Guten Tag, werte Lesende!
Wisst ihr noch, damals, 1998? Modern Talking kommt zurück, Cher veröffentlicht Believe, Wolfgang Thierse wird Bundestagspräsident und das Schweinsohr Pilz des Jahres. Die Bundesregierung zieht von Bonn nach Berlin, der großartige Jürgen Leinemann leitet das Parlamentsbüro des Spiegel, und ich darf ihm dabei helfen. Helmut Kohl wird nach 16 sehr langen Jahren abgewählt und Wolfgang Schäuble fortan die Rettung der CDU misslingen. Vor allem aber: Rotgrün. Aufbruch. Ein Land wird durchgelüftet.
Nennt mich romantisch, aber derzeit liegt ein Hauch von 1998 über Berlin. Olaf Scholz spricht über die Ampel wie über eine Sommerliebe, einst Verfeindete machen Selfies, vielleicht lüpft Christian Lindner gar den Steuersparerpanzer. Gegenüber, auf der dunklen Seite der Macht, führen Laschet/Söder ausdauernd auf, worauf die Menschen draußen im Lande definitiv keinen Bock mehr haben.
Ja, Aufbruch. Und ich war dabei. Dieses Foto von damals muss sein. Veteranenehre. Ja, ich platze vor Stolz. Das ist diese journalistische Distanz, von der alle reden. Die Krawatte ist übrigens ein Fake aus China mit falschem Armani-Logo.
Aufbruch also, Hioffnung auf einen gesellschaftlichen Klimawandel, bei dem Markus Söder die Rolle des Kohlendioxids übernimmt und Robert Habeck vielleicht den Part des Chlorophylls.
Viel Freude!
Herzlich, Hajo Schumacher
PS: Spaß an Schumachers Woche? Für alle, die meine Arbeit unterstützen möchten und können, gibt's hier (Opens in a new window) die Möglichkeit. Diese Woche verlose ich unter allen Steady-Freunden ein auf Wunsch signiertes Exemplar von Kein Netz. (Opens in a new window)
Selfies der Woche
Weil bei Regierungswechseln das Einschleimen bei den Neuen eine der zentralen Tugenden des politischen Beobachters ist, habe ich bei Maischberger die Stützen einer möglichen Ampel-Koalition heimgesucht. Claudia Roth war schon 1998 dabei, Marie-Agnes Strack-Zimmermann erinnert an die ganz großen Frauen der FDP und Rockin´ Ralle ist auch wieder da. Na, das wird ein Spaß.
Tüte der Woche
Bei fast allen Sachfragen waren sich die beiden o.g. Frauen uneins, aber die Legalisierung von Cannabis wollen beide. Lieber Markus Söder, wie wäre es mit einer richtig fetten Tüte? Und dann einfach mal ein Wochenende chillen.
Habeck der Woche
Stil vor Zahlen
Ein zukunftsfestes Deutschland braucht mehr als Geld und Gesetze. Mit seinem kooperativem Ansatz könnte der Ober-Grüne Robert Habeck schon die Koalitionsrunden entscheidend modernisieren.
Wer Robert Habeck verstehen will, sollte Casimir Ulrich Boehlendorff kennen. Boehlendorff war mit Hölderlin befreundet, doch Schiller und Goethe mochten ihn nicht, worunter er sehr litt. Mangels Vermögen diente Boehlendorff als Hauslehrer in Bern, wo er erlebte, wie ein feudales Privilegiensystem umgekrempelt wurde. Ab 1799 entstand in der Schweiz ein frühes, demokratischen Staatswesen, das aber nur fünf Jahre hielt. Habeck behandelt in seiner offenbar plagiatsfreien Magisterarbeit Boehlendorffs Hauptwerk „Geschichte der Helvetischen Revoluzion“. Seither beschäftigt sich Deutschlands vorläufiger Vizekanzler intensiv mit dem Gelingen gesellschaftlicher Umbrüche, theoretisch als Schriftsteller und Philosoph, praktisch als Grünen-Politiker. Bevorzugt löst er ideologisch aufgeladene Probleme wie Atommüll, hungrige Wölfe oder Identitätspolitik.
