestimmte wildlebende Tiere, sogenannte Schlüsselarten. Das sind Arten, die für das Gleichgewicht von Ökosystemen unerlässliche Funktionen erfüllen – und die einen besonderen Effekt auf den Kohlenstoffkreislauf haben.
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Auch wenn ihre Rolle bislang ziemlich unterschätzt wird, gibt es einige Studien, die diesen Effekt bemessen (frei zugänglich zum Beispiel hier (Opens in a new window) und hier (Opens in a new window)). Erst vor kurzem haben Forscher*innen rund um Yale-Professor Oswald Schmitz ein Paper in Nature Climate Change (Opens in a new window) veröffentlicht. Darin beleuchten sie neun Schlüsselarten und kommen zu einem bemerkenswerten Schluss.
Allein diese neun Arten und Artengruppen zu schützen oder wieder dort auszuwildern, wo sie einst heimisch waren, hätte einen riesigen Effekt: Damit würden jährlich fast 6,5 Milliarden Tonnen CO₂ aus der Atmosphäre gezogen.
6,5 Milliarden Tonnen negative Emissionen: Laut Schmitz würde das alleine schon für einen 1,5-Grad-konformen Pfad ausreichen.
Was sollen das bitteschön für Wunderarten sein? Darf ich vorstellen:
Afrikanische Waldelefanten
Eurasische Wölfe
Moschusochsen
Meeresfische
Seeotter
Haie (Tiger-, Zitronen- und Schwarzspitzen-Riffhai)
Wale (Blauwal, Finnwal, Buckelwal, Südlicher Glattwal und Südlicher Zwergwal)
Gnus
Amerikanische Bisons (quasi das amerikanische Gegenstück zum Wisent)
Die Feuerwehr Ostafrikas
In der Serengeti, einer Savanne in Ostafrika, leben 1,2 Millionen Gnus. Jedes Jahr streifen die Tiere durch das 25.000 Quadratkilometer große Gebiet und fressen große Mengen an Gras. Das Gras und damit auch den darin gespeicherten Kohlenstoff scheiden sie wieder aus. Schließlich fallen Insekten über den Dung her und lagern ihn samt Kohlenstoff im Boden ein.
Anfang des 20. Jahrhunderts brachten Nutztiere die Rinderpest in die Serengeti, die Gnu-Population brach dramatisch ein und damit auch die Gras-Dung-Kohlenstoff-Dynamik. Das Gras wuchs immer üppiger, was wiederum zu häufigeren, intensiven Waldbränden führte. Massenweise CO₂ gelangte in die Atmosphäre, die Serengeti verwandelte sich von einer CO₂-Senke in eine -Quelle.
Gnus auf der Wanderung von Kenia nach Tansania durch den Mara-Fluss. 📸: Kidoleeee (Opens in a new window).
Dank Seuchenbekämpfung kam die Gnu-Population ab Mitte des 20. Jahrhunderts allmählich zurück und knackte in den 1970er-Jahren wieder die Millionen-Marke. Die Waldbrände beruhigten sich. Inzwischen ist die Serengeti wieder zu einer Senke geworden und speichert 4,4 Millionen Tonnen CO₂ mehr als Anfang des 20. Jahrhunderts.
Es lässt sich also ziemlich genau beziffern: Durch den Schutz der Gnus sind 4,4 Millionen Tonnen CO₂ weniger in der Atmosphäre. Das sind rechnerisch so viel, wie 400.000 Deutsche pro Jahr ausstoßen.
Die Walpumpe
Einen ähnlichen Skill wie die Gnus haben Wale auf Lager (Opens in a new window). Sie sorgen durch die sogenannte Walpumpe für mehr CO₂-Speicherung in Ozeanen: Sie nehmen in der Tiefe Nahrung auf und bewegen sich dann an die Oberfläche, wo sie atmen, sich ausruhen und ihren Darm entleeren.
