Die ganz einfache Erklärung
Gerade zermartern sich wieder Scharen von Journalisten, Wissenschaftlerinnen und Politikern öffentlich das Hirn, wie es denn zum Aufstieg der extremen Rechten und nationalistischen Sozialisten in den südostdeutschen Bundesländern kommen konnte und was man dagegen tun muss. Komplexe Erklärungen und Erzählungen werden postuliert. Wahrscheinlich spielen die fast alle irgendwie eine Rolle. Aber keine stösst zum Kern des Phänomens vor.
Ökonomische Verwerfungen und Lebensentwurf-Traumata aus dem Ende der DDR, Bildungsgrad, Demographie, Bevölkerungsstruktur – fast alles davon ist plausibel und logisch als Erklärung. Aber nichts davon alleine reicht aus.
Es gibt aber eine Erklärung und sie ist einfach.
In praktisch allen größeren Ländern auf der Erde gibt es eine Gruppe von ungefähr 30% der Bevölkerung, die im Grunde ihres Herzens stark neophob ist. In demographisch älteren Gesellschaften deutlich mehr, in jüngeren vielleicht etwas weniger. Diese Menschen finden eine hohe Rate und Geschwindigkeit von Veränderung einfach schlecht bis unaushaltbar.
Sie brauchen viel Stabilität und Gleichförmigkeit in ihrem Leben um klarzukommen und froh sein zu können. Eventuell gibt es dabei sogar eine gewisse (epi)genetische Komponente, nicht nur die Prägung durch Erziehung, lokale Sitten, Gebräuche und Kultur. Und Neophobie ist altersabhängig. Im Schnitt kommen ältere Menschen weniger gut mit Veränderung klar.
Neophobe Menschen wollen einfach nur in Ruhe gelassen werden, ihr Leben vor sich hin leben, nichts entdecken, nicht dauernd von der Werbung gefragt werden ob sie “Ready” für Neues sind, nicht mit Zuwanderern konfrontiert werden. Sie wollen möglichst wenig Veränderungen in ihrer Arbeits- und Lebensumgebung, die sie nicht selbst kontrollieren können.
Neophobe in der Gruppe zu haben war evolutionär eine sinnvolle Strategie. Neophobe starben zu normalen Zeiten weniger schnell, weil sie nicht dauernd irgendwas Gefährliches neu ausprobiert haben. Fremde brachten aus neophober Sicht primär Risiken wie neue Krankheiten, destabilisierende neue Ideen und Religionen, ökonomische Verwerfungen, Kriminalität und Krieg.
Möglichst wenig zu verändern, das Bewährte immer weiterzumachen, nicht alles Neue sofort auszuprobieren war für das Überleben der eigenen Gruppe sinnvoll. Im individuellen Lebenszyklus war es gut, in der Jugend eine kurze, nicht allzu intensive neophile Phase zu haben um sich dann aber schnell in ein neophobes Lebensmuster zu fügen. Organisierte Religion ist im Kern neophob, sobald die expansive Missionierungsphase in der jeweiligen Gegend vorbei ist und die Umwandlung in eine Herrschafts- und Umständestabilisierende Ideologie erfolgt ist.
Neophobe sind deswegen keine schlechten Menschen. Sie haben genauso ein Recht auf Freiheit und Selbstverwirklichung wie die Neophilen. Ihre Ansprüche und Wünsche sind nur inkompatibel mit einer Welt, in der die Neophilen seit der industriellen Revolution und dem Aufstieg des Kapitalismus den Ton angeben.
Über Jahrhunderte hinweg war Neophobie perfekt für ein von der Landwirtschaft dominiertes Leben in kleinen Gemeinschaften. Die Neophilen zogen in die Städte. Dummerweise setzten sie dort das Schwungrad der technologischen Entwicklung in Gang, entwickelten die kapitalistische Ökonomie und globalisierten die Welt. Die unerbittliche Logik von Effizienz und permanenter Optimierung machte vor keinem Teil des Lebens halt.
