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ANGELA, DIE EWIGE…?!

SACHBUCH-KRITIK

Genau eine Woche ist es nun her, dass Friedrich Merz (CDU) beinahe nicht Kanzler geworden wäre. Beinahe nicht geschafft hätte, was Lebenstraum war und bei Nicht-Gelingen sein Lebenstrauma vertieft hätte. Dieses hat einen Namen: Angela Merkel. Ohne sie hätte es ihn, so dürfen wir vermuten, vermutet er, längst gegeben. Als Parteivorsitzenden, als Bundeskanzler etc. Dass in diesen Gedankengängen die Namen Wolfgang Schäuble, Norbert Röttgen, Markus Söder und Co. als potenzielle weitere Konkurrenten auch ohne eine Kanzlerin a. D. Angela Merkel nicht vorkommen, mag den Feindbildern „Frau“ und „Osten“ sowie dem gekränkten Ego geschuldet sein. Und wer weiß, ob ein Friedrich Merz nicht einem SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück unterlegen wäre...

Sei's drum, darum soll es hier gar nicht weiter gehen. Als die vormalige Kanzlerin am 6. Mai 2025 auf der Besuchertribüne des Deutschen Bundestages Platz nahm (ausgerechnet neben Jörg Kukies, der übrigens am Vorabend beim Großen Zapfenstreich für Olaf Scholz des Öfteren weggenickt ist), ahnte sie wohl nicht, dass sie gleich Zeugin eines historisch bisher nie dagewesenen Ereignisses werden sollte. Ausgerechnet sie, die mal Zeugin, mal Teil, mal Mittelpunkt so mancher erstmaliger Ereignisse gewesen ist

Diverse dieser rekapiltuliert der FAZ-Journalist und Autor Ralph Bollmann in seiner umfangreichen, fundierten und gut lesbaren Biografie Angela Merkel: Die Kanzlerin und ihre Zeit., die im Sommer 2021 als Hardcover-Ausgabe und nach sieben Auflagen im Herbst 2023 als um eine Nachwort ergänzte Paperback-Ausgabe mit 816 Seiten und 39 Abbildungen im C.H. Beck Verlag erschienen ist. Das äußerst lesenswerte Nachwort nimmt vor allem Bezug auf den Angriffskrieg Wladimir Putins gegen die Ukraine, Merkels Umgang mit Russland und Putin, bspw. mit Blick auf das Minsker Abkommen, sowie die Bewertung ihrer Kanzlerinnenschaft Post Kriegsbeginn (ohne Kriegserklärung).

https://www.youtube.com/watch?v=hiwnD00kV0w&t=2s (Opens in a new window)

Bollmanns sympathischer Wälzer ist eine Mischung aus klassischer Politiker*innen-Biografie, politischem Kommentar und persönlichen Interpretationen bzw. Meinungsbekundungen. Wenn sich letztere auch in Grenzen halten, schien er doch nicht das Ziel vor Augen zu haben, mit dem Band auf eine vorgefestigte Conclusio hinzuargumentieren, so wie etwa Ursuala Weidenfeld mit Die Kanzlerin: Porträt einer Epoche oder jüngst Bollmanns FAZ-Kollege Eckhart Lohse in Die Täuschung. Angela Merkel und ihre Deutschen.

Überhaupt widersteht Bollmann jeder Versuchung der Polemik. Er poltert nicht, sondern tänzelt eher, sprachlich teils sehr elegant, auf der Bühne, die das durchaus bewegte Leben und Regieren Angela Merkels ist/war. Er attestiert am Ende, dass wir sie noch vermissen würden und stellt fest, dass ihr Talent vor allem darin bestand, Schnittpunkte von Interessen „zu finden und mit zäher Geduld ein klein bisschen zu verschieben.“ Beiden Einschätzungen würde ich mich unbedingt anschließen. Die Beharrungskräfte der Deutschen und ihr Reformunwille bei gleichzeitiger Forderung, nach feiner Veränderung ohne Einschnitte, waren der Kanzlerin a. D. stets bewusst und sicherlich auch ein Hindernis dabei allzu oft größere Würfe zu wagen. Die Stabilität ging vor. Das war ihr Politikstil und ganz im Ernst: „Wir Deutsche“ mögen es doch stabil, das ist eben so ein deutsches Ding.

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In drei großen Abschnitten - „Pfarrhaus und Physik (1954 – 1989)“, „Politik als Beruf (1989 – 2008)“ und „Krisenjahre: die Weltpolitikerin (2008 – 2021)“ – und fünfzehn Kapiteln plus Vor- und erwähntem Nachwort zieht Bollmann die großen Linien des privaten (soweit möglich) und politischen (gut belegt) Lebens der Frau, die uns 16 Jahre lang regiert hat.

