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Michael Endes "Die unendliche Geschichte" im Dreieck betrachtet

Einer meiner Lieblingstexte aus der Reihe der Vertiefungstexte ist der, mit dem ich versucht habe, die große Weisheit des Jugendbuches "Die unendliche Geschichte", vor allem aber ihre Aktualität herauszuarbeiten. Es möge euch als Leseprobe dienen. Im Classroom findet ihr den Text mit Skizzen illustriert.

Das aristotelische Drama-Dreieck, wie es die Entwicklung einer dramatischen oder literarischen Figur abbildet, in ganz kurz skizziert, sieht so aus:

Indem der Held oder die Heldin der Geschichte sich von den Kindheitsängsten, Verletzungen, Schmerzen und Konditionierungen emanzipiert, entwickelt er oder sie die liebevollen Ressourcen in sich, die ihn oder sie zu einem authentischen, integreren Erwachsenen machen, das heißt, zu einem Menschen, der mit sich selbst identisch und daher mit sich und der Welt im Frieden ist. Im Folgenden können die humanistischen Werte verwirklicht werden, für die man persönlich einstehen möchte. Fertig.

Und jetzt die Langform

Die Langform am Beispiel des Jugendromans “Die unendliche Geschichte” von Michael Ende. Ein Held oder eine Heldin, der oder die noch nicht weiß, dass er oder sie ein Held oder eine Heldin ist (und von dem oder der wir ab jetzt in der männlichen Grundform weitersprechen werden, damit wir uns nicht verrückt gendern), hat zu Beginn der Geschichte mächtige Probleme. Er (der heldenhafte Mensch also) fühlt sich als Opfer seiner Umwelt und der Umstände, in der er lebt.

In dem Jugendroman “Die unendliche Geschichte” ist Bastian Balthasar Bux ein kleiner Junge, der sich unendlich einsam, verloren und wertlos fühlt. Er hat seine Mutter verloren. Sein Vater ist in seiner eigenen Trauer gefangen und stellt keine Verbindung zu seinem Kind her. Bastian fühlt sich ungeliebt. Sein Wert wird von keiner Fürsorge bestätigt und von keinem Schutz gesichert. Als Antwort auf diese Schwingung treten andere Kinder auf, die sich genauso wertlos fühlen wie Bastian, aber sie versuchen ihren Schmerz zu kompensieren, indem sie ihn anderen zufügen. Durch die Macht- und Gewaltausübung, die Bastian in der schulischen Mobbingsituation erfährt, empfindet er seine Wertlosigkeit bestätigt. Er steckt also in mächtigen Schwierigkeiten als die Geschichte beginnt und er in das Antiquariat von Herrn Koriander flüchtet, einer Art Mentor wider Willen, selbst wenn er nichts weiter zu tun hat, als ein Buch liegen zu lassen.

Im grundsätzlichen Spannungsbogen unternimmt der Held einen ersten Versuch, um sein Problem zu lösen. Sein unerträglich gewordener Schmerz treibt ihn zum Aufstehen an. Der Schmerz wird zum Motor und eine in ihm aufglimmende Idee von einer besseren Wirklichkeit ist sein Ruf, dem er ab dann folgt. So kommt die Geschichte in Gang.

Da er in diesem ersten Lösungsversuch, seine Grundbedürfnisse zu sichern, aber noch aus der Angst vor dem Schmerz heraus agiert, aus der Angst vor der Wertlosigkeit im konkreten Fall des Helden Bastian, landet er nur im gegenüberliegenden Pol. Z.B. könnte es passieren, dass das vorherige Mobbingopfer jetzt andere so behandelt, wie er selbst behandelt wurde. Die zugrundeliegende Dynamik ist der Wechsel von der Selbsterniedrigung  zur Selbstüberhöhung. In der Realität bleiben die meisten Menschen leider an dieser Stelle, hier im zweiten Akt, stehen. Wenn der kleine Bruder bisher vom großen Bruder gemobbt wurde und jetzt erfährt, dass er durch körperliche Überlegenheit und Gewaltanwendung seinen Selbstwert vermeintlich sichern kann, wird er sich dem Bruder fortan überlegen fühlen, aber zugleich ständig in der Angst leben, der Überlegenheit verlustig zu werden. Im Spannungsbogen der Erzählung oder des Dramas scheitert der erste Lösungsversuch und er tut es auch im Leben. Der Mensch bleibt im Modus der Angst und der ständigen Anstrengung um die Selbstwertsicherung stecken.