Habecks Mission: Er ist der Anti-Trump. Nicht polarisierend, dumm, respektlos, falsch, beleidigt, engstirnig, sondern offen, respektvoll, kompromissbereit und lösungsorientiert. Wir vor Ich, Stil vor Kasse, Herz vor Hass. Dass Habeck nun, nach dem mittelguten Wahlkampf von Annalena Baerbock, die Führung der Grünen übernimmt, liefert einen ersten Eindruck dieses modernen Denkens: Sie hatte ihre faire Chance, jetzt ist er dran. Ein respektvoller Wechsel ohne Verletzung und Schuldzuweisung, mit dem gemeinsamen Blick nach vorn. Setzt sich Habecks Art durch, könnte das Modernisieren Deutschlands mit einem neuen Umgang in den Koalitionsgespräche beginnen.
Habeck ist ein rares Politikerexemplar. Sein Lieblingsthema: Die Paradoxe der modernen Gesellschaft ob mehr Konsum, aber weniger Wohlbefinden, mehr Kommunikation, aber weniger Information, mehr Individualität, aber schwindende gesellschaftliche Solidarität. Sein Ansatz: Unterschiede aushalten ohne Schützengräben auszuheben. Seine Methode: Reden, zuhören, erklären. Sein Wertemuster: Erst die Menschenwürde, dann Geld und Zahlen.
Kooperatives Führen, das in Teilen von Wissenschaft und Wirtschaft längst angekommen ist, gilt im politischen Berlin noch als revolutionär. Hier herrscht ein mechanistisches Weltbild, das an immer mehr Gesetze und Formalien glaubt, von zu drückenden Knöpfen und berechenbaren Ergebnissen. Zahlreichen Krisen und Fehlentwicklungen belegen, dass weder Schuldenbremse noch Juristen das Land retten. Eine Dreier-Koalition, ganz gleich ob Jamaika oder Ampel, brauche „eine eigene neue Logik“, so Habeck, die das archaische Lagerdenken der Parteien überwinde und deren Clan-Werten wie Ehre, Verrat und Rache.
Habecks Ansatz hat sich in Schleswig-Holstein mehrfach bewährt. Als Minister versöhnte er Landwirte mit Ökologie oder handelte den „Muschelfrieden“ aus, bei dem es um naturgemäße Miesmuschelzucht ging. Er hat sich mit Bürgerfonds befasst und kann erklären, warum Schulden für Innovationen nicht böse sein müssen. In seinen beiden Beststellern befasst er sich mit der Macht der Sprache und Kooperationsstrategien, die etwa jene verlustreichen Streitereien ablösen, die die Union zuletzt hingebungsvoll pflegte. Dringender Lesetipp für Markus Söder. Weder Lindner noch Scholz, weder Laschet noch Merz haben Habecks praktischem und theoretischem Fundus viel entgegenzusetzen.
Bleibt die Frage, ob Habeck Mantra „Stil vor Inhalt“ die Traditionalisten überzeugt. Bislang galt, das in den Koalitionsrunden vor allem zwei Themen besprochen werden: Geld und Posten. Diese Logik des Verhandelns aber folgte der von Gewinnern und Verlierern. Weil diese Bundestagswahl keinen überlegenen Sieger hervorbrachte, sondern vier mehr oder weniger große mittlere Parteien, ist künftig mehr Respekt und Augenhöhe gefragt, der Bedarf an fairer Abstimmung wächst.
Habecks erste Aufgabe könnte gleich seine schwerste werden: FDP-Chef Christian Lindner von einem vertrauensbasierten, kooperativen Stil zu überzeugen. Das war der Kanzlerin 2017 nicht gelungen.
Mit freundlicher Genehmigung der Berliner Morgenpost
Grummel der Woche
Nicht ganz so viel Aufbruch erwartet Harald Welzer, einer der bekanntesten Sozialpsychologen des Landes. Eigentlich heißt unser kleines Paarprojekt ja "Mutmach-Podcast". Hat mit Welzer nur bedingt geklappt. Kostprobe: "Ist da irgendwas an diesem Wahlergebnis, was Ihnen Mut macht?" Welzer: "Nö!"