Dadurch setzen sie Nährstoffe frei, von denen das Phytoplankton in den oberen Meeresschichten profitiert. Dieses winzige, pflanzliche Plankton braucht die Nährstoffe nämlich für die Photosynthese. Die wiederum setzt Sauerstoff frei (schätzungsweise bis zu 50 Prozent der gesamten jährlichen Sauerstoffproduktion (Opens in a new window) des Planeten) – und bindet Unmengen an CO₂.
Buckelwale helfen dem Klima – Kot sei Dank. 📸: Zorankovacevic (Opens in a new window)
Ein anderer wichtiger Wal-Effekt: Wenn die Tiere sterben, sinken sie zum Grund, wo sie von Sedimenten eingebettet werden. Damit bleibt auch der Kohlenstoff in ihren Kadavern dauerhaft gespeichert. Bei der enormen Körpergröße von Walen ein nicht zu unterschätzender Effekt.
Umso verheerender wirkte sich der industrielle Walfang im Laufe des 20. Jahrhunderts aus. Weil heute nur noch so wenige Wale übrig sind, speichert ihre Biomasse laut einer Studie des Journals PLOS ONE (Opens in a new window) weltweit 9,1 Millionen Tonnen weniger Kohlenstoff als vor dem industriellen Walfang.
Würde man die Populationen der fünf wichtigsten Walarten nur im Südlichen Ozean wiederherstellen, könnten laut Studie von Schmitz et al. jedes Jahr mindestens 600.000 Tonnen CO₂ gebunden werden.
Fressen und Trampeln
Die Liste solcher bedeutsamen ökologischen Funktionen von Schlüsselarten könnte ewig weitergehen. Zwei letzte spannende Beispiele: Große Säugetiere können durch ihr Trampeln und ihr Fressverhalten für einen Boost im Kohlenstoffkreislauf sorgen, und zwar auf viele verschiedene Arten.
Nehmen wir die Afrikanischen Waldelefanten, von denen einst über eine Million durch Zentral- und Ostafrika streiften, deren Risiko auszusterben heute aber extrem hoch ist. Waldelefanten verbreiten Samen kohlenstoffreicher Baumarten und fressen und zertrampeln niedrige Vegetation. Dadurch haben die Bäume weniger Konkurrenz, können höher wachsen und mehr Kohlenstoff speichern.
Würde man die Population der Elefanten allein in den Nationalparks und Schutzgebieten wieder herstellen, könnten dadurch jährlich 13 Millionen Tonnen CO₂ gespeichert werden. Das sind anderthalb mal so viel Emissionen, wie die gesamte Stadt Wien pro Jahr ausstößt.
Oder Moschusochsen und Bisons: Würde man solche großen Pflanzenfresser wieder in der Arktis auswildern, könnten sie durch ihr Trampeln Schnee verdichten, den Boden gefroren halten und so den Permafrost vor dem Auftauen bewahren. Damit würden sie verhindern, dass massiv Methan austritt.
Erst der Anfang
Neben den neun von Schmitz und seinen Kolleg*innen untersuchten Arten und Artengruppen haben noch zahlreiche andere Tiere das Potenzial, den Kohlenstoffkreislauf anzukurbeln.
Der Einfluss der meisten Arten ist noch wenig erforscht und lässt sich deshalb noch schwer quantifizieren. Ihr großes Potenzial liegt aufgrund ihrer wichtigen ökologischen Funktionen aber auf der Hand. Die Forscher*innen nennen sie „Kandidaten“ und haben sie in dieses hübsche Schaubild gepackt:
Von Senken zu Schleudern
Die ganze Sache hat nur einen großen Haken: Während wir gerade erst beginnen, die Bedeutung verschiedener Schlüsselarten für den Kohlenstoffkreislauf zu verstehen, sterben uns fast alle vor der Nase weg.
