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Meine Alltagsbeobachtungen kommen mir gerade vor wie eine Dissoziation. Ich nehme von außen wahr, dass die Stadt nach und nach wieder erwacht, Menschen vor Cafés sitzen, Jugendliche in engen Gruppen durch die Parks ziehen und man das Lächeln einer anderen Person nicht mehr nur an ihren Augen sehen kann, weil Menschen sich auf den Gehwegen maskenlos entgegenkommen. 

Donnerstagabend saß ich sogar selbst in einem Restaurant in einer belebten Straße in Schöneberg und war einer dieser Menschen, die dort sitzen, Wein trinken und sich unterhalten, als habe es die lange Pause dazwischen nicht gegeben. Trotzdem erscheint es mir, als wäre ich Gast in einem Film, der langsam abgespielt wird und dessen Handlung keine inneren Zusammenhänge kennt. Ich schaue mich um und warte darauf, dass jemand mir eine Regieanweisung gibt oder ich eine Karte auf dem Tisch finde, auf der meine Rolle steht. Ich sitze inmitten der Normalität und bin doch von ihr abgeschnitten. Ich muss zwar nicht neu lernen, in einem Restaurant zu sitzen, zuzuhören und selbst zu erzählen, weil ich es schon Hunderte Male in meinem Leben getan habe, aber das Zurückfinden zu etwas Gewöhnlichem fühlt sich ungewohnt an. Vielleicht fällt es mir schwer, jetzt schon loszulassen und mich einfach nur zu freuen, falls der Herbst wieder einsam wird und die Normalität gerade nur einmal kurz aufblitzt und sich dann wieder verzieht. Ich möchte keinen Gastauftritt und wieder zurück in meine Lockdown-Rolle, sondern den nächsten Text lernen dürfen.

Ich bin überrascht, wie wenig darüber gesprochen wird, dass der Übergang zwischen einem stark eingeschränkten Leben und der alten Freiheit nicht glatt verlaufen kann. Wir können nicht an die alte Normalität anknüfen, da ein langer Zeitraum dazwischen lag, der passiert ist und dessen Spuren bleiben, auch wenn man sich jetzt wieder umarmen kann. Vereinzelt erscheinen Artikel, in denen berichtet wird, dass die verschiedensten Nachwirkungen der ersten eineinhalb Jahre Pandemie sich erst noch zeigen werden, seien es die psychologischen oder wirtschaftlichen, die im Entwicklungsstand von Kindern, aber einen öffentlichen Diskurs dazu gibt es nicht. Was machen wir denn, wenn die Lernlücken riesig sind? Wenn die Wartezeiten auf Therapieplätze eher 24 Monate sind als 6? Nach vorn schauen, dankbar sein, anpacken für morgen, das lese ich aus den politischen Diskussionen heraus. Dabei wäre verarbeiten, erinnern und trauern genauso wichtig.

Mein zweites Kind ist gerade 15 Monate alt geworden und es war trotz allem ein sehr schönes erstes Baby-Jahr. Gleichzeitig hat irrsinnig viel darin gefehlt, das nicht wiederkommt. Eigentlich bräuchten wir einen neuen Alltag, der uns die Möglichkeit gibt, Dinge nachzuholen, statt eng getaktet zu sein wie eh und je.

Als vor drei oder vier Wochen der letzte Kita-Tag meiner Tochter war, fühlte ich mich völlig überrumpelt davon, da die letzten Monate eben kein Übergangsjahr waren, kein Vorschuljahr und der Abschied von der Kindergartenzeit viel zu abrupt kam. Wir waren doch gerade erst in der Kita zurück, wie kann sie schon wieder vorbei sein? Ich wünsche mir für ihr erstes Schuljahr vor allem, dass die Zeit nicht wieder von Unsicherheiten, ständig neuen Regeln und zu viel Hin und Her so zerstückelt wird, dass man nur noch einzelne Tage wahrnehmen kann, sich irgendwie durchhangelt, aber den Blick dafür verliert, was sich über mehrere Wochen hinweg entwickel. Ich wünsche mir, wieder Zeit_räume verbringen und begleiten zu können.

Es gibt ein Kinderbuch, das ich meiner Tochter das erste Mal im letzten Jahr vorgelesen habe und das zufällig ein passendes Corona-Begleitbuch war, in dessen kindgerechten Alltag man sich flüchten konnte. Es heißt „Nina. Ein grandioses letztes Jahr im Kindergarten“ (Opens in a new window) und ist von der schwedischen Autorin Emi Guner, die es mit ihren Texten schafft, den einfachen, unspektakulären Kinderalltag zu beschreiben und das Abenteuerliche dieser Gewöhnlichkeit einzufangen. Wenn ihr ein Kind kennt, das sein Vorschuljahr verpasst hat, besorgt dieses Buch und lest es vor. Es ist auch für die vorlesende Person ungemein tröstlich.

Außerdem ist Ninas Kuscheltier ein Schneeleopard. Wie könnte mir das Buch  da nicht sympathisch sein?

Das gemeinsame Lieblingskapitel von meine Tochter und mir „Walderdbeeren und Blut“ beginnt so:

„In den Sommerferien ist alles anders. Mama und Papa haben es nicht mehr eilig, irgendwohin zu fahren, und wenn Nina so lange schlafen darf, bis sie von selbst aufwacht, ist sie morgens auch nicht wütend.“

Meine Tochter und ich schauen uns an dieser Stelle jedes Mal an und lachen, da wir sehr genau wissen, von was Nina spricht. Nina beschreibt vielleicht eins der Grundprobleme unserer Zeit.

Ich bin froh, dass die Kitas wieder geöffnet haben und immer nur von Zuhause aus arbeiten ist auch nichts. Aber ich würde gern behalten, morgens später aufstehen zu können, sich nicht hetzen zu müssen und wütende Kinder, die genauso übermüdet sind wie die Erwachsenen, davon zu überzeugen, Schuhe anzuziehen. In einer Studie der TU Berlin haben die Forscherinnen die Studienteilnehmer_innen zu Beginn der Pandemie gefragt, was sie mit einer Stunde geschenkte Zeit machen würden, und viele der befragten Personen wollten am liebsten mehr schlafen. In einer zweiten Befragungswelle konnten sie feststellen, dass die gewonnene Zeit durch eingesparte Pendelwege und ähnliche Dinge tatsächlich dazu genutzt wurde, länger zu schlafen. Offenbar war es dringend nötig.

Wir kriegen es als hochentwickelte Gesellschaft nicht einmal hin, dass alle ausreichend schlafen können und am Morgen fröhlicher sind, wie wollen wir da zu einer klugen Klimapolitik kommen? Das sind so Fragen, die ich mir stelle und die mich manchmal wenig optimistisch stimmen, weil wir es ja nicht einmal hinbekommen, ein wenig netter zu uns selbst zu sein.

Wie wäre sie wohl, die ausgeschlafene Gesellschaft?


Mit mittelmüden Grüßen

Teresa

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