TW: Femizid, Sexualisierte Gewalt, Stalking
Schlagzeilen sind mittlerweile ein untrennbarer Teil unseres Alltags geworden. Sie schocken, sie verwirren, sie lassen vergessen und bleiben manchmal sogar im Kopf. Manche deuten und machen und lassen viel zu oft eine Realität in unserem Kopf wachsen, die keine sein sollte. Ihr habt sicherlich bestimmt schon folgende gehört: Familiendrama, "Ehrenmorde", Beziehungsstreit. Worte, die wir so oft lesen, und gleichermaßen so oft wieder vergessen. Sie beschreiben eine Wirklichkeit, die Teil unseres Alltags geworden ist. Eine, die nicht passieren darf und auch nie hätten passieren dürfen.
Neben den Schlagzeilen liegen manchmal Bücher, die lösen wenig bis gar nichts aus, ähnlich wie Schlagzeilen. Man liest sie, und wenn man fertig ist, legt man sie ins Bücherregal, ohne noch einmal daran zu denken. Aber zum Glück gibt es Ausnahmen.
In den letzten Wochen hat mich ein Buch nicht nur begleitet - es hat mir die Augen für ein Problem geöffnet, das vor allem in Deutschland auf einer problematischen Komplexität und tiefgreifender Ungerechtigkeit fußt: Femizide - Frauenmorde in Deutschland von Julia Cruschwitz und Carolin Haentjes (Opens in a new window). Die beiden Autor*innen unterstreichen deutlich eine Realität, in der Lebensgefahr nicht entgegengewirkt, sondern in Kauf genommen wird. Es geht um Femizide, und was sie mit Vorstellungen von Männlichkeit zu tun haben. Davon will ich heute sprechen.
"Die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ist nicht Realität, und solange sie das nicht ist, wird es immer Gewalt gegen Frauen geben"
Roland Hertel, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt e.V. (BAG TäHG e.V.) sagt, dass es bei (häuslicher) Gewalt immer auch um Macht gehe, um eine Unterordnung der Frau, was vor allem auch mit dem Selbstwertgefühl von Männern zu tun habe. Sie könnten nicht ertragen, dass Frauen beruflich erfolgreicher oder im sozialen Umfeld beliebter. Von Männern werde noch immer erwartet, erfolgreich(er) zu sein, die Familie zu ernähren, zu dominieren. Wenn wir uns das anschauen, liegt der Gedanke nah, dass das Problem struktureller Natur ist - dass viele Männer mit der Vorstellungen aufwachsen, sich an diesen problematischen Mustern orientieren zu müssen. Diskriminierung wird nicht nur durch Zahlen ersichtlich, sonst wird durch Verhalten legitimiert, manifestiert und hergestellt. Und über diese Lücken im Zusammenhang von Männlichkeitsperformance und direkter Gewaltanwendung muss noch mehr gesprochen werden.
Ein Beispiel ist Stalking. Das Ziel bei Stalking ist gezwungene Kontaktaufnahme und die damit verbundene Demonstration von Macht und Kontrolle zu Menschen, mit denen man eine Art von Beziehung hatte oder auch nicht. Das kann über soziale Medien passieren, übers Beobachten von Tagesabläufen, über Geschenke und Nachrichten an die Person schicken. Nach offiziellen Zahlen des BMFSFJ(Hellziffer!) erlebt fast jede vierte Frau im Laufe ihres Lebens eine Form von Stalking. In 84 Prozent der Fälle sind Männer die Täter. (Opens in a new window) In Deutschland gibt es schätzungsweise 600.000 bis 800.000 Fälle von Stalking pro Jahr. Polizeilich erfasst wurden aber zum Beispiel 2021 nur 20.464 Fälle. Die Verurteilungsquote liegt bei knapp 1% für 2018 (Opens in a new window)bei ähnlichen hohen Fällen von Stalking, die polizeilich erfasst worden sind.