Verlieren wir diese wichtigen Arten, könnten Ökosysteme, die heute noch Kohlenstoff aufnehmen, morgen schon zu CO₂-Schleudern werden. Die Wunderwaffe könnte sich auch gegen uns richten. Was also tun?
Ein vielversprechender Weg, um Ökosysteme in ihr ursprüngliches Gleichgewicht zu bringen, sind Auswilderungen. Diese Artenschutz-Strategie wird schon seit langem bei verschiedenen Tierarten angewandt. Wisente zum Beispiel stehen nur dank jahrzehntelangen Zucht- und Auswilderungsprogrammen heute wieder kurz vor einem stabilen Bestand.
Allerdings sind Auswilderungen um ein Vielfaches aufwendiger und komplizierter als etwa Bäume pflanzen. Damit sie gelingen und überhaupt Sinn ergeben, muss man sicher sein, dass die Tiere nach einer Auswilderung alleine überleben, also kein Eingreifen durch den Menschen mehr nötig ist. Dafür müssen auch die Ursachen für einen früheren Rückgang oder das Aussterben der Population bekannt und vor allem: aus der Welt geschafft sein.
Grund zur Hoffnung
Ursachen wie etwa Jagd oder Verlust und Fragmentierung von Lebensraum durch Siedlungen, Straßen oder Zäune lassen sich aber nicht einfach so aus der Welt schaffen. Zumindest nicht, ohne mit gewissen menschlichen Interessen in Konflikt zu geraten.
Das zeigt auch das Beispiel des Rothaargebirges in Nordrhein-Westfalen. Dort wurde 2013 eine achtköpfige Wisente-Herde ausgewildert. Einige Jahre später war die Herde bereits auf 25 Tiere angewachsen. Doch die Tiere machten sich immer wieder an Bäumen zu schaffen, hinterließen Schäden und erzürnten die Waldbesitzer. Der Verein, dem die Wisente gehörten, musste nach einem verlorenen Rechtsstreit das Projekt und das Monitoring einstellen. Was mit den herrenlosen Tieren jetzt passiert, muss noch geklärt werden.
Zu glauben, wir könnten einfach genug Flächen unberührter Natur schaffen, auf denen unsere Wunderarten dann ihre Magie wirken lassen können, wäre ein allzu naiver Wunschtraum. Dafür gibt es zu wenig Schutzgebiete und zu viele Menschen. Anstatt also Menschen und Natur zu trennen, müssen wir Wege finden, zu koexistieren.
Für Auswilderungen könnte das zum Beispiel heißen, die lokale Bevölkerung in Planung und Umsetzung einzubeziehen. Oder dafür zu sorgen, dass durch die wiedergewonnene Natur die lokale Ökonomie profitiert (zum Beispiel durch neuen Naturtourismus). Oder dass genug Geld bereitsteht, um möglichen wirtschaftlichen Schaden auszugleichen.
Eine mutmachende Nachricht zum Schluss: Aktuell sind im Vergleich zu Ökosystemen vor einigen hundert Jahren zwar nur noch 16 Prozent aller Säugetier-Gemeinschaften intakt. Durch Auswilderungen könnte dieser Anteil laut der Studie von Schmitz et al. aber schnell auf 54 Prozent steigen.
In Europa wurde da schon viel gewonnen: Dank jahrzehntelangen Bemühungen für den Artenschutz, strengeren Gesetzen und dem Errichten von Schutzgebiet-Netzen wie „Natura 2000“ haben sich 50 Tierarten, von denen einige in den 60er- und 70er-Jahren fast ausgestorben waren, entscheidend erholen können. Darunter Eurasische Wölfe, Kegelrobben, Biber, Wisente, Elche und Braunbären.
Auswilderungen können eine Wunderwaffe gegen die Klimakrise sein. Sie müssen aber richtig umgesetzt werden. Und wir Menschen müssen bereit für sie sein. Fest steht jedenfalls: Wenn wir Klimaschutz wollen, dürfen wir die Natur und vor allem die wilden Tiere nicht vergessen.
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