Wenig überraschend bei einer politischen Biografie nimmt der Tiel eben dieser Regierungszeit weit über die Hälfte der achthundert Seiten ein (wobei der Haupteil „nur“ um die 740 Seiten ausmacht, der Rest sind reichhaltige Anmkerungen und ein gut sortiertes Quellen- und Literaturverzeichnis). Ralph Bollmann befasst sich en detail mit der Finanz- und anschließenden Eurokrise und der Ukraine in den Jahren 2013 – 2015 – Stichwort: Krim-Annexion. Hier wird deutlich, welche Gedanken und Umstände Merkel damals trieben. In seinem zum Erscheinen 2023 aktuellen Paperback-Nachwort wird er klug darauf zurückkommen.

https://www.youtube.com/watch?v=RtgpwTZG7PQ (Opens in a new window)

„Wir schaffen das“ ist ein großes Thema mitsamt „Bayerischer Demütigung“ und natürlich leider auch dem Erstarken der AfD. Kaum eine Biografie kommt ohne ein Kapitel namens „Annus horribilis“ aus. So auch hier: Brexit, Terror, Donald Trump, innerparteilicher Streit um die Ehe für alle, usw. usf. Schließlich die, nicht zuletzt dank Barack Obamas Einwirken getroffene, Entscheidung für eine vierte Amtszeit bereitzustehen, die gleichwohl schon als Dämmerung begann, so auch der Name des betreffenden Kapitels. Schließlich kommen wir natürlich auch um die Corona-Pandemie nicht herum. Bollmann hält diesen Teil dankenswerterweise mit dreißig Seiten einigermaßen knapp. Nicht, dass hier ein Corona leugnender Aluhut-Querdenker schriebe. Doch ist mittlerweile so vieles zu und über Corona, die Zeit, den Schock, die Versäumnisse etc. pp. gesagt, geschrieben, gefilmt, geschrien worden...

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Auch über Angela Merkel wurde schon vieles geschrieben, gesagt und gefilmt, geschrien sowieso – ob nun, dass sie weg müsse oder schuld sei. (Und sie hat sich in der letzten Zeit auf Bühnen und in Podcasts sowie ihrer Autobiografie Freiheit selber fleißig geäußert.) Selten allerdings in einer so feinsinnigen und dabei sachbezogen, so unterhaltsam ohne jede Flapsigkeit (außer der Autor zitiert manch eine launige Einlassung „Muttis“), so detailliert und fundiert ohne wesentliche Längen (hier kommt es natürlich auch auf eigene Interessen der Leser*innen an). Angela Merkel: Die Kanzlerin und ihre Zeit ist somit a) ein wunderbares Pendant zu Torsten Körners Dokumentation Angela Merkel – Im Lauf der Zeit und b) eine wirklich arg gut gelungene Mischung aus Biografie und Zeitgeschichte, die gut und gern als Standardwerk angesehen werden darf.

In der aktualisierten Paperback-Ausgabe schreibt Ralph Bollmann schließlich: „Die Prognose aus der ersten Auflage dieses Buches, dass sich viele Menschen nach der Stabilität der Merkel-Jahre balds zurücksehnen könnten, ist früher als erwartet eingetreten: durch die <<Zeitenwende>>, die Putins Versuch einer Auslöschung der Ukraine bedeutete.“ Allerdings führe dies nicht zu einer Merkel-Nostalgie, schließlich wird ihre Kanzlerinnerschaft, vor allem von politischen Kommentator*innen, nun weit kritischer betrachtet, als nach solch vergleichsweise kurzer Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Amt üblich.

https://www.youtube.com/watch?v=ksu8DTy0PgM (Opens in a new window)

Selbst diesem Meinungs-Chorus entzieht Bollmann sich, wenn er meint, dass ihre Entscheidung, den NATO- (wie auch EU-)Beitritt der Ukraine nicht gepusht zu haben, rückblickend zur damaligen Zeit die richtige war und geblieben ist. Ob sie allerdings aus ihrer zutreffenden Analyse, dass von Putin „allergrößte Gefahr ausging“ die richtigen Konsequenzen gezogen habe, steht auf einem anderen Blatt.

So oder so – legt euch diese Blätter zu, ihr werdet es nicht bereuen. Eine Spitzen-Biografie zu einer Spitzen-Politikerin, die gleichsam ein zeitloses Nachschlagewerk bildet und dabei wunderbar unterhält.

AS

PS: Angela Merkel übrigens wartete nicht den lange Zeit ungewissen 2. Wahlgang ab, sie verließ den Bundestag mit der Begründung, andere Termine zu haben. (Was glaubwürdig scheint, zumal sie sich ja ohne Amt auch in Freiheit befindet – so der Titel der gemeinsam mit ihrer langjährigen Büroleiterin Beate Baumann verfassten Autobiografie.). Was sie sich dachte, als Friedrich Merz zuerst nicht gewählt wurde, können wir leider nicht wissen und nur dunkel erahnen. Ob sie allerdings auf eine abweisend kalte bis patzige Art reagiert hätte, wie Merz 2023, auf die Frage einer Journalistin, dass „ja Frau Merkel diesen höchsten Orden [das Große Bundesverdienstkreuz, Anm. d. Red.], als dritte CDU-Kanzlerin“ verliehen bekomme und ob ihn das mit Stolz erfülle. Die Antwort des großgewachsenen Mannes fiel, wie Bollmann uns erinnert, so aus: „Wir haben das als Bundesvorstand, und auch ich als Parteivorsitzender, nicht zu bewerten und zu beurteilen.“ Alter Verwalter...!

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Eine Leseprobe findet ihr hier (Opens in a new window).

Ralph Bollmann: Angela Merkel: Die Kanzlerin und ihre Zeit (Opens in a new window); September 2023; 816 Seiten, 69 Abbildungen; Softcover; C.H. Beck Verlag; ISBN: 978-3-406-80861-6; 20,00 €

Topic Sachbuch

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