Trigger-Warnung: Welzer und die Wahl (Opens in a new window)
Verlegerin der Woche
Julia Becker führte ein geruhsames Leben auf einem Gestüt bei Münster. Jetzt stürzt sie sich als Verlegerin der Funke Mediengruppe verwegen in die mediale Schlacht und will Regionalzeitungen zukunftsfest machen. Wenn das kein Aufbruch ist. Als Autor für die Berliner Morgenpost und viele andere traditionsreiche Funke-Blätter bin ich befangen und begeistert zugleich. Tageszeitung will never die.
Tragik der Woche
Man mus nicht alles toll finden, was Carsten Linnemann von der CDU im Programm hat. Aber der Buchhändler-Sohn aus Paderborn ist zweifellos ein politisches Talent und obendrein schmerzfrei, weil Vizepräsident des SC Paderborn 07. Linnemann hat die Wahlniederlage der CDU schonungslos als historische Zäsur eingeordnet, weist auf den schleichenden Abstieg in den vergangenen zehn Jahre hin, er beschreibt die Erosion seiner Partei und hat die Mühsal des Comebacks als einer von bislang Wenigen kapiert. Das Tragische: Unter Kanzlerin Merkel wartete er schon drei Legislaturperioden, um etwas mehr zu werden als der Mittelstandsonkel der Unions-Fraktion. Und jetzt geht´s womöglich für eine Weile in die Opposition. Es gehört zur Tragik des politischen Betriebs, dass manche Talente wahnsinnig gern aufbrechen würden, aber einfach nicht gelassen werden.
Dreier der Woche
Ja, ich bin ein schlichtes Gemüt, aber angesichts des nahenden Dreibunds in Berlin musste ich an ein Pärchen aus unserem erweiterten Bekanntenkreis denken, dass nach langen Ehejahren die Beziehung nun geöffnet hat für eine dritte Person. Mathematisch gesehen kommen ja nur 50 Prozent dazu, aber kulturell betrachtet entsteht ein neues Universum mit neuenr Regeln. Nach ersten Recherchen funktioniert ein Dreieck nur, wenn alle Beteiligten auf Hinterlist, Zynismus und Mega-Ego verzichten. Also nichts für Markus Söder.
Die Kunst des Dreiecks
Unerhört, also wirklich. Neulich erfuhr ich von einem entfernt bekannten Paar, das nach vielen aufopferungsvollen Ehejahren die Partnerschaft geöffnet hat, für einen gemeinsamen Freund. Die Frau hat nun zwei Männer, die sich beide angeblich bestens verstehen. Man wohnt, isst, urlaubt, schläft zu dritt. Statt Bienen jetzt also Bonobos, jene Affenart, die Konflikte bevorzugt beim Liebesspiel bewältigt. Bei diesem Dreibund, so berichtet ein Spion, sei viel Rücksicht vonnöten, Respekt und permanente Kommunikation auf Augenhöhe. Sechs Ohren hören eben noch mehr zartgiftige Untertöne. Trio, Triell, Triage? Man weiß es nicht. Ein Ego-Hooligan wie Markus Söder hätte jedenfalls keine Chance im Dreieck.
Und schon sind wir bei der neuartigen Koalition, die sich da anbahnt. Deutsche Nachkriegsregierungen wurden ja stets nach dem vorherrschenden Partnerschaftsmodell gebildet. Lange Jahre galt die patriarchalische Konstruktion: Eine große Volkspartei, CDU oder SPD, übernahm den mächtigen, männlichen Part, die kleine Partei, FDP oder Grüne, erfüllte vorwiegend repräsentative Pflichten, etwa als Außenminister. Selbst die vermeintliche rotgrüne Hippie-Koalition funktionierte noch nach dem Koch-Kellner-Modell: Der Mann war zuständig für die Macht, der Rest war Gedöns. Es folgten die großkoalitionären Jahre, wo die Macht nicht gleich, aber zumindest ausgeglichener verteilt war. Immerhin hatte eine Kanzlerin das Sagen.
