Wochenplannewsletter #26

Meine Lieben,
bevor sein sabbernder Hund berühmt und sein Name stellvertretend für die moderne Verhaltensforschung wurde, erhielt Iwan Petrowitsch Pawlow einen Nobelpreis, weil er ziemlich viel über Drüsen herausgefunden hatte. Über Verdauungsdrüsen, um genau zu sein. Denn Pawlow wollte wissen, wie diese Drüsen vom Nervensystem gesteuert wurden und welche Sekrete sie dabei absonderten, ein medizinisch bahnbrechendes, aber ansonsten wohl schrecklich langweiliges Unterfangen, wenn man nicht gerade eine Bauchspeicheldrüse oder eine Magenschleimhaut war oder wenigstens beruflich mit ihnen zu tun hatte.
Außerdem war es für Pawlows Experimente notwendig, dem lebenden Versuchsobjekt chirurgisch ein Implantat in die Kehle einzusetzen, das den Speichelfluss maß. Seltsamerweise standen die Freiwilligen dafür nicht Schlange, aber wenn Russland um 1900 drei Dinge besaß, dann waren es Hunde, Straßenkinder und ein betrüblicher Mangel an Kinderschutzgesetzen.
Insofern schmeichelt es Pawlow sehr, dass wir bei seinem Namen an den Hund denken, dem beim Läuten eines Glöckchens buchstäblich das Wasser im Mund zusammen läuft, weil er darauf konditiniert wurde, das dem Erklingen des Glöckchens immer das Futter folgt - und nicht an die Waisenkinder, denen Pawlow experimentell am Kehlkopf herumschnibbelte.
Wir könnten aber auch an moderne Open-World-Spiele denken. Und an einen erfahrenen Entwickler, der auf der GDC in einem Vortrag namens “Typische Open-World-Probleme” von “Open-World-Müdigkeit” sprach und konstatierte: Spieler erkunden nicht. (Opens in a new window)
Nun gibt es sicherlich eine Reihe von Gründen für dieses Phänomen, das unter Entwicklern übrigens längst nicht so neu und erstaunlich ist, wie es die Medien teilweise suggerieren. Aber einer davon - und noch dazu einer, der in meinen Augen tatsächlich relativ neu und einigermaßen erstaunlich für manche Entwickler sein dürfte - bringt uns zurück zu Iwan Petrowitsch Pawlow, bei dem man weder Tier noch Kind sein wollte. Denn ich behaupte: Open-World-Spiele haben den Spielern systematisch das Erkunden weg konditioniert.
Ein hübsches Beispiel dafür ist Assassin’s Creed Shadows. Natürlich kann man dort erkunden, und es wird bestimmt Menschen geben, denen das aufrichtig Spaß macht. Aber das Spiel gibt sich redlich Mühe, es allen anderen nach Strich und Faden madig zu machen. Gibt es abseits der Fragezeichen irgendetwas interessantes zu finden? Nein. Hat man nach spätestens 10 Stunden sämtliche Versatzstücke, aus denen diese Fragezeichen bestehen, gesehen? Ja. Macht es Freude, nach sechzig Stunden im 43. Tempel an drei Schreinen in die Hände zu klatschen, um seinen 176sten Skillpunkt zu kriegen? Sag du es mir.
Ich behaupte: Spieleentwickler haben sich viel zu lange keine Gedanken um Konditionierung gemacht, konkret um operante Konditinierung. Das ist die, wo ein gewisser Burrhus Frederic Skinner die Bühne betritt, bei dem man auch kein Tier sein wollte, denn er hat Elektroschocks dabei. Vereinfacht gesagt: wird ein Verhalten belohnt, wird es wiederholt. Wird ein Verhalten bestraft, wird es vermieden.
Ich hege den Verdacht, dass erschreckend viele Spieleentwickler immer noch denken, das Fragezeichen oder der 176ste Skillpunkt im 43. Klatschtempel sei eine Belohnung - und gar nicht mitbekommen haben, für wie viele Spieler er mittlerweile eine Bestrafung ist. Natürlich erkunden diese Spieler nicht. Denn sie wurden für diese Mühen so oft bestraft, dass man ihnen die Neigung nicht nur abgewöhnt hat, sondern dabei auch noch mit der verhaltenstheoretisch effektivsten Methode arbeitete, die das Lehrbuch hergibt.
Mit besseren Quests, interessanteren Fragezeichen und mehr Lametta abseits der Markierungen wird das Phänomen nämlich nicht verschwinden. Wer sich ein wenig mit Verhaltentheorie beschäftigt, weiß, dass eine Konditionierung verflucht hartnäckig ist und es kolossaler Anstrengung bedarf, sie wieder loszuwerden (deshalb, Freunde und Nachbarn, arbeiten schlaue Hundetrainer und -besitzer quasi ausschließlich damit, denn dann braucht man überhaupt keine Gewalt, ja nicht mal negative oder aversive Reize).