Bastian seinerseits unternimmt noch sehr lange im Verlauf der Erzählung gar nichts, bis er eindringlich aufgefordert wird, der kindlichen Kaiserin einen neuen Namen zu geben. Er! Und jetzt! Nachdem er das geschafft hat, erhält er von der kindlichen Kaiserin, die jetzt Mondenkind heißt, das Zeichen der kindlichen Kaiserin überreicht. Auryn ist das Zeichen der Liebe, und Bastian wird sich bis zum Ende des zweiten Teils seiner Entwicklung zum weitest möglichen Punkt von Auryn entfernt haben. Wenn es für Bastian um den Selbstwert und seine Identität geht, dann war er in dem Gefühl von Wertlosigkeit gestartet, und bis er an den Ort “Die alte-Kaiser-Stadt” ankommt, bewegt er sich konsequent auf den Gegenpol, die Selbstüberhöhung zu. Er vergisst sein altes Ich, sein Kindsein und verdrängt seinen Schmerz. Er hat Angst vor diesem Schmerz und scheinbar hilft ihm sein innerer Kritiker, den Schmerz nicht mehr fühlen zu müssen, denn der Kritiker springt sofort gegen Atréju ins Feld, wann immer der Freund die Kindheitserinnerungen zu retten versucht. Jemand, der keine Vergangenheit hat, so lernt es Bastian am Ort “Die alte-Kaiser-Stadt”, hat auch keine Zukunft. So lernt es Bastian und so lernt es unsere Gesellschaft, die in manchen ihrer Teile dem Ort “Die alte-Kaiser-Stadt” gleicht. Es leben dort Individuen, die im Roman wie Verrückte dargestellt werden. Sie werden von einem Affen beaufsichtigt, der seine Späße mit ihnen treibt, um sie in Schach zu halten. Im Grunde erinnert der Affe an einen Diktator, aber auch an Nietzsches Ausspruch “Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgend ein Affe” (Friedrich Nietzsche: “Also sprach Zarathustra”). Er traut den Menschen keine Emanzipation von ihrer Verwirrtheit mehr zu (was Nietzsche auch nicht getan hat), sondern verwaltet nur noch den Irrsinn und die Ängste, damit es nicht zum Chaos kommt. Denn wenn es zum Chaos käme, wenn der Deckel von den Emotionen genommen würde, dann würden diese Menschen, die durch Selbstüberhöhung versucht hatten, ihrem Schmerz zu entkommen, indem sie sich auf den Thron der kindlichen Kaiserin setzen wollten, ihren Schmerz wieder fühlen. Weil sie aber vergessen haben, woher ihr Schmerz ursprünglich stammt, würden sie andere Menschen dafür verantwortlich machen und angreifen. Am Ende würden ganze Länder Krieg gegeneinander führen und die eigentliche Kriegsursache wäre die, dass die Menschen vergessen haben, dass jeder von ihnen mal ein Kind war, das nach Liebe und Fürsorge gefragt hatte und sie nicht bekommen hat. So wie Bastian. Mit dem Ort “Die alte-Kaiser-Stadt” endet Bastians Lösungsversuch im Scheitern.

Im Spannungsbogen einer schlüssig erzählten Geschichte, also auf der Handlungsebene, gibt es in ihrer Mitte einen U-Turn. Dramaturgisch gesprochen handelt es sich um den turning point oder die Wende. Damit die Wende stattfinden kann, muss im Helden ein kleines Maß an Bereitschaft entstehen und wie ein winziges Licht aufschimmern, so wie das Samenkorn in Bastians Hand geschimmert hatte, als Mondenkind es Bastian übergeben hatte, damit er Phantásien wieder zum Gedeihen bringe. Auch das innere Reich des Helden liegt brach in der Angst vor der Rückkehr des Schmerzes und es braucht einen göttlichen Funken, um es zu neuem Leben zu erwecken. Dieser Funke kann eine innere Frage sein: “Ist das alles so richtig, wie ich das hier bisher gemacht habe?” Es kann der Gedanken sein, ob es statt dieser Sicht wohl noch eine andere Sichtweise geben könnte. Es könnte die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens und nach der eigenen Bedeutung in diesem Leben gestellt werden. In Bastian glimmt diese notwendige Frage tatsächlich auf, als er sich fragt, ob es richtig war, Atréju als Feind anzusehen und zu behandeln, weil er glaubte, Atréju sei derjenige, der ihn von seinem Glück abhalten wolle.

