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Erschöpfte Überforderung als Zeitgeist - Und wie es danach weitergeht.

von Frank Rieger

Es gibt die Legende vom chinesischen Fluch "Mögest Du in interessanten Zeiten leben!". Vor einer Weile habe ich endlich verstanden, was damit eigentlich gemeint ist: "Interessante Zeiten" sind Zeiten, in denen der Inhalt der Abendnachrichten unmittelbare Relevanz für den eigenen Alltag hat. In den letzten Jahrzehnten konnten die meisten Menschen ganz gut damit durchkommen, die große Politik und das Weltgeschehen weitgehend zu ignorieren. Wenn irgendwas wirklich wichtig war, bekam man es schon mit. Heute sind die Nachrichten konkret alltagsrelevant. Die große Welt ist in das kleine Leben eingebrochen.

Nicht ab und zu mal in Form von dieser oder jenen isolierten großen Krise, sondern jede Woche, jeden Tag. Große Ereignisse außerhalb der eigenen Beeinflussbarkeit bestimmen, was man heute besser tun oder lassen sollte – je weniger Wohlstand und sozialen Status jemand hat, desto stärker. Noch schnell volltanken oder impfen. Klopapier bevorraten. Zeit für Lebensmittel-Sonderangebotsjagd aufwenden, weil das Geld sonst nicht reicht. Diese oder jene Beihilfen beantragen, solange der Pool noch nicht erschöpft ist. Überlegen, was man tut, falls es doch Blackouts oder Gassperren gibt usw. usf.

Beim Flanieren durch die Berliner Straßen schaue ich oft in die Gesichter von Passanten und beobachte ihre Reaktionen auf kleine und große Kalamitäten und Schwierigkeiten. Es ist nun doch unzweideutig Herbst geworden, auch wenn der Klimawandel ein wenig Aufschub vor dem nasskalten Grau gewährt hat. Die Leichtigkeit und Fröhlichkeit des Sommers ist dahin, die meisten Menschen schauen angespannt, müde und ganz grundsätzlich genervt in die Welt. Eine "kurze Lunte" ist der Normalzustand geworden. Die Schwelle zum Überreagieren, zu kleinen und großen Aggressionen ist niedrig.

Beim Autofahren wurde ich wohl noch nie so oft angehupt und bedrängt für beim Abbiegen Rücksicht auf Fahrräder und Fußgänger nehmen oder gar – Sakrileg! – für das  Einhalten einer Geschwindigkeitsbegrenzung. Fahrradfahren ist, nicht nur wegen der glitschigen Blätter auf den Radwegen (die Berliner Stadtreinigung hat offenbar immer noch keine passenden Reinigungsfahrzeuge), abenteuerlicher geworden. Die allgemeine Aggressivität im Straßenverkehr hat ein neues Niveau erreicht und die Anzahl der gefährlichen Situationen und Unfallwracks am Strassenrand ist gefühlt so hoch wie noch nie.

Es gibt sicher jahreszeitliche Gründe dafür – die kürzeren Tage, das kältere, nasse Wetter, die Aussicht auf den Weihnachtsshopping-Terror – aber ich glaube, es geht viel tiefer. Wohin man auch schaut – alles scheint schwieriger, anstrengender, ungewisser, gefährlicher geworden zu sein.

Die Seuche ist noch nicht vorbei. Immer neue Varianten, immer klarer sichtbare Langzeitfolgen einer Ansteckung und die Fragezeichen um die Schutzwirkung der Impfstoffe und Medikamente dagegen vermischen sich mit der tiefen, tiefen Sehnsucht danach, dass der Maskenball endlich vorbei ist, zu einem fast trotzig zur Schau getragenen Fatalismus. Niemand hat schließlich Lust sich noch über Maskentragen zu streiten (obwohl eine gut sitzende FFP3-Maske das einzige ist, was wirklich schützt). Die Seuche ist individualisiert worden, ein "allgemeines Lebensrisiko", dessen Last wie immer bei denen besonders schwer wiegt, die es ohnehin schon nicht leicht haben.