Kurz: In ihrer Gier nach immer größeren Open-World-Welten (dazu diese Woche mehr in einem Podcast) haben Publisher und Entwickler ihren Spielern das Erkunden dieser Welten konsequent abtrainiert. Und sitzen jetzt im selbst geschaufelten Grab und wundern sich, warum - och, sagen wir - keiner das Star-Wars-Universum erkunden möchte, wo das doch ein so tolles Universum zum Erkunden ist.
Würde ich mich heute so richtig verwegen fühlen, würde ich womöglich sogar behaupten: Open World ist tot, es hat nur noch keiner mitgekriegt. Aber das ginge zu weit, auch wenn ich die These sexy finde, weil ich tatsächlich denke, dass sich dieser Trend sozusagen notwendig umkehren muss, obwohl es momentan höchstens circumstantial evidence gibt, wie eine US-Anwaltsserie das nennen würde.
Kein Argument gegen meine These wäre übrigens: Naja, es gibt so viele Open-World-Spiele, und so viele sind in Arbeit, das kann ja gar nicht sein. Die meisten Kutschen und Kutschenhersteller bzw. -zulieferer existieren nämlich, kurz bevor es Automobile gab. Und das gilt für nahezu sämtliche Dinge, die irgendwann von anderen Dingen abgelöst wurden. Marktdominanz alleine ist ein lausiger Indikator für zukünftige Entwicklungen.
Warum nicht Capybara werden?
Also heute. Jetzt gleich. Und das Filmgoodie zu Konklave hören, das JR und ich aufgezeichnet haben und das mir viel mehr Freude machte als der Film, weil JR natürlich die besten Sachen über Papstwahlen weiß, die man wissen kann.
Einfach mal das Abo auf 10€ umstellen, ein tolles Wasserschweinchen werden und die Woche gepflegt mit einem Goodie beginnen, empfiehlt auch Professor Scout. Und die muss es wissen, so einen ausgedachten akademischen Titel hat nicht jeder!
Was wir spielen
Dom und ich huschen nach wie vor durch die Schatten (oder in meinem Fall: spielen Baseball mit den Schädeln bedauernswerter Gegner, große Keulen = große Freude, sagt Dr. Spielspaß), JR lustwandelt in der Postapokalypse von Atomfall, und Sebastian hat offensichtlich unverschämt viel Wonne an 33 Immortals, das er mir gerade als “Hades mit 33 Spielern” erklärte, was irgendwie hirnrissig klingt, aber cool hirnrissig.
Perspektivisch steht bei mir übrigens die schon 2019 mit Maurice Weber angekündigte Rückkehr zu Anno 1800 auf dem Programm. Denn ich plane mit Anno-Expertin Géraldine die endgültige Antwort auf die Frage, ob Anno 1800 nach dem einem Zerg-Angriff nicht unähnlichen DLC-Flächenbombardement tatsächlich das beste Anno aller Zeiten ist, also besser als Anno 1404, was ich mir irgendwie nur schwer vorstellen kann, weil Anno 1404 quasi perfekt war, aber ich bin bereit, Chancen zu geben, wo Chancen gegeben werden müssen.
Das wird allerdings - nicht zuletzt aufgrund des schieren Umfangs - eine Sache von mehreren Wochen, rechnet also frühestens Ende April damit.
Was wir sonst noch machen
Uns neue Formate ausdenken, zum Beispiel! Am Freitag erscheinen die ersten beiden Folgen der Sendung mit dem Ralf (Arbeitstitel), wo wir zusammen mit Ralf Adam der Frage auf den Grund gehen, warum Spiele eigentlich so sind, wie sie sind.
Warum beispielsweise sind Spiele so grotesk groß geworden? Und warum haben so viele ein Problem mit einem guten Balancing? Welche Überlegungen laufen da hinter den Kulissen, welche Faktoren spielen für Entwickler, Produzenten, Publisher eine entscheidende Rolle und welche gar keine, auch wenn Spieler noch so laut danach rufen. Wahrscheinlich gibt es im deutschsprachigen Raum niemanden, der das besser weiß als Ralf, denn er ist der Winston Wolf der Videospiele und wird gerufen, wenn die anderen nicht weiter wissen.
Tja, und bald wisst ihr das auch. Ich freue mich schon sehr darauf, denn es war höchste Zeit, mal wieder ein Format aus der Entwickler- und Producer-Perspektive im Programm zu haben. Mehr dazu gibt’s natürlich am Donnerstag in der Weltherrschaft auf die Ohren.
Habt einstweilen eine fantastische Woche, seid tapfer wie Samwise Gamgee und schlau wie King Shrewd aus Robin Hobbs Assassinen-Trilogie (tragisch, dass die hierzulande kaum einer kennt) und genießt den Frühling.
Jochen

Wer ist immer noch ein guter Hund? Scout ist immer noch ein guter Hund!