Nun treten wir in die Ära des Dreiers ein, wo das Verhältnis völlig neu arrangiert ist. Ab sofort sind zwei Mittelstarke mächtiger als jeder Dritte im Bunde: alle kochen und kellnern gemeinsam, selbst der Abwasch sollte tunlichst kooperativ erfolgen. Balancebereitschaft ist gefragt. Kein Nehmen ohne Geben. Hinterlistigkeiten werden erschwert, von allen Partnern wird Offenheit und Kompromissfreude verlangt. Olaf Scholz, der zu Koch-und-Kellner-Zeiten sozialisiert wurde, spricht plötzlich von „echter Zuneigung“. Ich schaue im Schrank mal nach den alten Kuschelrock-Platten.
Mit freundlicher Genehmigung der Berliner Morgenpost
Ach ja, und noch was. Ich wünsche mir ja eine bizarre Kolumne für diesen Newsletter von einer spitzen fremden Feder. Nun lief mir durch Zufall jemand über den Weg, der sich auf Sylt gut auskennt, jener Insel, auf der wir Armin Laschet, Friedrich Merz und viele andere ältere Herren mit Tagesfreizeit demnächst vielleicht häufiger sehen werden. Sylt? Ja, ihr jungen Menschen: Sylt. Das ist so ein Boomer-Mythos. Guckstu hier: Die Schönen und die Reichen (Opens in a new window)
Hier ein Teaser, nächste Woche mehr. Der Autor wird erstmal nicht verraten, wir suchen zunächst einen Medienanwalt.
In Deutschland ganz, ganz oben
Am 7. Mai 1972 hat der NDR einen legendären Film über ein kleines Dorf ausgestrahlt, und konnte nicht wissen, was er damit angerichtet hat. Der Film "Die Schönen und die Reichen" zeigt in den Farben der 70er Jahre die geschlossene Gesellschaft des Ortes mit der Postleitzahl 25999 - Kampen auf Sylt. Es ist ein Rendezvous mit den Playboys und Playern der damaligen Republik. Von Rudolf Augstein über Verlagserbe Richard Gruner, Bertold Beitz, Peter Boenisch, Conny Ahlers, Claus Jacobi, Axel Springer & Co bis natürlich Gunter Sachs, der auf seiner BMW sitzend am Ortseingang dieses verträumten ehemaligen Fischerdorfes den Urlaubsgästen Autogramme auf Zwanzig-Mark Scheinen gibt. Der Titel des Films wird seitdem als Label für die ganze Insel benutzt, die verzweifelt versucht aus dieser herrlich silikonfreien Vergangenheit Kapital zu schlagen. Das kann der Insel aber schon deshalb nicht gelingen, weil es dieses Sylt schlichtweg nicht mehr gibt. Es ist einfach untergegangen. Die Playboys, Playgirls, Verleger und Chefredakteure sind alle tot. Das "Karlchen", wo sich Werner Höfer einst für seinen internationalen Frühschoppen gepflegt warm getrunken hat, gibt es auch nicht mehr. Der Pony Club wurde erst durch einen vom Gewerbeaufsichtsamt verdonnerten Umbau (mehr Toiletten bitte) verschandelt, um dann durch seinen neuen Nachbarn, einen Parfümerie- Unternehmer aus dem Ruhrpott, wegen nächtlicher Ruhestörung für eine ganze Weile stillgelegt zu werden - mitten in der Saison. Nicht so dufte. Nein, so etwas hätte es in den 70ern nicht gegeben. Sicher hätten Gunter und seine Clique diesen ehrbaren Kaufmann einfach sehr höflich gebeten, ihnen doch einfach sein Haus zu verkaufen, denn dann wäre man auch wieder unter sich, und hätte seine Ruhe.
Damit sich die Lesenden dieses Newsletters ein eigenes Urteil über dieses kleine Seeräubervolk und seinen beliebten Wohnort bilden können, erscheint jetzt jede Woche eine wahre Geschichte über Sylt und die Sylter. So unglaublich und kurios wie die Preise für ein Fischbrötchen auf die Hand. Moin. Bis nächste Woche.
PS: Spaß an Schumachers Woche? Für alle, die meine Arbeit unterstützen möchten und können, gibt's hier (Opens in a new window) die Möglichkeit. Diese Woche verlose ich unter allen Steady-Freunden ein auf Wunsch signiertes Exemplar von Kein Netz. (Opens in a new window)