Wenn der durchschnittliche deutsche Wähler keine Veränderung mag, dann ist es die letzten Jahrzehnte nicht gut von ihm durchdacht gewesen, immer wieder für Parteien zu stimmen, die zu wenig dafür getan haben, die Klimakrise zu verhindern. Denn ihre Folgen verändern in recht gravierendem Ausmaß, an welchen Orten Menschen noch leben können und welchen Risiken sie dort ausgesetzt sind. Die Zahl der Meldungen über extreme Hitze und Dürren, Starkregen, Überflutungen und Waldbrände schwappen ebenso flutartig durch den Nachrichtenstrom wie das Wasser, das zuletzt in Deutschland Häuser, Straßen und Brücken schlicht weggeschwemmt hat und die Orte autofrei machte, weil der Strom sie mitnahm und zerstörte. Sowohl in Griechenland (Opens in a new window) als auch in der Türkei sind die Waldbrände bis in Wohnsiedlungen vorgedrungen und nehmen dort ebenfalls Menschen ihr Zuhause.
Berlin, wo ich lebe, soll langfristig zu einer der heißesten Regionen in Deutschland werden. Ich fand die letzten Wochen schon oft zu heiß, um am Schreibtisch einen klaren Gedanken zu formulieren und dachte mit Blick auf die Karte, auf der die Region um Berlin rot eingefärbt war, kurz darüber nach, wohin wir ziehen könnten, wenn es hier zu heiß wird, um den Sommer noch aushaltbar zu finden und schreiben zu können, und wie ich die Teile unserer Patchwork-Familie überzeuge, gemeinsam umzuziehen.
Bei meinem Besuch bei meinen Eltern im Sauerland vor zwei Wochen nahm ich den Unterschied in der Abkühlung von Stadt und Land abends klar war: Nach einem warmen Tag brauchte ich dort für den Spaziergang abends eine Jacke. In Berlin bleibt es auch nachts heiß. Dass der Körper sich nachts nicht von der Tageshitze erholen kann und weiter schwitzt, macht den Sommer in Großstädten so anstrengend. Besonders für ältere Menschen, Kleinkinder und chronisch Erkrankte kann die Hitze lebensgefährlich werden. Einer Studie zufolge, die in „The Lancet“ veröffentlicht wurde, sollen 2018 über 20.000 Menschen über 65 an Hitze gestorben sein. Daher sollte es gerade im Interesse der älteren Menschen sein und ein wichtiges politisches Thema in einer überalternden Gesellschaft, eine noch stärkere Erderhitzung zu verhindern und die Städte auf die steigenden Temperaturen vorzubereiten. Dazu gehört unter anderem, mehr Grünflächen zu schaffen, statt weitere Flächen zuzubauen, in Kitas und Senioren-Einrichtungen gekühlte Aufenthaltsräume (Opens in a new window) zu schaffen und ein Hilfesystem zu etablieren, dass sich um alleinlebende Senior_innen kümmert, wenn die Städte tagelang überhitzt sind. Zu den Lösungen, Städte kühler zu machen, zählen zudem zunächst kurios anmutende Ideen wie Straßen weiß anzustreichen (Opens in a new window).
Wenn man den Klima-Notstand zum Maßstab nimmt, haben die Wähler_innen und die von ihnen gewählten Regierungen in den letzten Jahrzehnten sehr viel dafür getan, dass sich das Leben, wie sie es kennen und schätzen, sehr stark verändern wird. In den von der Flutkatastrophe zerstörten Orten in NRW und Rheinland-Pfalz wird die enorme Veränderung im Leben einzelner Menschen plastisch daran, dass sie von einem Tag auf den anderen das eigene Zuhause verloren haben und mit ihm die vertraute Umgebung um sich herum. Im Ahrtal (Opens in a new window)ist die Infrastruktur so weit zerstört, dass einige Monate nicht reichen werden, um die Orte wieder halbwegs funktionsfähig zu machen. Jetzt kehren die Kinder nach eineinhalb Jahren nicht in ihre Schulen zurück, weil es die Schulgebäude nicht mehr gibt. Die Folgen der Flutkatastrophe werden die betroffenen Menschen noch jahrelang begleiten. Psycholog_innen haben die Einrichtung eines Trauma-Zentrums (Opens in a new window) gefordert, damit Kinder und Erwachsene dauerhaft Ansprechpartner_innen haben, um das Erlebte zu verarbeiten. Die psychischen Auswirkungen der Klimakrise, sei es durch erlebte Auswirkungen, Schuldgefühle oder der Angst vor Katastrophen, werden bisher noch viel weniger mitgedacht als die materiellen Kosten.
