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BUNTES TRUE CRIME-TREIBEN IN HAMBURG, 1687

LITERATUR-KRITIK

Am vergangenen Wochenende fand der 69. Eurovision Song Contest (ESC) statt. Wie auch im vergangenen Jahr wurde dieser von massiven Protesten gegen und Forderungen zum Ausschluss von Israel begleitet. Nach dem hasserfüllten, grausamen Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ging es nach üblichen Trauerbekundungen allzu schnell um die Schuld Israels*. (Strenggenommen schlug die Stimmung teils schon mit dem Siegersong „Toy“ von Netta 2018 um oder vielmehr trat seitdem mehr und mehr ein antiisraelischer, antijüdischer Antisemitismus hervor.)

In Basel gab es in diesem Jahr nicht nur einzelne Vorfälle in der ESC-Halle (sowie diverse Palästinenser-Flaggen, die mit dem Eurovision nun wahrlich nichts am Hut haben; dafür übrigens keine Pride Flags, die wurden von der EBU verboten), sondern u. a. eine unangekündigte Großdemo gegen die Teilnahme Israels, wie Israel überhaupt. Mehrere Accounts auf Instagram schrieben dazu in einem Reel (Opens in a new window): „In Basel, right now before the Eurovision. Why is this flag there if they aren't even in the Eurovision??? Because of h@te!“

Und im Nachgang - die israelische Sängerin und Nova-Festival-Überlebende Yuval Raphael belegte mit den meisten Publikumsstimmen den zweiten Platz - redet etwa die finnische, queere Teilnehmerin von unfairer Mobilisierung (sie ist direkt mal aus unserer QUEER SOUNDS-Playlist (Opens in a new window) geflogen) und der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez forderte den Ausschluss Israels vom Wettbewerb (aber Spanien ist ja ohnehin bekannt dafür, Jüdinnen und Juden auszustoßen).

So ist dem. Nun muss leider gesagt werden, dass Jüdinnen und Juden Hass sowie Lügen über seien und daraus resultierender Vertreibung und Ermordung quasi „gewohnt“ sind. Seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden. Eine eindrückliche Geschichte wie zum Ende des 17. Jahrhunderts gegen Aschkenasen also deutschsprachigen Jüdinnen und Juden im lutherisch-orthodoxen Hamburg gehetzt wurde, erzählt Jens Cornils in seinem Comic-Debüt ZETER + MORDIO, das im Oktober 2024 im Berliner avant-verlag erschienen ist.

Hamburg 1687 Comic Zeter und Mordio Ansicht Marktplatz und Rathaus
Reges treiben auf dem Hamburger Marktplatz im Jahr 1687 // © Jens Cornils / avant-verlag

In seiner Geschichte erzählt er auf Grundlage der Memoiren der Glückel von Hameln (aka Glikl bas Jehuda Leib) von einem wahren Mordfall, der sich 1687 in Hamburg ereignete. Entnommen ist diese Episode aus dem fünften Band der insgesamt siebenbändigen Erinnerungen Glikls, wie wir im aufschlussreichen, uns noch näher an die antijüdische Geschichte Hamburgs führenden Nachwort. Dieses verfasste Cornils gemeinsam mit Carmen Bisotti, die ihrerseits Projektleiterin des Geschichtomats ist.

Der Geschichtomat ist ein Bildungsprojekt in Hamburg, das darauf abzielt, Schülerinnen und Schülern einen vertieften und eigenständigen Zugang zur jüdischen Geschichte, Kultur und Gegenwart zu ermöglichen. Es wurde ins Leben gerufen, um deutsch-jüdische Geschichte jenseits der Opferperspektive zu vermitteln und Vorurteile gegenüber dem Judentum abzubauen sowie Antisemitismus vorzubeugen. [...]“

(Mehr zu dem Projekt findet ihr auf der Homepage: www.geschichtomat.de (Opens in a new window); Träger des Projekts ist das Institut für die Geschichte der Deutschen Juden (IgdJ) in Hamburg.)

Comicansicht Zeter und Mordio von Jens Cornils
Wenn Antisemitismus und Frauenhass aufeinandertreffen... // © Jens Cornils / avant-verlag

Nun ist Cornils' ZETER + MORDIO mitnichten nur ein Buch, eine Erzählung, ein Comic für Jugendliche. Nicht nur unterhaltsames Lehr- und Lernmaterial „out of the box“, sondern auch eine sehr spannende Geschichte wie Geschichtsstunde unabhängig von Alter sowie (nicht-)religiöser Prägung. Im Zentrum dieser steht die junge, recht unorthodoxe Rebekka Lipmann, die es nicht hinnehmen will, dass der vermeintliche Mord an einem jüdischen Händler durch den Sohn einer angesehenen Hamburger Bürgerfamilie schweigend akzeptiert wird.

