Game Studies: Soundwalking in Fallout 3 (Addrich Mauch)
Was denken Soziologen, Philosophen und Kulturwissenschaftler über Spiele? Über was wird in den Game Studies diskutiert? Ich habe diese Reihe mit Auf Abwegen - Folk horror, Videospiel und das Problem der Natur (Opens in a new window) von Daniel Illger begonnen. Es gibt dazu unter Berichte eine eigene Kategorie (Opens in a new window), in der alle Erkundungen und Podcasts über Game Studies einsortiert werden.
Diesmal geht es um einen interessanten Aufsatz von Addrich Mauch, den einige vielleicht aus meinem Podcast kennen. Der Musik-Ethnologe beschäftigt sich an der Uni Bern mit dem Verhältnis von Spiel und Sound. In "Eine postnukleare Heterotopie. Soundwalking in Fallout 3" (frei lesbar ab Seite 327 im Sammelband Old World Blues: ›Fallout‹ und das Spiel mit der Postapokalypse (Opens in a new window); die Herausgeber Arno Görgen und Rudolf Inderst begrüße ich am Freitag im Podcast) taucht er quasi mit offenen Ohren in das Endzeit-Rollenspiel von Bethesda ab, das 2008 für PC, PS3 und 360 erschien. Und das auf überaus lesenswerte Art, indem er im Prolog den Weg ins Spiel mit seinem Freund beschreibt, wenn aus dem Alltag langsam ein Abenteuer wird:
"In der Wohnung meines Kumpels setze ich mich an den Glastisch vor dem Fernseher, schnappe mir den Controller und starte die PlayStation während er Wasser für den Kaffee aufsetzt. »Biep!« Zu den ersten düsteren und rhythmischen Takten des Orchesters lassen wir ihn ziehen – »PLEASE STAND BY« – das Umgebungslicht im Raum wird abgedunkelt und die Bläsersektion des Orchesters steigert die Spannung. Erst mit dem Pressen des Siebeinsatzes der French Press verlassen wir die Slideshow des Startmenus und betreten den magischen Zirkel von Fallout 3. Analog zu unserem Ritual bis hierhin besuchen wir erstmal Moiras Craterside-Lagerraum und decken uns ein mit Stimpaks und füllen unseren Munitionsbestand auf. In der Hoffnung, unsere Beziehung mit ihr weiter zu verbessern, lassen wir uns von ihr unseren ersten Auftrag des Abends geben."
Danach erläutert Mauch in seinen Worten die "Heterotopie", die der französische Philosoph Michel Foucault in den 60er Jahren für besondere Orte wie Gefängnisse, Friedhöfe, Kliniken, Bibliotheken, Bordelle, Schiffe etc. definierte. Vielleicht kennt jemand den SciFi-Roman Triton von Samuel R. Delany? Er verwendete 1976 Foucaults Begriff im Untertitel "An Ambiguous Heterotopia" und wurde für den Nebula Award nominiert. Aber zurück zu Mauch, der die Heterotopie nicht in der Literatur, sondern in der Analyse eines Videospiels anwendet:
"Heterotopien sind Orte der Widersprüche und Doppelseitigkeiten, von physischen Repräsentationen sowie imaginären Bedeutungen und haben eine konkrete und reflektierende Funktion der Gesellschaft gegenüber, in welcher sie existieren. (...) Die Idee, Videospiele als Heterotopien zu betrachten, ist nicht neu, wurde aber bisher nur als Möglichkeit angedeutet und eine eingehende Untersuchung fehlt überwiegend. In meiner Dissertation benutze ich Foucaults Konzept als methodische Grundlage musikethnologischer Feldforschung in verschiedenen Action-Adventure Spielen und zur Veranschaulichung deren Soundscapes als konstante Kommunikation zwischen Spieler*in und Spiel."
(Opens in a new window)Genauso wie sich Landschaften natürlich visuell, aber auch erzählerisch (Stichwort: Environmental Storytelling) auf den Spieler und sein Erlebnis auswirken können, sorgen nicht nur die Musik, sondern auch Soundeffekte für einen ständigen Austausch, bauen Stimmung auf und verstärken Situationen sowie Geschichten.
"Einerseits spielt die Musik, insbesondere des Galaxy Radios sowie des Radio Enklave, eine wichtige Rolle für die einzigartige und immersive Atmosphäre, welche gleichzeitig befremdend und versöhnend auf die/den Spieler*in wirkt. Andererseits tragen auch die Umgebungsgeräusche und Ambient-Sounds zur Wahrnehmung der Spielwelt als Heterotopie bei: das Rauschen des Windes, Ächzen von Metall, Explosionen aus der Ferne und andere bedrückende oder befremdende Geräusche generieren Gefühle von Unbehagen und Desorientierung. Dies wird durch einen Soundwalk durch das Ödland nach dem Vorbild von Westerkamp veranschaulicht, eine experimentelle Methode, die durch fokussierte Wahrnehmung von Sounds die individuelle Beziehung zwischen Mensch und Soundscape beleuchtet."
Mauch folgt in seinem Aufsatz den sechs Grundsätzen zur Bestimmung einer Heterotopie, die Foucaults empfahl, beginnend mit dem ersten, der privilegierte, geheiligte oder verbotene Orte beschreibt, welche sich nur für Menschen gedacht sind, die sich in einer Krise mit ihrer Gesellschaft befinden:
"Das Verlassen des sicheren Vault 101 geschieht durchaus aus einer sozialen und politischen Krise heraus, in das Ödland als eine verbotene Zone – aber die ganz normalen Mittzwanziger-Lebenskrisen meines Kumpels und mir aus dem Prolog reichen kaum aus, um die für alle interessierten und zahlenden Spielenden frei zugängliche Welt von Fallout 3 als Krisenheterotopie zu definieren. Vielmehr scheint mir eine Betrachtungsweise ähnlich des Katastrophentourismus angebracht: Philip R. Stone zufolge zeigt die Anwesenheit von Touristen an einem Ort wie der Sperrzone von Tschernobyl ein der gesellschaftlichen und moralischen Norm abweichendes Verhalten, denn nach Foucault stelle in einer Konsumgesellschaft auch die Freizeit eine Art Müßiggang und Abweichung (bis zu einer Krise) dar."