Es ist also paradox, dass konservative Stimmen vor einer progressiven Regierung warnen, in dem sie sagen, dass zum Beispiel die Grünen radikale Veränderungen (Opens in a new window) planten, die den bisherigen Alltag der Deutschen völlig durcheinander bringen könnten.
Regierungen, die Klima-Maßnahmen endlich priorisieren, werden am Ende mehr dazu beitragen, dass die Bürger_innen ihr Leben noch wiedererkennen als Regierungen, die weiterhin zu wenig für den Klimaschutz tun werden. Vielleicht lassen sich einige Wähler_innen auf diese Weise davon überzeugen, Parteien zu wählen, die mehr Klimaschutz wollen: Denn mit radikalem Klimaschutz würde es später weniger unkontrollierbare Veränderung geben. Was ist schon der Verzicht auf ein Schnitzel (Opens in a new window) im Vergleich zu dem Verzicht auf ein Zuhause oder mehrere Lebensjahre? Um wie viele Jobs in der Braunkohle geht es im Vergleich zu wie vielen Menschenleben?
Ich überlege immer noch, ob ich meinem 95-jährigen Großvater einen pathetischen Brief schreibe, und ihn bitte, dieses eine Mal in seinem Leben nach dem Krieg nicht CDU zu wählen. Für seine zwei Kinder, fünf Enkelkinder und sechs Urenkel-Kinder, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in immer schnelleren Tempo Nachrichten darüber lesen werden, wo überall in der Welt die Folgen von Klimakrise und Artensterben das Leben nicht nur unbequem machen werden, sondern tödlich. You can’t save the world one man at the time, aber irgendwo muss man ja anfangen.
Jüngere Menschen können zwar Wechselstimmung erzeugen, aber die Macht für einen politischen Wechsel liegt bei den Wähler_innen über 60, weil sie jüngere Menschen prozentual weit in den Schatten stellen. Die über 70-Jährigen wählen zudem deutlich häufiger die Union als jüngere Altersgruppen, Frauen sogar häufiger als Männer. Bei der Bundestagswahl 2017 wählten 39,8 Prozent der Frauen und 32,2 Prozent der Männer die Union. Von den über 70-jährigen wählten nur 3,8 Prozent die Grünen, bei den 18-24-Jährigen hingegen knapp 15 Prozent. (Quelle: Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 2017 nach Geschlecht und Alter (Opens in a new window). Ergebnisse der repräsentativen Wahlstatistik)
Als ich zu Stimmverteilungen und Wahlbeteiligung recherchiert habe, ist mir zudem das erste Mal aufgefallen, dass in der Gruppe der älteren Menschen, die häufiger von ihrem Wahlrecht Gebrauch macht als junge Menschen, die Wahlbeteiligung von Frauen über 70 plötzlich deutlich stärker zurückgeht als bei den Männern. Von den über 70-jährigen Frauen wählen noch 72,5 Prozent, bei den Männern hingegen über 80 Prozent. Bis 69 Jahre ist die Wahlbeteiligung ähnlich. Bei der Suche nach Gründen dafür bin ich auf die Promotion „Wahlverhalten älterer Frauen Alter, Geschlecht und Generationszugehörigkeit als Einflussfaktoren politischer Partizipation“ (Opens in a new window) von Ulf Thöle gestoßen, die sehr interessant ist und deren Ergebnisse sich in der Kürze nicht zusammenfassen lassen, daher empfehle ich einfach, sie bei Interesse zu lesen. Hervorheben möchte ich aber zum einen die Erkenntnis, dass die politische Sozialisation in der NS-Zeit und die Geschlechterrollen auf viele Frauen den Effekt gehabt haben, dass sie auf Distanz zur Politik gegangen sind und eher rituell an Wahlen teilnehmen und nicht, weil sie eine bestimmte Partei oder bestimmte Themen unterstützen wollen. Ebenso wichtig fand ich, dass eine Verwitwung bei älteren Frauen Einfluss darauf haben kann, ob sie weiterhin an Wahlen teilnehmen. Für manche von ihnen war der Gang zur Urne eine gemeinsame Unternehmung mit dem Partner, der sie allein nun nicht mehr nachgehen. Einige ältere Frauen verorten sich als unpolitisch oder sahen die Rolle, politisch informiert zu sein bei ihrem Mann, der nun als Gesprächspartner für ihre politische Orientierung wegfällt. In der Literatur gibt es zudem eine emanzipatorische Interpretation der Wahlenthaltung, die besagt, dass manche Frauen nur zur Wahl gegangen seien, weil ihr Ehemann es wollte und sie nun Zuhause bleiben können, da ihnen selbst ihre Stimmabgabe nie wichtig war. Thöhle schreibt: „Der Typ der rituellen Partizipation besteht aus Frauen, die sich im Umgang mit Politik als nicht kompetent erleben und vor allem wegen einer wahrgenommenen sozialen Verpflichtung partizipieren.“
Es könnte jedenfalls interessant sein, wenn ihr alleinlebende weibliche Verwandte habt, die über 80 oder 90 Jahre alt sind, mal mit ihnen darüber zu sprechen, ob sie weiterhin wählen gehen und ob sie es eher tun würden, wenn sie an diesem Tag jemand begleitet.