In der Realität gibt es diese Frage auch. Ich sah einmal eine Reportage über einen ehemals rechtsextremistisch eingestellten Menschen, der nach der Geburt seines Sohnes bereit und in der Lage gewesen war, der Frage in seinem Innern Raum zu geben, ob Hass und Gewalt wirklich das ist, worin er seinen Kind zum Vorbild werden wollte. Was diesem Mann dann, nachdem er die Frage in seinem Innern zugelassen hatte, geschehen ist, ist das, was Bastian im “Änderhaus” bei der Dame Aiuóla widerfährt. Der Mann hatte sich, so sagte er, an den Hass und die Gewalt in seiner eigenen Kindheit erinnert. Er wurde wieder zu diesem Kind, und wo die Dame Aiuóla tiefes Mitgefühl für den wieder zum Kind gewordenen Bastian und all das Schwere aufbringt, das er erfahren hat, muss der Mann das heilende und notwendige Mitgefühl für sich selbst aufgebracht haben. Aus seinem Selbst, seinem Erwachsensein, seiner Emanzipation der Liebe heraus muss er Mitgefühl mit dem kleinen Jungen von damals gezeigt haben. Er für sich selbst. Durch die Geburt eines Sohnes war er in der Lage, bis auf den Grund seiner Wut zu schauen und er hatte Verständnis für den bisherigen Ausdruck seiner Wut. Aber da war auch Scham über den Irrtum, zu glauben, dass sein Schmerz abnähme, indem er ihn anderen zufüge.

Für den Mann ging die Geschichte allerdings etwas weniger angenehm weiter als für Bastian. Während Bastian im ewigen Sommer des “Änderhauses” mit Hasen und Eidechsen spielt, ließ der Mann sich nach und nach alle seine hasserfüllten Tattoos entfernen. Im Bericht hieß es, die Prozedur müsse extrem schmerzhaft gewesen sein und da er die Tattoo auch im Gesicht gehabt hatte, sah der Mann nach den Operationen nicht mehr aus, wie vor den Tätowierungen. Eine winzige Frage also wie die, ob man die Dinge auch anders sehen könnte, genügt und bringt unsere Schwingung in die identische Schwingung wie die eines Mentors, der im Moment der Wende auftritt, weil er schon lange bereitstand. Der Mentor kann ein Lehrer oder ein Neugeborenes oder auch ein liegengelassenes Buch sein. Die Weisheit liegt ohnehin im Helden selbst.

Was diese eingeleitete Wende wirksam werden lässt, ist die dramatische Konsequenz. Nummer 4. Im Spannungsbogen, also auf der Handlungsebene, ist das die einfache, logische Folgerichtigkeit. Im Fall des Mannes, der seine rechtsextremistische Haltung aufgegeben hat, war es die Tatooentfernung als äußeres Zeichen des Wandels. Aber noch wichtiger ist das, was hinter dem Wandel an neuer Kraft sichtbar wird. Nach dem Aufenthalt im Änderhaus entwickelt Bastian seinen letzten und wichtigsten Wunsch. Er will nicht mehr nur geliebt werden, was bisher seine tiefste und dringendste Sehnsucht, aber auch sein größter Schmerz war, genau, wie es der Schmerz des Mannes war, dessen Hass-Tattoos über genau diesen Schmerz gesprochen haben. Er will, genau wie der Mann, der zum Vater geworden war, selbst lieben. Er will alles können, was die Liebe kann, und “er”, das ist eine fiktionale Figur, wie auch ein realer Mensch, ein fiktionaler Sohn, wie ein realer Vater.