Die Erschöpfung und Genervtheit in den Gesichtern ist das Sichtbarwerden der Menge an seelischem Gepäck, das jeder Mensch mit sich herumträgt. Die Fähigkeit, die Last zu ignorieren, die Anstrengung zu überspielen, die Sorgen zu kaschieren, ist bei Vielen erschöpft. Wenn es allen schlecht geht, muss auch niemand mehr so tun, als wäre alles super. Es gibt nicht mehr viele Gründe für Vorfreude, Optimismus, Beschwingtheit.

Nicht einmal an den Tränken und Futterquellen der Berufsoptimisten, bei den Venture-Kapitalisten, Börsenzockern, Werbern und Marketingleuten, wird noch gute Laune zur Schau getragen.

Wohin man auch schaut, es sieht einfach nicht gut aus. Die Angst der Läden und Kneipen vor Lockdowns ist der Sorge um eskalierende Energiekosten, galoppierende Inflation und schwindende Kaufkraft und: Personalmangel gewichen. Ob der eigene Job die Zinserhöhungs-Lieferketten-Inflations-Sanktions-Kriegs-Klimwandel-Wirtschaftskrise übersteht, wissen viele nicht. Ob es die eigene Gesundheit nach der dritten oder vierten Infektion überhaupt noch erlaubt zu arbeiten, auch nicht.

Die überproportional heftigen Hass-Reaktionen auf die Straßenblockaden von Aktivisten, die von einer alles andere überlagernden Furcht vor dem Klimakollaps getrieben werden, sind auch ein Zeichen dieser tief sitzenden erschöpften Überforderung. "Nicht auch noch sowas jetzt, ich hab eh schon viel zu viel an der Backe!". Die Ausreizung menschlicher Arbeitskraft durch die bis ans Ende getriebene Effizienz-Optimierung der kapitalistischen Arbeitswelt und der Personalmangel allerorten machen, zusammen mit der gereizten Erschöpfung, jede noch so kleine Störung der Alltagslogistik schnell zu einer mittleren Katastrophe.

2015 habe ich in einem Vortrag (Opens in a new window) mit Rop Gonggrijp versucht, den Ausblick auf die Zukunft in einer Grafik zusammenzufassen. Das war noch vor Trump, lange vor der Seuche und den Lockdowns, vor den Lieferkettenkrisen, vor der unabweisbaren Spürbarkeit des Klimawandels, vor den Auswirkungen des aktuellen Ukraine-Krieges. Und es sah damals schon nicht allzu gut aus:

Wir leben in einer Zeit, in der rasche Veränderung das neue Normal ist. Die Aussicht darauf, dass es nochmal “so gut wie früher” wird, sind sehr gering. Nicht einmal die Hockeystick-Statistiken der Rosabrillen-Ökonomen, die jahrelang die globale Steigerung von Wohlstand und Lebenserwartung aufzeigten, haben die Seuche unbeschadet überstanden. Die Schlagzahl der Krisen und ihrer Auswirkungen im Alltag wird weiter zunehmen. Für wohlhabende Länder und Menschen langsamer und verkraftbarer als für ärmere, aber am Ende wird niemand verschont bleiben. Es ist einfach unsere neue Realität, die Welt, in der wir leben, ob es uns gefällt oder nicht.

Bei Amazon gibt es gerade die bisher ziemlich gelungene Serien-Verfilmung von William Gibsons “The Peripheral”-Scifi-Büchern zu sehen. Darin gibt es das Konzept des “Jackpots”, einer kumulativen Ansammlung von Katastrophen, die erst in ihrer Gesamtwirkung die Menschheit drastisch dezimieren und einen Beinahe-Kollaps der Zivilisation verursachen. Wenn wir Glück haben und genug dagegen tun, kommt es nicht so drastisch, nicht so schnell, nicht so verheerend. Das erfordert aber auch, die eigene Handlungsfähigkeit in widrigen Situationen zu erhalten oder wiederzuerlangen, sich trotz der eher düsteren Aussichten die Freude am Leben zu erhalten, sich zu verbünden und zu organisieren und nicht einfach aufzugeben.

