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Wettrüsten mit Ballons in der Stratosphäre

Ein chinesischer “Spionage-Ballon” wurde in den USA abgeschossen und es gibt viel Rätselraten, was da nun eigentlich wirklich passiert ist. Möglicherweise geht es dabei nicht um klassische Spionage, sondern doch um Meteorologie – vielleicht für die Optimierung von Hyperschall-Waffen.

Die Schlagzeilen in den US-Medien überschlugen sich förmlich. Ein riesiger unbemannter chinesischer Spionage-Ballon schwebte in ungefähr 20 Kilometer Höhe über Montana. Vielleicht spähe er die Interkontinentalraketen-Felder aus, die dort und in anderen  Flyover-States (Opens in a new window) in den endlosen Ebenen verteilt sind. Offenbar kam das unheimliche Flugobjekt von Norden und gondelte dann einige Tage über den USA umher.

Die Forderungen nach sofortigem Abschuss durch die US Air Force wurden von der Regierung vorerst ausgebremst, mit dem Hinweis auf mögliche Trümmer-Schäden am Boden durch herabstürzende Teile der Instrumenten-Gondel. Letztendlich gab China zu, der Eigentümer des Ballons zu sein, es handele sich aber nicht um Spionage, sondern um einen  Wetterballon mit Verlust der Steuerfähigkeit. Nachdem der dann über die Ostküste Richtung Atlantik schwebte wurde er von einem F22-Kampfflugzeug mit einer Rakete abgeschossen, offenbar präzise so, dass die Trümmer in US-Hoheitsgewässern in relativ flachem Wasser niedergingen.

Soweit der bisher bekannte Teil der Geschichte. Es stellen sich ein paar sehr interessante Fragen. Zunächst: Wie funktionieren eigentlich Ballons, die in 20 Kilometer Höhe so lange Strecken zurücklegen können und offenbar auch gesteuert werden können?

Der klassische Wetterballon, wie er seit Jahrzehnten jeden Tag hundertfach überall auf der Welt gestartet wird, um Temperatur, Luftdruck, Wind, Luftfeuchte etc. in verschiedenen Höhen zu messen, hat wenig mit dem zu tun, was da über Montana gesichtet wurde. Normale Wetterballons haben am Boden ein Volumen von 0,5 bis ca. 6 Kubikmeter und sind Einweg-Artikel aus Gummi. Sie steigen so lange auf, bis der Luftdruck so niedrig ist, dass das Traggas – meistens Helium, zunehmend aus Kosten- & Knappheitsgründen auch wieder Wasserstoff – so weit expandiert ist, dass die Ballonhülle platzt und die Instrumenten-Gondel an einem Fallschirm zu Boden sinkt. Üblicherweise erreichen sie Höhen von 20 bis 40 Kilometern und tragen, je nach Größe, Messinstrumente von ein paar hundert Gramm bis zu drei Kilogramm.

Der Ballon über den USA wurde hingegen auf 30 - 60 Meter Durchmesser geschätzt, mit einer Nutzlast von wahrscheinlich einigen hundert Kilogramm. Die Bilder weisen darauf hin, dass es sich um einen Superpressure-Ballon handelte, eine Bauart, die darauf ausgelegt ist, in einer relativ konstanten Höhe für sehr lange Zeit zu fliegen.

Das Superpressure-Prinzip war der Durchbruch beim Bau von Ballons und Luftschiffen, mit dem es gelang, ohne Ablassen von Traggas oder fortlaufendem Abwerfen von Ballast-Gewicht die Flughöhe verändern zu können und eine stabile Standard-Flughöhe zu halten. Die Hülle des Ballons ist mechanisch mit Hilfe von Seilen und Verstärkungs-Streifen so stabilisiert und das Volumen so dimensioniert, dass das Traggas sie auf der gewünschten Flughöhe prall ausfüllt. In dieser Hülle befindet sich ein zweiter, kleinerer elastischer Ballon (Ballonet genannt), in den mit Hilfe einer elektrischen Pumpe Luft gepumpt werden kann. Dadurch vergrößert sich das Gesamtgewicht des Flugkörpers, das Traggas wird stärker komprimiert und er sinkt ab. Zum Aufstieg wird die Luft aus dem Ballonet wieder herausgepumpt, das Traggas expandiert wieder, das Gesamtgewicht sinkt und es geht aufwärts. 

