Warum du keinen Chef brauchst
Es ist Montagmorgen. Du liest die Blaupause, den Newsletter, mit dem du Communitys besser verstehst und erfolgreich Mitgliedschaften anbietest. Diese Woche: Warum Krautreporter seit anderthalb Jahren keine Chefredakteur:in mehr hat.
Hallo!
Redaktionen haben Chefs. Inzwischen sogar ein paar Ausnahme-Chefinnen. Aber immer noch ist alles schön pyramidenförmig auf eine Person hin organisiert, die Ansagen macht. Das war in einer Zeit sinnvoll, als es sehr wichtig war, dass täglich ein bestimmter Andrucktermin gehalten werden konnte, also im industriellen Zeitalter. In unserer Zeit, der postindustriellen, digitalen, Menschen-statt-Marken-, Post-Gorillafelsen-Phase der Medien, halte ich diese Organisationsform für überholt.
Nur: Kultur frühstückt ja bekanntlich gern Strategien (Opens in a new window). Weil vielen Medien nichts besseren einfällt, oder schlicht Beispiele fehlen, denen man es nachtun könnte, sitzen in vielen Redaktionen noch diese verlorenen Seelen, die alles selbst wissen, alles selbst bestimmen, alles selbst machen müssen, weil die handelsübliche Karriereleiter nun mal da endet, in der Chefredaktion.
Wie wir es bei Krautreporter anders machen, beschreibt heute Leon Fryszer, der Geschäftsführer des Magazins und (wie ich) Vorstand der KR-Genossenschaft (du kannst eine Krautreporter-Mitgliedschaft hier 30 Tage kostenlos testen (Opens in a new window)). Das Modell Redaktion ohne Chefredaktion passt vielleicht nicht für jedes Medium – aber ehrlich gesagt: wahrscheinlich schon! Wenn sich eine günstige Gelegenheit ergibt, könnte man das mit der post-heroischen Führung (Opens in a new window) ja mal ausprobieren. Hier steht, wie sowas klappen könnte.
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Warum wir ohne Chefredakteur:in arbeiten
von Leon Fryszer
Im März 2022 teilte mir unsere Chefredakteurin mit, dass sie kündigt. Die wichtigste und bisher gut besetzte Position in der Redaktion sollte sehr bald unbesetzt sein. Fast hätte ich angefangen, mit den Zähnen zu knirschen. Eine Redaktion funktioniert ohne Chefredakteurin nicht, dachte ich. Mein Co-Vorstand Sebastian Esser und ich sagten für den Rest der Woche alle Termine ab und trafen uns jeden Morgen zur Krisensitzung. Wir dachten, wir müssen schnell einen Ersatz finden – innerhalb der Redaktion oder außerhalb. Unser Problem: Wir wollten eigentlich keine neue Chefredaktion.
Chefredaktion: Ein unmöglicher Job
Chefredakteur:in zu sein ist, wie Dirigent:in zu sein und gleichzeitig alle Instrumente im Orchester spielen zu müssen. Der Tag ist lang, die Aufgabenliste auch. Chefredakteur:innen bestimmen die inhaltliche Linie der Redaktion. Sie rekrutieren talentierte Reporter:innen. Sie überarbeiten besonders sensible Texte. Sie bestimmen das Budget. Sie überwachen die Entwicklung der Website. Sie sorgen für gute Stimmung. Und dann sollen sie noch selbst Texte schreiben. Die Position der Chefredakteurin ist überfrachtet.
2015, 2017 und 2021 haben wir neue Chefredakteur:innen gesucht. Jedes Mal haben wir Chefredakteur:innen mit vielen Talenten gefunden, die den Job trotz aller Ansprüche unglaublich gut machten. Die Redaktion hat in der Zeit wichtige Recherchen umgesetzt und viele neue Mitglieder von unserer Arbeit überzeugt. Wir sind von 4.000 auf 16.000 Unterstützer:innen herangewachsen und haben Preise gewonnen. Trotz der Erfolge blieb keine Chefredaktion länger als drei Jahre im Job, egal wie glücklich wir waren.
