Skip to main content

Empfehlung: Das Grauen von Dunwich (Lovecraft/Baranger)

Wer kürzlich in Silent Hill war, hat im Nebel des Unheimlichen vielleicht ein fernes Rauschen von Dunwich vernommen. Zwar hat sich Keiichiro Toyama für sein Spiel auf der PlayStation nicht direkt von H.P. Lovecraft, sondern von okkultem Horror im Allgemeinen und David Lynch im Speziellen inspirieren lassen - mehr dazu in der Rezension von Silent Hill 2 (Opens in a new window).

Aber er platzierte seine Kleinstadt bewusst in Neuengland, wo sich bekanntlich andere fiktive Orte des Horrors wie Stephen Kings Castle Rock oder Lovecrafts Arkham und Dunwich finden. Und wer weiß, vielleicht hat Toyama damals bei der Namenssuche für sein Videospiel an den ähnlich klingenden Sentinel Hill gedacht.

In der 1928 von H.P. Lovecraft verfassten Kurzgeschichte spielt dieser Berg als unheilvolle Altar- oder Grabstätte aus alter Zeit eine wichtige Rolle. Man findet ihn unweit der Farm der Familie Whateley, in der eine Prophezeiung kursiert:

„Lasst mich euch etwas sagen - eines Tages werdet ihr hören, wie ein Kind von Lavinny auf dem Gipfel des Sentinel Hill den Namen seines Vaters ruft!“

Diesen von Hexengeschichten umrankten Ort bildet François Baranger (Opens in a new window) ebenso wie viele andere in der farbig illustrierten Ausgabe Das Grauen von Dunwich (Opens in a new window) überaus stimmungsvoll ab. Wenn man durch die 64 Seiten im Großformat (26x35cm) blättert, begegnet man zuerst dem Nebel, der sowohl das düstere Farmhaus des Covers als auch die Hütte im Moor und den Panoramablick auf die Hügel umwallt.

(Opens in a new window)

Nicht ohne Grund fühlt man sich ein wenig an Artbooks zu Videospielen erinnert, denn Baranger hat als Illustrator u.a. für Heavy Rain und Beyond: Two Souls gearbeitet. In dieser Ausgabe wird aber nichts in Skizzen oder schwarzweißen Konzepten angedeutet, sondern jede der meist doppelseitigen Szenen ist vollständig koloriert und ausgearbeitet. So blickt man beim Lesen der Geschichte quasi in Gemälde. Mir hat dieses visuelle Schmökern jedenfalls sehr viel Freude bereitet.

Baranger verwendet trotz des Nebulösen und trotz der Schatten einen angenehm klaren und gediegenen Stil, der naturalistisch und nicht überzeichnet oder abstrakt ist. Die Kontraste zwischen Hell und Dunkel sind dominant, aber es entsteht neben der schwelenden Unheimlichkeit eine Atmosphäre des Historischen und Authentischen, die ja auch Lovecrafts Fundament war.

Zumindest versuchte er den Leser meist langsam auf das vorzubereiten, was da unter der Oberfläche Neuenglands lauern konnte. Auf jeder Doppelseite ist übrigens ein Absatz in größerer Schrift herausgehoben, der meist einen direkten Bezug zur Illustration hat - wenn man etwa in eine Schlucht blickt oder der Arzt den alten Whateley untersucht.

(Opens in a new window)

Das hat mir gut gefallen und ist ein netter Service für all jene, die die Geschichte schon auswendig kennen oder nur ein wenig in die Atmosphäre abtauchen und Auszüge lesen wollen; der Text basiert übrigens auf der deutschen Übersetzung von H.C. Artmann. Im amerikanischen Original erschien sie ja 1928 das erste Mal im Pulp-Magazin Weird Tales 13/4 - mehr dazu in dieser Erkundung (Opens in a new window).

Sie war damals schon sehr beliebt bei den Lesern und gehört neben Cthulus Ruf bis heute zu den bekanntesten Erzählungen - auch wenn man darüber streiten kann, ob sie zu den besseren gehört. Lovecraft reihte sie und andere jedenfalls in seinen "Arkham-Zyklus" ein, in dem er sein pseudohistorisches Neuengland auf einer Landkarte mit geografischen Beschreibungen und Fixpunkten wie der Miscatonic-Universität lebendig werden ließ.

Er machte das so glaubwürdig, dass einige Leser seiner Geschichten diese fiktiven Orte in Massachusetts tatsächlich suchten - übrigens bis heute. Und so manche markanten Orte wie etwa die von Lovecraft beschriebene Schlucht, die natürlich auch Baranger in diesem Bildband illustriert, meinen einige z.B. in Bear's Den in der Nähe des realen Athol gefunden zu haben - zumal Lovecraft dort wohl unterwegs war.

Eine seiner literarischen Stärken war ja das detaillierte und bildhafte Beschreiben von Monstrositäten. In dieser Geschichte über Dunwich, die einen der längsten Auszüge des (ebenfalls fiktiven) Necronomicon enthält, kommt es ja in der Schlucht von Dunwich zu einem finalen Aufeinandertreffen mit einer grotesken Kreatur, die der verwirrte Curtis nur so beschreiben kann:

"Größer als 'ne Scheune ... ganz aus Seilen gemacht, die sich winden und krümmen ... das halbe Ding ist so ähnlich wie'n Hühnerei geformt, größer als alles, was ich je gesehen hab, mit'n paar Dutzend Beinen wie Tonnen, die halb zusammenschnurren, wenn's nen Schritt macht ... nichts Festes abn dem ganzen Ding dran - alles wie Gallert und's besteht aus einzelnen sich windenden Seilen, die ganz dicht beieinanderstehen ... überall mit großen hervorquellenden Augen bedeckt ... zhen oder zwanzig Mäuler oder Rüssel steht überall an den Seiten raus, groß wie Ofenrohre, die's hin und her schleudert und die sich öffnen und schließen ... ganz grau mit so'ner Art blauen und violetten Ringen ... und Herr im Himmel, da is'n halbes Gesicht obendrauf!"

Wie zeichnet man das bloß? Einerseits sind da viele Details, aber alles scheint zu mutieren. Trotzdem wagte sich schon anno 1929 der Illustrator Hugh Rankin für Weird Tales daran und erschuf Folgendes:

Baranger sieht im Jahr 2023 eher das hier:

Wer es chronologischer mag oder angesichts der Illustrationen doch Sammelreize entwickelt, findet bereits ältere Bände von Baranger, durch dessen Schaffen man auf seiner Webseite (Opens in a new window) stöbern kann.

In der Reihe bei Heyne sind schon zwei Bildbände von ihm erschienen, Cthulhus Ruf im Jahr 2020 und Berge des Wahnsinns im Jahr 2022; im April 2025 erscheint dann Der Schatten über Innsmouth.

Ach so: Wer sich eher für Comics statt Bildbände interessiert, könnte sich mal Das Grauen von Dunwich (Opens in a new window) des japanischen Künstlers Gou Tanabe (Kasane, Mr. Nobody) ansehen, dessen Manga seit April 2024 bei Carlsen in drei Teilen erhältlich ist und der kürzlich abgeschlossen wurde.

Vielen Dank an alle Steady-Unterstützer (Opens in a new window), die dieses kleine Spiele-Magazin mit ihrem Abo möglich machen. Es würde mich freuen, wenn ihr auch an Bord (Opens in a new window) kommt!

Topic Erkundung

0 comments

Would you like to be the first to write a comment?
Become a member of Spielvertiefung and start the conversation.
Become a member