Die größten Fortschritte bei der Weiterentwicklung dieses Prinzips hatte Googles Project Loon (Opens in a new window) gemacht. Loon wollte mit Hilfe von solchen Superpressure-Ballons LTE-Mobilfunk in abgelegene, unterversorgte Gebiete bringen. Letztendlich wurde das Projekt aus ökonomischen Gründen eingestellt, aber hat jede Menge Innovationen und Erkenntnisse hinterlassen.

Eines der Resultate von Loon war die Invertierung der Ballon-Konstruktion, so dass die Ballast-Luft sich nicht innerhalb des Traggases befindet, sondern außenrum.

Der Vorteil dieser Konstruktionsvariante ist, dass das Helium nicht von der Aussenhülle gefangengehalten wird, die durch UV-Strahlung des Sonnenlichts, Fehler bei der Handhabung beim Start und ähnlichem zu kleinen Rissen und Löchern neigt. Stattdessen wird das Traggas vom inneren Ballonet gehalten, das durch die Außenhülle etwas geschützter ist und es gibt keine Druck-Differenz zwischen Traggas und Ballast-Gas, was das Entweichen durch die Folie hindurch stark verlangsamt.

Eine weitere Loon-Innovation war die Entwicklung von automatischen Steuerungs-Algorithmen auf der Basis globaler Wettermodelle und lokaler Messwerte für Windgeschwindigkeit und -richtung. Das Ziel dabei war, die LTE-Ballons über einem bestimmten Gebiet zu halten, indem man sie durch Auf- und Absteigen jeweils in die dafür sinnvollen Windrichtungen bewegt. Kurz vor der Einstellung des Loon-Projekts wurde sogar ein Machine-Learning-Modell entwickelt, das diese Aufgabe besser löste als vorherige deterministische Algorithmen.

Außerdem wurde eine lange Reihe von technischen Detailproblemen gelöst, die sich aus der harschen Umgebung der Stratosphäre ergeben. Der Tag / Nacht-Temperaturzyklus ist extrem (-40° bis -100°C), es gibt in der Nähe von Stürmen und Gewittern verschiedenste elektrische Entladungs-Phänomene und die UV-Strahlung ist wesentlich intensiver. Die Temperierung von Elektronik und Akkus, die Solarzellen, die Konstruktion der Luftpumpe für die Höhenkontrolle, Drucksensoren und viele andere Details mussten für die rauhen Umgebungsbedingungen ausgelegt werden. Das Ergebnis sah aus wie eine Mini-Version des chinesischen “Spionage”-Ballons.

Ein kleiner Teil der Erkenntnisse und Lehren aus dem Projekt Loon wurde nach dessen Ende publiziert. Dieses Dokument,  Loon Library (Opens in a new window) genannt, ist extrem aufschlussreich, wenn man sich mit den vielfältigen Problemen von Stratosphären-Ballons beschäftigen möchte. Es gibt noch eine Reihe von anderen Dokumenten zu verschiedenen Unterthemen in der Loon Collection  (Opens in a new window)

Zusammenfassend lässt sich nach ausgewählter Lektüre festhalten, dass das Problem von sehr langlebigen Stratosphären-Ballons (mehr als 300 Tage Flugzeit waren am Ende von Loon erzielbar) technisch im Großen und Ganzen gelöst ist. Es ist aufgrund der Umgebungsbedingungen noch nicht möglich, eine 100%ige Zuverlässigkeit für einen einzelnen Ballon sicherzustellen, dazu sind die Fehler-Varianten zu umfänglich. Mit guter Konstruktion, durchdachten Prozessen und jeder Menge Rechenleistung für die Planungssoftware ist es jedoch möglich, im statistischen Mittel ziemlich gute Ergebnisse zu erzielen. Dadurch, dass Ballons, trotz des nicht unerheblichen Aufwands, sehr viel billiger zu produzieren sind als Satelliten, ist es durchaus eine Option, einfach mehr davon zu bauen, um das gesteckte Ziel mit einem Ballon-Schwarm zu erreichen.