Viele Menschen sind davon überfordert. Niemand sollte das übel nehmen. Mit existenzieller (nicht nur oberflächlicher oder artifizieller) Instabilität, Chaos, Unvorhersehbarkeit und Unplanbarkeit gut umzugehen, ohne verrückt und aggressiv zu werden, ist nicht nur mental aufwendig sondern auch emotional belastend.

Die letzten Jahrzehnte mit relativer Sicherheit und Stabilität in den wohlhabenden Ländern des Westens waren wahrscheinlich eine geschichtliche Anomalie. Sich einzugestehen, dass die Zeiten “interessant” sind, dass wir es in unser Lebenszeit vermutlich nicht mehr bis zum Startrek-Replikator-Kommunismus schaffen werden, ist ein nötiger erster Schritt, um irgendwie klarzukommen.

“Ich wollte, es hätte nicht zu meiner Zeit sein müssen«, sagte Frodo.
»Das wünschte ich auch«, erwiderte Gandalf, »und das wünschen alle, die in solchen Zeiten leben. Aber nicht sie haben zu bestimmen. Wir können nur bestimmen, was wir mit der Zeit anfangen, die uns gegeben ist. Und schon, Frodo, beginnt unsere Zeit düster auszusehen.”

(Der Herr Der Ringe. Buch 1. Die Gefährten, John R. R. Tolkien)

Es hilft dabei wenig, mit erhobenem moralischen Zeigefinger aufgezeigt zu bekommen, dass es in  anderen Weltgegenden (Opens in a new window) schon länger viel weniger stabil und sicher ist. Das ist auch nicht viel besser als klinisch Depressiven zu sagen, sie mögen sich mal zusammenreißen. Die Flucht aus Krisenregionen in etwas stabilere, wohlhabendere Zonen ist ja nicht zufällig eine weltweite Massenbewegung.

Aber: Vielleicht hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass auch in instabilen, “interessanten”, düsteren Zeiten – sowohl heute als auch in der Vergangenheit – viele Menschen geschafft haben, gute Leben zu leben und etwas dafür zu tun, dass die große Welt und das kleine Leben besser wurden. Die mentalen und emotionalen Fähigkeiten dafür aufzubauen, mit schneller Veränderung gut umzugehen, Resilienz gegen immer neue bedrohliche Widrigkeiten zu entwickeln und dabei auch noch Spass zu haben, wird Kraft, Solidarität und Zeit brauchen.

Wir werden nicht von heute auf morgen und ganz für uns alleine zu superresilienten, chaoskompetenten Krisenbewältigern. Es gibt jedoch keine andere Option, als es zu versuchen. Zu wissen, dass ein gutes Leben im krisenhaften möglich ist, hilft vielleicht. Darum, wie wir da hinkommen, wird es in dieser Kolumne sicher noch öfter gehen.

Einer meiner liebsten Romane ist John Brunners "Der Schockwellenreiter". Das Buch enthält viele Passagen, die von erstaunlicher Relevanz für die Gegenwart sind. Die für unsere heutige Betrachtung wesentliche ist:

"Was ein Weiser vermag, das ist etwas, das niemand, der bloß bauernschlau ist, nämlich in einer unvorhergesehenen Situation eine richtige Entscheidung zu fällen. (...) Er gleitet mit den Veränderungen der Moden, dem Kommen und Gehen von Schlagwörtern, dem überschallschnellen Schmelztiegel-Chaos des 21. Jahrhunderts wie ein Delphin auf der Bugwelle eines Schiffes mitschwimmt, stets voraus, aber immer auf dem richtigen Kurs, so reitet er auf der Schockwelle einer sich immer rascher verändernden Gegenwart. Und es geht ihm bei alldem verdammt gut."

Ich verbleibe mit einem stoischen

Durchhalten!

Ihr

Frank Rieger

PS: 

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