Aus feministischer Sicht ist an der rituellen Partizipation an Wahlen noch anzumerken, dass Frauen, die ihrem Partner die politische Kompetenz zuschreiben, in der Regel die gleiche Partei wählen wie er. In patriarchalen Gesellschaften können manche Männer – ohne böse Absicht, aber aufgrund dieser Rollenbilder – ihre Stimmzahl also verdoppeln. Auch deswegen braucht es Feminismus. Dass Menschen sich für Politik interessieren und sich selbst als politisch kompetent erleben, ist Voraussetzung für eine eigenständige politische Meinungsbildung. Anknüpfend an das Phänomen, dass Ehepartner_innen sich häufig gegenseitig darin beeinflussen, was sie wählen, hat die Juristin und ehemalige Politikerin Lore Maria Peschel-Gutzeit argumentiert, dass es nicht gegen das Kinderwahlrecht sprechen würde, dass Kinder sich bezüglich ihrer Wahlentscheidung an den Eltern orientieren könnten. Dass Menschen eine Partei wählen, weil eine Person, der sie nahestehen, diese Partei wählt, würde nicht erst mit einem Kinderwahlrecht eingeführt, sondern ist schon immer so gewesen, denn politische Willensbildung findet eher in Freundeskreisen, unter Kolleg_innen und in Familien statt als bei der einsamen Lektüre von Wahlprogrammen.
Bei den jüngeren Altersgruppen war es bei der letzten Bundestagswahl übrigens so, dass Frauen ein wenig öfter von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten als Männer. Dass Frauen sich selbst als weniger politisch kompetent erleben als Männer, ist bei Jüngeren nicht mehr der Fall. (Das Wahlverhalten wird bislang nur binär erhoben.)
Die politische Lücke besteht also nicht darin, dass Frauen wählen, sondern dass sie weniger oft kandidieren und gewählt werden – also von anderen weniger oft als politisch kompetent gesehen werden.
Im September werden wir dann sehen, ob sich der zu niedrige Frauenanteil von 31,5 Prozent im derzeitigen Bundestag (in der Legislatur von 2013-2017 lag er bei 36,5 Prozent) endlich wieder verbessert. Gespannt bin ich auch darauf, ob die Wahlbeteiligung unter den Erstwähler_innen höher ausfällt als vor vier Jahren. Und natürlich, für welche Art der Veränderung die Wahlberechtigten dieses Mal stimmen werden. Denn es wird mit jeder denkbaren Koalition Veränderungen geben.
Die nächste Veränderung, die ich mir wünsche, ist dass mit der Einschulung meines älteren Kindes in ein paar Tagen in meinen Alltag ein gewisser Rhythmus und Planbarkeit wieder zurückkehren. Denn in den letzten vier Wochen der Sommerferien habe ich eher unfreiwillig in einer minimalen Teilzeit gearbeitet und die schwere Geburt der Eckzähne des Babys hat meine Abende am Schreibtisch zusätzlich gefressen. Wenn die Kita und Schule offen bleiben und wir nicht alle paar Wochen in Quarantäne müssen, schreibe ich vielleicht in diesem Jahr noch mein Buch zu Ende und auch wieder die Kolumne fürs SZ-Magazin. Wenn nicht, dann eben immer noch leicht verzweifelte Tweets. Vielleicht wird endlich 2022 ein Extrem-Launen-Ereignis der guten Art.
Also, nicht nur übers Wählen mit anderen sprechen, sondern auch übers Impfen. Auch hier kann es helfen, sich als Begleitung anzubieten.
Bis bald wieder
Teresa
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