Das mag nach einzelnen, zeitlich begrenzten Aktionen klingen, aber dem ist nicht so: Das Stalking kann Monate bis hin zu vielen Jahren andauern. Nach Zahlen des bff - Frauen gegen Gewalt e.V. (Opens in a new window) zeigen Forschungen, dass 2/3 der Betroffenen länger als einen Monat und 1/3 länger als ein Jahr gestalkt werden. Die durchschnittliche Dauer beträgt 28 Monate. Charakteristisch ist eine gewisse Kontinuität und Häufigkeit der Taten. Häufig sind die Täter zurückgewiesene Männer, Ex-Partner oder Ex-Ehemänner, die die Zurückweisung oder Trennung nicht akzeptieren. Ihrem Männlichkeitsverständnis nach haben sie die Kontrolle verloren und holen sich diese mit Gewalt zurück - ein Phänomen, das in allen gesellschaftlichen Klassen vorkommt und vor allem Frauen als Opfer kennt. Jörg Ziercke, Leiter des Weissen Ring e.V., sieht ein weiteres Problem auch im deutschen Recht. Demnach, seit 2007 ist Stalking in Deutschland strafbar, müssen Opfer sog. "beharrliches Nachstellen" nachweisen. (Opens in a new window) Also neben dem pyschologischen und körperlichen Stress, Suizidgedanken, Angstzuständen, verlangt der Gesetzgeber eine Dokumentation eines Zustands, der emotional auslaugt und - wenn wir an die durchschnittliche Dauer von Stalking schauen - letzlich Täter schützt. Denn sie wissen, die Polizei und das Gesetz greift nicht präventiv ein, sondern erst dann, wenn physischer und emotionaler Schaden für Betroffene schon entstanden ist. Zwar ist 2017 der Paragraph 238 angepasst worden. Davor mussten Opfer jeder per Umzug oder Jobwechsel nachweisen, wie sehr sie sich von Stalking beeinträchtigt fühlen. Aber das, so Carina Fron in ihrem Artikel (Opens in a new window), sei nur ein schwacher Trost.
Eines von vielen Beispielen, für wen Gesetze gemacht werden und wen sie schützen. Statt daran zu arbeiten, wo das Problem liegt, nämlich in dem Gefühl von Männern, sich über Frauen stellen zu müssen und sie abzuwerten. Denn das führt nicht selten zu körperlicher Gewalt und nicht selten zum Femizid. Es muss mehr Angebote für Täter geben. Das der Opferschutz bei weitem nicht ausreicht, zeigt die Situation um Frauenhäuser in Deutschland.
Frauenhäuser sind Schutzräume für von Männergewalt betroffenen Frauen (und ihren Kindern). 2020 wurden laut vorgestellten Statistik des Bundeskriminalamts (BKA) 148.031 Personen Opfer von Gewalt in einer bestehenden oder ehemaligen Partnerschaft. Das sind 4,4 Prozent mehr als 2019. (Opens in a new window) In Deutschland gibt es zu wenige Frauenhäuser, ihre Förderung ist komplex und unterfinanziert, die meisten sind überbelastet. 2011 mussten 9000 Frauen abgewiesen werden, weil kein Platz war. (Opens in a new window) Nachdem 2020 ein "Bundesförderprogramm Gewalt gegen Frauen" (Opens in a new window) initiiert wurde, kam 2021 heruas, dass im Juni 2021 erst 16 Millionen an Frauenschutzeinrichtungen geflossen sind. Grund dafür sei die hohe Bürokratie und ein Eigenanteil (!) von 10 %, den Einrichtungen oft nicht aufbringen können. Die Istanbul-Konvention, die in Deutschland erst 2017 ratifiziert wurde, empfiehlt pro 7500 Einwohner*innen einen Frauenhausplatz. In Deutschland wird diese Quote nur in den Stadtstaaten Berlin und Bremen erfüllt (Opens in a new window), 125 Kreise haben kein eigenes Frauenhaus. (Opens in a new window) Das liegt auch in der Struktur der Finanzierung und Förderung. Frauenhäuser werden in der Regel über Landkreise und kreisfreie Städte finanziert, deren finanziellen Kapazitäten unterschiedlich sind. Es gibt, so Cruschwitz und Haentjes, kein einheitliches Vorgehen und keine Vorgaben vom Bund, wie viele Plätze bereitgehalten werden müssen. Direkten Einfluss haben Zuständige auf kommunaler Ebene durch Haushaltsplanung. Wie wichtig ihnen das Thema ist, liegt auf der Hand. Seit den 1980er Jahren werden dadurch Frauenhäuser durch Tagessätze finanziert, die meist bei 25€ bis 100 pro Person am Tag (!), (Opens in a new window) teilweise sogar mehr, liegen. Für diejenigen, die Sozialleistungen beziehen, werden die Kosten vom Amt übernommen. Alle anderen, wie z.B. Menschen ohne gesicherten Status oder Student*innen, haben keinen Leistungsanspruch. Das heißt trotz Gewalterfahrung gibt es viel zu viele Frauen, die sich keinen Platz leisten können, in dem sie sicher sind. Das ist ein Skandal. Das sind Gesetze und politische Realitäten, die geschaffen werden, die Männergewalt und Femizide in Kauf nimmt und Opfer im Stich lässt.
Und auch hier kommt das deutsche Rechtssystem ins Spiel. Denn der fragilen Männlichkeit und emotionalen Lage von Männern wird in Gerichten oft mehr Raum gegeben - zum Nachteil von Betroffenen.