Ganz konkret bedeutet das für Bastian, dass er sehen kann, nämlich seinen Vater, der in einem Eisberg aus Trauer steckt. Und es ist der reale Vater, der in die Zukunft seines Sohnes blicken kann, in der ebenso ein Eisberg aus Trauer vorherrschen würde, wie er ihn selbst in seiner Kindheit erlebt hatte. Für Bastian bedeutet es den Wunsch, den Vater durch die Wärme der Liebe von seinem Eisgefängnis zu befreien. Und für den realen Vater bedeutete es, seinen Sohn vor dem Eisgefängnis zu bewahren. Dieser Wunsch lässt beide, die fiktionale Figur und den realen Menschen, sich in Bewegung setzen, um nach den “Wassern des Lebens” zu suchen. Bastian will dem Vater etwas von den “Wassern des Lebens” bringen, genau, wie es der Mann für seinen Sohn tun will. Das wahrnehmbare Wasser soll die Anwesenheit der Liebe spürbar machen.

Die Konsequenz aus dem inneren Wandel ist die, selbst lieben können zu wollen. Das Losgehen zum Chirurgen des ehemals rechtsextremen Menschen entspricht Bastians Losgehen in Richtung “Wasser des Lebens”.

Bastians neue Haltung ist Demut. Demut hat nichts mit Herabwürdigung zu tun, sondern mit der Selbstübereignung an die Liebe, an ihren Fluss und ihre Weisheit. Verkörpert wird die Liebe in der Geschichte von den Freunden Atréju und Fuchur. Als Gefährten und insbesondere da sie in dieser Geschichte Geschöpfe der Fantasie sind, sind sie die Projektionsflächen für das Licht des Helden. Die Liebe wird verkörpert von Atréjus Verzeihen gegenüber der Verwundung, die er durch Bastian erlitten hat. Gemeint ist Bastian Verzeihen sich selbst gegenüber, dass er sich selbst verwundet hat, indem er die Verwundung durch Andere zugelassen hatte. Zugleich wird die Liebe verwirklicht von Bastians Annehmen des Verziehenwerdens. Sie wird verwirklicht durch Bastians Ablegen des Hochmuts, indem er Auryns Macht aufgibt, und sie wird verkörpert durch die Kooperation und Loyalität des Glücksdrachen Fuchur, der sein Glücksdrachendasein  zur Verfügung stellt, um die “Wasser des Lebens” für Bastian verständlich zu machen und ihre Botschaft zu übermitteln. So wird der Drache zum Medium für die Liebe, während die Liebe durch den Drachen hindurchfließt und ihn als Kanal verwendet.

Bastians neue Haltung, das ist die Dreiecksfläche, ist Vertrauen. Er selbst weiß nicht mehr, wer er ist, nachdem er sich aller Schatten entledigt hat, weil er sich bisher nur über seine Schatten definiert hatte, aber sein Freund Atréju weiß es für ihn, und er erinnert Bastian an dessen Kern, indem er den Wassern von Bastians wahrem Wesen erzählt. Diese Wahrheit hat sich für Atréjus liebende Augen durch all die Dunkelheit hindurch gezeigt. Durch all die Versuche hindurch, der Angst vor der Wertlosigkeit Herr zu werden, konnte Atréju Bastians Wert sehen. Im Gegensatz zu all den anderen Weggefährten, die sich um Bastian geschart haben und die nur seine angstgeborene Arroganz für sich instrumentalisieren wollten, hat Atréju den Blick immer nur auf diesen wahren Wert gelenkt, egal, was Bastian getan hat, egal, welche Heldentat er vollbracht oder welchen Fehler er begangen hat. Atréju war Bastians Mond, der die Sonne des Helden reflektiert hat und er ist Bastians Sonne, als Bastian in die Dunkelheit versinkt. Mit welchem Recht Atréju die Erinnerung an Bastians wahres Selbst für ihn bewahrt habe, wollen die “Wasser des Lebens” von Atréju wissen, und Atréju antwortet: “Ich bin sein Freund”.