Während unserer Krisensitzungen merkten Sebastian und ich: Das Problem liegt nicht an der Besetzung, sondern an der Position. Wir würden keine noch bessere Chefredakteur:in finden, als wir bisher hatten. Und wir hatten eine radikale Idee: Vielleicht sollten wir ohne Chefredakteur:in weitermachen. Was, wenn nicht eine Person die Aufgaben der Chefredaktion übernimmt, sondern alle gemeinsam? Die Kolleg:innen von Neue Narrative arbeiten so. Es kann also funktionieren.
Alle Fähigkeiten, die eine Redaktion braucht, finden wir unter den Krautreporter-Redakteur:innen. Wir haben feine Autor:innen, vorausschauende Planer:innen und starke Entwickler:innen. Die Redaktion kann die eigene Führung übernehmen. Eine Person stellt neue Mitarbeiter:innen ein, eine andere gibt Feedback und wieder eine andere sorgt dafür, dass alle gut über die Arbeit anderer im Team informiert sind. Organisationsentwickler nennen diese Art zu arbeiten Selbstorganisation. Wie das genau das alles bei uns funktioniert, hat mein Kollege Bent Freiwald hier (Opens in a new window) erklärt.
Eine Sackgasse
Je mehr wir uns mit der Idee beschäftigten, Aufgaben zu verteilen, desto mehr Vorteile erkannten wir. Einer davon: Wer Aufgaben nicht fest an Positionen vergibt, kann sie wieder umverteilen.
Bisher hatten wir freie Autor:innen zu festen Reporter:innen befördert. Dann zu stellvertretenden Chefredakteur:innen oder Textchef:innen und schließlich konnte man nur noch Chefredakteur:in werden. Auf diesem Karriereweg gibt es nur eine Richtung: nach oben. Und der Weg nach oben ist mit zusätzlichen Aufgaben verbunden, die man nicht mehr loswird.
Oft führt dieser Weg in eine Sackgasse, für Mitarbeiter:innen und die ganze Organisation. Man wird nicht befördert, die Position über einem ist besetzt. Chef:innen können auch nicht so einfach eine Pause einlegen. Die einen fühlen sich unterfordert, andere überfrachtet. Das perfekte Rezept für Frust.
Sind die Teile des Aufgabenpuzzles der Chefposition verteilt, können sich Redaktionsmitglieder passende Herausforderung suchen. Es gibt einen Weg nach vorne und auch wieder zurück. Wer lange reine Autorin war und sich bereit für eine Führungsaufgabe fühlt, kann sich für diese nominieren. Die Führungsrollen sind zum Beispiel das Einstellen neuer Mitarbeiter:innen, das Planen neuer Newsletter, das Moderieren der Teammeetings oder das Setzen neuer redaktioneller Ziele. Wer weniger Termine im Kalender haben und sich stärker auf die eigenen Texte konzentrieren will, kann diese Führungsrollen wieder abgeben.
Aus den Sackgassen gibt es jetzt Auswege. Plötzlich hat sich ein Problem gelöst, das wir gar nicht vorhatten zu lösen.
Spüren statt Kontrolle
Wir entdeckten noch mehr Vorteile: Entscheidungen trifft man mit verteilten Aufgaben sehr schnell und gemeinsam – weil alle Verantwortung übernehmen. Viele klassische Redaktionen arbeiten in einem Modus, den Organisationsentwickler:innen Command-and-Control nennen. Ein Team funktioniert, indem eine Chef:in bestimmt, wie gearbeitet wird.
So zu arbeiten setzt ein Genie als Chef:in voraus. Aber in einem Team, in dem alle Kolleg:innen gut ausgebildet, aufmerksam und motiviert sind, ergibt das oft wenig Sinn. Warum sollte nur eine Person entscheiden können? Organisationsentwickler zweifeln daran, dass das zu den besten Entscheidungen führt. Wir auch.