Zu groß ist die Angst unter den Hamburger Jüdinnen und Juden die Bürger wie Bürgerschaft gegen sich aufzubringen (freieres jüdisches Leben gab es primär im circa fünfzehn Minuten entfernten Altona, in welchem Jüdinnen und Juden unter dem Schutz der dänischen Krone standen). Angeheizt wird die Stimmung ohnehin durch den 1686 an die St.-Jacobi-Kirche berufenen lutherischen Pastor Mayer, der ganz im Sinne Luthers vor allem gegen alles Jüdische hetzt. Sünde und Hölle, Gottesmörder und Teufelsbringer und so weiter, mensch kennt das. Allein wollen viele lange nichts von Rebekkas Vermutungen hören, schon gar nicht ihr ängstlicher Ehemann Schmuel: „'Tut man den Mund nicht auf, fliegt auch keine Fliege hinein.'“ Woraufhin Rebekka erwidert: „Sie fliegt nicht hinein, weil sie längst tot im Spinnennetz hängt.“

Comicansicht Zeter und Mordio von Jens Cornils
Energisch steht Rebekka zu ihrem (begründeten?) Verdacht // © Jens Cornils / avant-verlag

So hält die energische Rebekka, deren resolutes Vorgehen an mancher Stelle an Miss Marple erinnert, also nichts davon ab, eigene Ermittlungen anzustellen und sich gegen so manch einen Alt-Herren, der das „Mädchen“ mal zur Ruhe bringen mag, durchzusetzen. Das bringt neben Spannung durchaus Witz mit sich, der dank der charakterstarken Zeichnungen Jens Cornils', die an mancher Stelle an Asterix erinnern, noch unterstrichen wird.

Porträt von Autor und Zeichner Jens Cornils
Der Autor und Zeichner Jens Cornils // © Jens Cornils / avant-verlag

Natürlich nimmt sich der Autor und Zeichner für seinen stark aufgebauten Plot einige Freiheiten, was vollkommen in Ordnung ist und er klar offenlegt. Das ist, wie geneigten Leser*innen bekannt ist, nicht unüblich und nicht verwerflich (außer mensch macht's wie im evangelikal verklärenden Film Bonhoeffer: Pastor. Spy. Assassin., mehr dazu in Kürze). Erst recht nicht bei einer durchwachsenen Quellenlage, die ebenfalls im Nachwort erläutert wird. Einige Charaktere beruhen auf historischen Persönlichkeiten, andere sind frei erfunden. Ebenso basiert die Geschichte nicht nur auf den Memoiren bas Jehuda Leibs/Glückel von Hamelns sondern einer ausgiebigen Recherche (die Literaturliste verdient einige Beachtung wie auch das Glossar; in diesem Interview spricht Jens Cornils über Recherche und Co. (Opens in a new window)).

Gebet zum Schabbat Comicansicht Zeter und Mordio von Jens Cornils
Gebet zum Schabbes in der Synagoge Neuer Steinweg im Obergeschoss eines Hauses im Hinterhof - "öffentliche" Religionsausübung war den Hamburger Jüdinnen und Juden verboten // © Jens Cornils / avant-verlag

Kurzum: Ein toll recherchierter, unterhaltsam gezeichneter, spannender True-Crime-Comic aus dem 17. Jahrhundert, dazu noch eine starke Geschichtsstunde, nicht nur zum jüdischen Leben in Hamburg und Altona. Diesem Debüt dürfen gern mehr Comics zur literarischen Aufarbeitung historischer Themen folgen!

AS

PS: * – dazu sei dieser „Klassiker“ empfohlen: Israel ist an allem schuld: Warum der Judenstaat so gehasst wird von Georg M. Hafner und Esther Shapira. Es scheint vergriffen, ist allerdings gebraucht/antiquarisch gut erhältlich.

PPS: Eine weitere Buchempfehlung: In der Reihe Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung im C.H. Beck Verlag ist verfasst vom ehemaligen Direktor des Jüdischen Museums Berlin, Peter Schäfer, im vergangenen Jahr Das aschkenasische Judentum – Herkunft, Blüte, Weg nach Osten erschienen. Ein fein bebildertes, stark recherchiertes, sehr ausführliches und vor allem gut lesbares Werk, das in sechs Hauptteilen und auf gut fünfhundert Seiten nicht nur detaillierte Einblicke in die Geschichte erlaubt, sondern sich auch als Nachschlagewerk anbietet.

IN EIGENER SACHE: Da unser reguläres Online-Magazin noch immer nicht wieder am Start ist, veröffentlichen wir vorerst hier. Mehr dazu lest ihr in unserem Instagram-Post (Opens in a new window) oder auf Facebook (Opens in a new window). Außerdem freuen wir uns immer, wenn ihr uns einen Kaffee spendieren wollt (Opens in a new window).

Jens Cornils: Zeter + Mordio (Opens in a new window), Frei nach den Memoiren der Glücken von Hameln; Oktober 2024; 224 Seiten, durchgehend vierfarbig; Softcover; Format: 17 x 24 cm; ISBN 978-3-96445-127-9; avant-verlag; 25,00 €

Topic Belletristik & Literatur

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