Im Spannungsbogen der Handlungsebene erhält der Held jetzt seine spirituelle Fähigkeit der Liebe. In den Märchen ist es der Lohn für die vollbrachten Heldentaten: Goldregen, ein Königreich, die Hand der Prinzessin, der Kuss des Prinzen. Das alles steht als Symbol für die Erlösung von der Angst. Es ist der Sieg der Liebe in jenem Stück Menschheit, das von der individuellen Liebe des Helden berührt wurde. Für Bastian ist es sein Bad in den “Wassern des Lebens”, das ihn von allem Ballast der Angst befreit und das der Emanzipation und der Intelligenz der Liebe den ganzen Raum überlässt. Bastian wird zu dem, wer er in Wahrheit ist. Er wird mit sich selbst identisch. Jetzt erkennt er seinen Wert in seinem puren Sein, den Wert an sich, einzig weil er als Mensch existiert.

Dann kehrt Bastian in seine Welt auf den Schulspeicher zurück, wo er das Buch “Die unendliche Geschichte” gelesen hatte. Jeder Held muss zurückkehren und in seiner Welt als die Verkörperung der Liebe wirken, zu der er geworden ist. Das wiedergefundene Licht muss verwirklicht werden. Jeder Held bringt etwas Neues in seine alte Welt, das die alte Welt erhellt und verändert, ohne sie zum Einstürzen zu bringen. Helden sind subtile Revolutionäre. Sie wirken einfach durch ihr Sein und nicht durch Schwerter oder Banner, die sie ihren vermeintlichen Feinden entgegenhalten. Denn obwohl Bastian das “Wasser des Lebens”, das er im letzten Moment geschöpft hatte, verschüttet hat, erreicht seine Wirkung den Vater. Der Eisblock der Trauer ist bereits geschmolzen, als Bastian in der Wohnung ankommt. Bastian strahlt jetzt eine friedvolle Kraft aus, die sich aus Stärke und Mut zusammensetzt. Indem er dem Antiquariatsbesitzer Herrn Koriander den Diebstahl beichtet, der am Ende gar kein Diebstahl war, weil “Die unendliche Geschichte” von der Liebe geschenkt wurde, selbst wenn sie von jemandem aufgeschrieben worden sein mag, erntet Bastian Herrn Korianders Respekt. Man braucht kein prophetischer Leser zu sein, um zukunftssicher vorausdeuten zu können, dass Bastian fortan auch von den Klassenkameraden respektiert werden wird. Es ist der Respekt, der im Außen gespiegelt wird, so wie er im Innern jetzt als Selbstachtung da ist.

Die Basis für einen wirksamen Einsatz für den Frieden ist jener Respekt für die eigene Identität und folglich auch für die Identität anderer Menschen. Die persönlichen Erfahrungen gehören zu dieser Identität dazu. Wenn sie integriert wird, was für Bastian im “Änderhaus” geschehen ist, wird Frieden aus Frieden entstehen. Diese Erfahrung macht Bastian mit dem Vater und mit Herrn Koriander. Frieden schafft sich aus der eigenen inneren Mitte heraus. Er schafft sich aus dem Wissen heraus, welchen Aspekt der Liebe wir individuell verkörpern und verwirklichen wollen, und dass darin unser Wert an sich besteht.

Wenn ich mir die Plakate der Gegendemonstrationen zu den rechtsextremen Ausschreitungen in Chemnitz des Spätsommers 2018 anschaue, dann sind dort angstvolle Belehrungen und Maßregelungen zu lesen, über allem der Slogan, Herz sei besser als Hetze. Aber was ist Herz für jeden der Plakatträger? Wie verkörpert jeder individuell das Herz und wofür es steht? Was bedeutet Herz konkret in unserer Gesellschaft? Wäre es nicht eine größere Inspirationsquelle, wenn wir darüber etwas erfahren könnten, worin jeder Mensch zum Vorbild für Frieden wird? Wie wäre es mit “Herz = Freundschaft”? Oder mit “Herz = Unterstützung”? Oder mit “Herz = jeder ist wertvoll?”. Wenn wir einen fremdenfeindlichen Übergriff beobachten, ist die beste Verwirklichung von Zivilcouage diejenige, die sich mit dem “Opfer” des Übergriffs solidarisiert und nicht die, die den “Täter” zu belehren oder zu maßregeln versucht.