Vor 150 Jahren war noch ungefähr die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung mit der Lebensmittelversorgung beschäftigt. Sie lebten in Dörfern und Kleinstädten in teilweise über Jahrhunderte weitgehend unveränderten Umständen, egal wer gerade regierte. Heute braucht die moderne Landwirtschaft nicht einmal mehr fünf Prozent der arbeitenden Bevölkerung und ist ein Zweig des sich schnell verändernden Hochtechnologie-Kapitalismus. Die ökonomische Grundlage für das natürliche Soziotop der Neophoben verschwand.
Um gut leben zu können mussten viele in die Städte ziehen, die von den Neophilen dominiert sind. Oft sind Neophobe dort zutiefst unglücklich, entfremdet, überfordert und dauergestresst. Sie wünschen sich im Grunde ihres Herzens, dass alles wieder Wie Früher™ wird, das die dauernde Veränderung aufhört, die mentale und emotionale Last weniger wird. Wenn sie Glück haben kommen sie zu etwas Wohlstand (oder finden eine nicht lokationsgebundene Arbeit) und können wieder aufs Land ziehen.
Die, die es geschafft haben auf dem Land zu bleiben oder dorthin zurück zu ziehen, werden aber auch nicht in Ruhe gelassen. Sie müssen oft zu den Zentren der ökonomischen Aktivität pendeln, bekommen Veränderungen durch Migration, Globalisierung, technologischen Fortschritt und Politik in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld aufgedrängt. Es wird erwartet, dass sie sich anpassen, verändern, klarkommen. Bis zu einem gewissen Punkt sind viele dazu auch durchaus bereit. Aber nicht endlos.
Die Wahlergebnisse vom Sonntag sind die Manifestation von zwei Trends. Zum einen wurde die Rate an aushaltbarer Veränderung für die Neophoben zu lange zu intensiv überschritten. Zum anderen haben sie jetzt politische Vertretungen. Die sind anders als ihre bisherigen traditionellen Partei-Heimaten in den rechten Flügeln von SPD und CDU, weil sie nicht versuchen, einen integrativen Kompromiss zwischen den Interessen der Neophoben, den Anprüchen der Neophilen und des globalisierten Kapitalismus zu finden.
AfD und BSW sind die radikalen Manifestationen des neophoben Wie Früher™, in den Geschmacksrichtungen “Völkischer Kleinbürger-Kapitalismus” und “Sozialistischer Nationalismus”. Sie haben es geschafft die seit langem vorhandene, immer frustrierter und angepisster werdende Demographie der Neophoben zu mobilisieren, ihnen eine Stimme zu geben.
Das Gleiche ist in vielen anderen Staaten passiert, der Aufstand der Neophoben ist ein weltweites Phänomen. Trump in den USA, Bolsonaro in Brasilien, Brexit, Erdogan in der Türkei, LePen in Frankreich, Meloni in Italien, Orban in Ungarn, Wilders in den Niederlanden – die Liste geht immer weiter. Die Wählerbasis findet sich primär auf dem Land und bei den Neophoben, die in die Städte ziehen mussten, um leben zu können.
Die neophilen Fraktionen des progressiven Fortschritts haben den Anspruch, die Lebensentwürfe für Alle entsprechend ihren Bedürfnissen zu bestimmen, Fortschritt und universelle Menschenrechte für Alle sind schliesslich gut. Genauso postulieren die Neophoben nun ihre Forderungen nach in Ruhe gelassen werden, keine Fremden um sich zu haben und Veränderungen zurückzurollen als politisches Programm mit dem Anspruch die Gesamtgesellschaft zu bestimmen.
PS: Ich habe hier absichtlich simplifiziert und vergröbert und Nuancen und Graustufen weggelassen. Wo sich ein Mensch auf dem Spektrum zwischen Neophilie und Neophobie befindet, welche Rate an Veränderung den eigenen Bedürfnissen entspricht ist nicht statisch. Individuelle sozioökonomische Umstände, Erfahrungen und Alter spielen eine grosse Rolle. Innerhalb eines veränderungsarmen Lebensumfelds kann es auch bei Neophoben eine große Aufgeschlossenheit gegenüber z. B. technischem Fortschritt oder alternativen Lebensentwürfen geben. Es geht mir hier um den ganz großen Trend und um den klar zu sehen hilft es, mal kurz die Zwischentöne auszublenden.