Dr. Leonie Steinl (Humboldt-Universität) sagt deutlich:
"Die geschlechtsspezifische Motivation wird weniger wahrgenommen, also der Besitzanspruch, der mit solchen Tater auf das Leben der Betroffenen erhoben. Dadurch werden Trennungstötungen oft nicht als Mord gewertet, und das hat ein deutlich geringeres Strafmaß zur Folge."
Im Kontext von Trennungstötungen geht es darum, ob Beweggründe des Täters als "niedrig" eingestuft werden, also nach allgemeiner sittlicher Wertung auf niedrigster Stufe stehen und damit als Mord eingeordnet werden, so Steinl. Es gebe aber in Deutschland keine "Sittenordnung", wonach man einfach herausfinden könne, was die Allgemeinheit als Trennungstötung bewertet. Die unklare Definition lässt Spielraum und in nicht wenigen Fällen schützt sie Täter. Für die Leitlinien der Rechtssprechung ist der Bundesgerichtshof (BGH) zuständig. In einem 2008 gesprochenen Urteil hat ein Mann, der sich mit der Trennung nicht abfinden konnte, seine Ex-Partnerin im Hausflur des neuen Lebensgefährten getötet. Das Landgericht Bonn sagte: Mord, Beweggründe auf niedrigster Stufe. Das BGH widersprach und sagte: "Gefühle der Verzweiflung und inneren Auswegslosigkeit" könnten auch Trennungstötungen auslösen. (Opens in a new window) Die Tat wäre damit menschlich nicht vollkommen unnachvollziehbar, vor allem dann, wenn die Trennung von dem Tatopfer selber ausgehe. Das muss man sich vorstellen. Steinl sagte, damit wird der Besitzanspruch des Täters auf das Opfer zumindest teilweise anerkannt.
Der Besitzanspruch auf weiblich gelesene Körper ist die Grundlage der Männlichkeit, die erlernt und reproduziert wird.Sie findet Zugang in Rechtssprechung und Polizei, äußert sich in Gerichtsurteilen und manifestiert sich in Argumentation und Denkweisen, die keine von gewaltbetroffene Person hören möchte - aber gezwungen ist zu tun.
Man könnte sagen, dass die deutsche Rechtssprechung von Misoygnie durchzogen ist. Und genauso auch von Rassismus und kulturalistischen Vorstellungen über nicht-weiße Männlichkeiten. Ulrike Lembke, Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der HU Berlin, zeigte in einer Diskursanalyse zwische 2006 und 2012, dass die Beurteilung der Beweggründe für Gewalt gegen Frauen unterschiedlichlich wenn, wenn die Täter Migrationsgeschichte hatten. Waren die Täter weiß, gestanden sie dem Täter neben Besitzanspruch auch Gefühle von Verzweiflung an - die Beweggründe wurden nicht in weniger Fällen in der "niedrigster Stufe" eingeordnet. Sobald jedoch nicht-weiße Männer als fremd markiert und wahrgenommen, und ihre Tat als "Ehrenmord" einsortiert wird, dann wurde sehr viel häufiger niedrige Beweggründe und ein patriarchales Weltbild erkannt (Opens in a new window) - die Tat wurde als Mord eingestuft, die Strafen länger. Dabei werden Unterschiede aufgemacht, ohne den Kern des Problems klarer für alle Männer klarzustellen: Das Patriarchat betrifft uns alle, patriarchalische Strukturen betreffen uns alle, und wir alle werden im Patriarchat sozialisiert. Tödliche patriarchale Gewalt ist kein Problem von muslimisch gelesenen Männern allein, sie ist es von allen, die Gewalt gegen Frauen ausüben. Ob "Ehrenmorde", "Trennungstötungen" ausgelöst durch "Beziehungsstreit": Es ist und bleibt ein Femizid. Diese staatliche Strukturen schützen Täter, verharmlosen problematische Männlichkeitsbilder und seine Auswirkungen und versäumen es ganzheitliche Strukturen zu schaffen, damit diese erst gar nicht passieren.
Als Männer ist es unsere Pflicht auf diese Missstände aufmerksam zu machen und unsere eigene Verantwortung in der Herstellung und Manifestation dieser Strukturen zu hinterfragen. Denn in einem Land zu leben, das Femizide geschehen lässt, ohne die Verantwortung von Männern in den Blick zu nehmen, ist kein gerechtes Land und kann es nie werden.
Deshalb spendet:
Zahlen sind, soweit nicht explizit ausgewiesen, aus folgender Quelle entnommen: Femizide - Frauenmorde in Deutschland, Julia Cruschwitz und Carolin Haentjes, Hirzel Verlag, 2021.