Wenn wir im Geiste der Philosophin Hannah Arendt bedenken, dass wir einen Teil der Mitglieder unserer Gesellschaft im zweiten Akt der Geschichte an die innere Verlorenheit verloren haben und wenn wir dann auch bedenken, dass es eine Frage im Innern braucht, einen kleinen Funken, um die Wende einzuleiten, wie wäre es dann mit inspirierenden Fragen auf den Plakaten? “Was brauchst du, um dich sicher zu fühlen?”; “Könnte man die Dinge auch anders sehen?”; “Gibt es einen besseren Weg?”. Die Fragen richten sich dann an beide Gruppen an Angstvertretern, denn es ist eine gemeinsame Angst, die “Täter” und “Opfer” aneinander kettet. Es ist die Angst, wertlos, bedeutungslos und verloren zu sein, die Hannah Arendt zufolge totalitäre Regime an die Macht bringt. Die Macht wird von dem Verlorenheitsgefühl der Menschen gespeist.

Dem Dreieck der Identität gehört als spirituelle Fähigkeit an, mit dem Material des Lebens, egal, wie es aussehen mag, meisterhaft umzugehen. Es ist die Fähigkeit, die Realität zu gestalten und aus allem etwas zu machen. Warum nicht aus den Plakaten der Gegendemonstrationen etwas Meisterhaftes machen, statt nur das, was immer schon aus ihnen gemacht wurde? Vielleicht ist ein zutiefst verängstigter rechtsextrem denkender Mensch, der von seiner inneren Wertlosigkeit überzeugt ist und für dessen Schmerz er eine Projektionsfläche sucht, mit Fragen nicht zu erreichen. Vielleicht aber doch. Der Mann, der seine Gesinnung aus Liebe zu seinem Kind überdacht hat, wurde von einer Frage erreicht: “Ist es das, was ich an mein Kind weitergeben will?” Aber all die mitlaufenden Menschen, die den gefährlichsten Diktatoren zu allen Zeiten Energie gegeben haben, einfach, indem sie die Angst vor der Wertlosigkeit geteilt und dadurch genährt haben, sind durch Fragen vielleicht doch noch zu erreichen. Sie stehen einfach nur vor der Wende, vor dem 3. Akt. In ihrem Innern würde die Wende angestoßen und dann im Außen eingeleitet durch irgendetwas, das dem “Änderhaus” vergleichbar wäre. Dieses Etwas müsste eine Schwingung von Sommer und Fülle haben, die das Kind im Innern anspricht und ihm sagt: “Du bist wertvoll, einfach weil du bist.” Dann könnten die Mitlaufenden vielleicht ihren eigenen, persönlichen Weg wieder aufsuchen und ihn von dem Punkt aus weitergehen, an dem sie sich damals verloren hatten.

Die Emanzipation der Liebe von der Angst ist die wahre Gegendemonstration. Sie findet gar nicht auf der Straße statt, sondern in den Freundschaften, den Patenschaften, den Arbeitsverhältnissen, den Nachbarschaften, den Partnerschaften und Ehen. Alle Arten von kooperativen Beziehungen treten allen Arten von Extremismus entgegen. Anstrengungslos. Die “Wasser des Lebens” müssen nicht missionarisch weitergereicht werden. In ihnen wird gebadet, um den eigenen Staub loszuwerden, und indem die Individuen von diesen Wassern getränkt sind, tränken sie die Gesellschaft derart, dass kein Feuer mehr Fuß fassen und sich ausbreiten kann. Das ist ziemlich exakt das, was wir unter dem Bild der “Résistance” verstehen. Es war damals ein leiser Widerstand, der durch Solidarität und Hilfe gegenüber den Opfern wirksam wurde, nicht durch lautstarke Maßregelung der Gewalttäter.

Es ist nichts gegen eine Friedensdemonstration einzuwenden, aber sie sollte dann auch vom Frieden erzählen und wie er konkret aussieht. Der Weg ist viel weniger heldenhaft als man meint. Es ist einfach nur das Erwachsenwerden des Helden oder der Heldin, das ihn oder sie in seinen oder ihren inneren Frieden führt, der dann aus ihm oder ihr heraus in die Welt strahlt. Fertig.

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