Die Alternative zu Command-and-Control , nennt man sense-and-response, also Spüren und Reagieren. Teammitglieder sollen Probleme in der Zusammenarbeit erkennen und Lösungen vorschlagen. Fast jede Woche treffen wir uns in einem Entscheidungsmeeting, in das alle Vorschläge einbringen können. Wie das genau funktioniert, hat Bent auch in seinem Text erklärt (Opens in a new window).
So zu arbeiten, passt zu unserem Community-Magazin. Unsere Chefredakteur:innen haben schon immer auf das Themen-Gespür unserer Reporter:innen vertraut. Diese tauschen sich in ihren Newslettern mit unseren Mitgliedern aus. Sie beobachten ihre Themengebiete. Sie entscheiden selbst und mit dem Rat anderer, worüber sie schreiben. Alle fällen ständig viele kleine Entscheidungen. Das macht uns zu einem experimentierfreudigen Magazin. Wenn eine Reporterin zum Beispiel eine Idee für ein neues Diskussions- oder Textformat hat, kann sie dieses einfach ausprobieren. Wir vertrauen darauf, dass jede:r selbst bewertet, ob die eigene Idee der Mission von Krautreporter dient. Niemand hat einen Veto-Knopf, um eine Idee aufzuhalten.
Wir glauben, es ist Zeit für diese Öffnung unserer Arbeitsweise. Das Vertrauen in Medien schwindet seit Jahren. Gerade bei jungen Menschen. Sie fremdeln mit den Medien. Immer weniger Berufsanfänger:innen bewerben sich für Journalist:innen-Schulen. Bei Krautreporter haben wir uns entschlossen, diesem Temperaturabfall etwas entgegenzusetzen: Augenhöhe. Wir sprechen mit unseren Mitgliedern. Wir beteiligen sie immer wieder an unserer Arbeit. So wollen wir Vertrauen wieder aufbauen. Aber für diesen neuen Journalismus braucht es neue Strukturen. Damit Journalist:innen und Leser:innen sich auf Augenhöhe begegnen können, sollten auch Journalist:innen sich auf Augenhöhe begegnen. Und genau das wollen wir mit unserer neuen Arbeitsweise erreichen.
Wir haben es getan
Seit Mitte 2023 arbeitet die Redaktion mit verteilten Aufgaben. Als wir, der Vorstand, unsere Idee das erste Mal vorgestellt haben, waren viele neugierig und offen. Aber es gab auch Vorbehalte gegenüber der Abschaffung der Chefredaktion. Es war nicht klar, ob es der richtige Weg ist. Und seitdem wurde immer wieder kontrovers diskutiert über die Vor- und Nachteile (Opens in a new window). Wichtige Kolleginnen haben uns aufgrund der Umstellung verlassen. Wir haben mit dem Abschaffen der alten Hierarchie nicht alle Reibungen in der Zusammenarbeit abgeschafft. Es gibt gute Gründe, andere Arten der Zusammenarbeit zu wählen als die Selbstorganisation. Und außerhalb der Redaktion arbeiten wir weiterhin ohne verteilte Führung.
Aber schon einige Monate nach dem Abschaffen der Hierarchie zeigte sich: Es funktioniert. Auch ohne Chef:in hat die Redaktion in der Zwischenzeit souverän auf anspruchsvolle Nachrichtenlagen reagiert: den Israel-Palästina-Konflikt, die Wahl von Donald Trump, das Ende der deutschen Regierungskoalition. Auch die Zufriedenheitsumfragen im Team zeigen gute Ergebnisse. Vielleicht haben wir genau zehn Jahre nach der Gründung von Krautreporter aus Versehen genau die Arbeitsweise gefunden, die zu uns passt.▪️
Bis nächsten Montag,
👋 Sebastian
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Ich bin, wie letzte Woche erwähnt, gerade im Winterurlaub in New York.
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