Ich überspringe die weiteren Grundsätze, denn auch die Soundscapes sind keine neue Wortschöpfung und werden erläutert:
"Das Konzept der Soundscapes geht auf den kanadischen Komponisten und Klangforscher Raymund Murray Schafer zurück, der mit anderen Forscher*innen das World Soundscape Project startete: die ambitionierte Mission, alle Klangland schaften der Welt zu untersuchen. Soundscape definiert er als die akustische Umwelt, »[t]echnically, any portion of the sonic environment regarded as a field for study. The term may refer to actual environments, or to abstract constructions […].« Grundsätzlich unterscheidet er hierbei ältere ländliche Hi-Fi Soundscapes, in welchen einzelne Klänge klar auseinanderzuhalten sind, von Lo-Fi Sound scapes, in denen nach der industriellen Revolution Soundüberlastungen natürliche und menschliche Geräusche verschleiern."
Richtig interessant wird es, wenn Mauch dann am praktischen Beispiel die akustische Spielerfahrung in dem oben erwähnten Soundwalk beschreibt, quasi zum Mithören:
"Trotz der leeren und offenen Umgebung fühlt sich mein Gehör überladen an und ich höre weder die körpereigenen Geräusche von mir in meinem Bürostuhl noch die des Einsamen Wanderers. Tiefes Rauschen, als ob das Meer in der Nähe wäre, vermischt sich mit dem hohen Pfeifen des Windes durch die Bäume und Felsen um mich herum und langanhaltende Orchestertöne der Streicher- und Bläsersektion. Im Hintergrund erklingt ein leises e‘‘ einer einzelnen Pianotaste und hohe Streicher nehmen den Ton kurz darauf auf und verschwinden wieder im Wind. Mit dem Controller versuche ich, mich so leise wie möglich zu bewegen und als Reak tion höre ich meine Schritte, als ob ich auf nassem Dreck gehen würde, beim Ducken nehme ich das Rascheln meiner Kleidung wahr. Der Klang meiner Schuhe auf dem Untergrund verändert sich kurz darauf auf dem Asphalt einer alten Straße zu einem hohen und klar definierten Klacken. Aus dem Nichts werde ich von einem lauten Geräusch, das sich anhört wie kleine Blitze, jedoch ohne Bass, überrascht, das sich im Sekundentakt wiederholt. Ich drehe mich um und nach einigen Momenten entdecke ich rote Laserschüsse. Das Orchester setzt in den tiefen Frequenzen mit einem Staccato ein, gelegentlich unterstrichen von Paukenschlägen und düsteren Bläsern. Um den Gegner ausfindig zu machen, versuche ich den V.A.T.S.-Modus (Vault-Tec Assisted Targeting System) zu aktivieren, erhalte als Antwort aber lediglich ein leeres kurzes Klicken. Nach einigen Versuchen jedoch friert die Zeit der Spielwelt ein und mein Blickfeld zoomt zu einem weit entfernten Protektron, einem Kampfroboter, begleitet durch einen langgezogenen hydraulischen Klang. Das Orchester spielt die Kampfmusik jetzt noch energischer – in meiner sub jektiven Wahrnehmung, aber auch in seiner Lautstärke und Dynamik – übertönt den Soundwalking in ›Fallout 3‹ 341 Wind, der scheinbar trotz stehengebliebener Zeit weiterweht, aber nicht ganz. Mit dem Klickgeräusch, das sich wie ein Auslöser einer alten Kamera anhört, wähle ich zwi schen den einzelnen Körperregionen aus, auf die ich zielen will. Da ich davon ausgehe, dass – wie immer – der Kopf am verwundbarsten und damit effektivsten ist, bestätige ich diesen einige Male, was jeweils mit einem hohen Piepen bestätigt wird, bis wieder das leere Klicken darauf hinweist, dass ich alle Aktionspunkte verbraucht habe."
In seinem Fazit schreibt Mauch:
"Die Untersuchung der Soundscape von Fallout 3 als konstante Konversation zeigt, wie Sounds und Klänge in digitalen Spielen eine komplexe Rolle spielen. Sie dienen nicht nur der Immersion, sondern kommunizieren auch Informationen und beeinflussen die Stimmung der Spielenden. Die Begegnung mit diesem Spiel raum als Heterotopie spiegelt die Reflexion der eigenen kulturellen Identität wider und eröffnet dergestalt Möglichkeiten, die reale Welt kritisch zu hinterfragen. Fallout 3 erweist sich somit als reales ›Anderes‹ und interaktiver Raum, der genauer erforscht und verstanden werden sollte. Die Erkenntnisse aus solchen Studien können nicht nur unser Verständnis von digitalen Spielen vertiefen, son dern auch breitere Implikationen für die Erforschung von Kultur, Identität und 348 Old World Blues. ›Fallout‹ und das Spiel mit der Postapokalypse Immersion in anderen Kontexten haben."
Sein Aufsatz "Eine postnukleare Heterotopie. Soundwalking in Fallout 3" erschien im Oktober 2024 in: Arno Görgen, Rudolf Inderst (Hg.): Old World Blues - Fallout und das Spiel mit der Postapokalypse (Opens in a new window), Büchner Verlag, 327-250.
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