Was uns zurück zum chinesischen “Spionage”-Ballon bringt. Anhand der Fotos und der Loon-Dokumente lassen sich ein paar informierte Spekulationen ableiten, was Ausstattung und Flugverhalten angeht.

Klar zu erkennen ist, dass die Solarzellen-Ausstattung signifikant umfangreicher ist als bei den Loon-Ballons. Wahrscheinlich waren da mindestens 4 kWp Solarleistung installiert (die Größen der Solarzellen sind auf den durch die Atmosphäre verzerrten Tele-Fotos schwer genau zu bestimmen, die Anzahl jedoch schon, bei Loon waren es 1,3 kWp). Der Strom wird nicht nur für Betrieb und Temperierung der (Spionage?-)Instrumente benötigt, sondern vor allem auch für die Pumpe, für Auf- und Abstieg und eventuelle zusätzliche Navigationshilfen wie Propeller oder Ruder. Selbst wenn man den deutlichen Größenunterschied berücksichtigt, ergibt sich ein wahrscheinlich recht signifikantes Strom-Budget für die Nutzlast.

Ein weiteres interessantes Detail ist, dass die Außenhülle des chinesischen Ballons aus stark einem reflektierenden, weissen Material besteht. Bei Loon wurde durchsichtige Folie verwendet, einerseits um das Gewicht möglichst gering zu halten, andererseits um die Abschattung der Solarzellen zu verringern. Die chinesische Variante opfert diese beiden Vorteile für eine andere signifikante Eigenschaft: Weniger Sonnen-Aufheizung der Gase in der Ballonhülle während des Tages. Wie alles im Ballon-Bau sind solche Entscheidungen eine komplexe Abwägung. Die geringere Aufheizung bedeutet am Ende einen verringerten Energieaufwand für das Halten der gewünschten Höhe, weil die Pumpe für den Luft-Ballast weniger oft und lange laufen muss. Der Ballon wird dadurch von selbst stabiler seine natürliche Flughöhe halten.

Dieses Detail ist relevant für die Überlegung, ob die chinesische Behauptung, es handele sich um einen außer Kontrolle geratenen meteorologischen Ballon (Opens in a new window), zutreffen könnte. Die größere Stabilität der Flughöhe, ohne das die aktiven Systeme des Ballons, insbesondere die Pumpe, funktionieren müssen, macht es wahrscheinlicher, dass er unkontrolliert mit den zur fraglichen Zeit vorherrschenden Luftströmungen über Nordamerika getrieben sein könnte.

Auch der weitere Verlauf des Fluges bis zur Küste, wo er am Ende abgeschossen wurde, ist mit einfachem Driften ohne Höhenänderung in den vorherrschenden Winden auf der natürlichen Flughöhe plausibel erklärbar.

Die Frage, ob die chinesischen Ballonisten ihr Fluggerät zum Zeitpunkt des Herumgondelns über Kanada und den USA noch über Satelliten-Datenübertragung unter Kontrolle hatten, liesse sich effektiv durch ein Höhenprofil des Fluges beantworten. Wenn es Höhenänderungen gab, die nicht mit dem natürlichen Abkühlungs- und Aufheizungszyklus übereinstimmen, wäre die Behauptung, der Ballon sei außer Kontrolle geraten falsch. Leider waren dazu bisher keine Daten zu finden, aber vielleicht kommt da ja noch was. Ob es Funkkommunikation vom Ballon aus gab (typischerweise zu Satelliten) sollten die US-Streitkräfte wissen, aber es bleibt abzuwarten, ob sie dieses Wissen veröffentlichen.

Die spannendste Frage ist natürlich, was für einen Zweck der Ballon denn nun eigentlich hatte. Ich vermute, wir werden irgendeine mehr oder weniger genaue Version der Auswertung der nach dem Abschuss aus dem Meer gefischten Trümmer in den nächsten Wochen zu hören bekommen. Welche Details dabei weggelassen oder welche Interpretationen in den Vordergrund gestellt werden wird natürlich von den Interessen der beteiligten Fraktionen des US-Regierungsapparates abhängen.

Eine Theorie, die die bisher bekannten Fakten abdeckt (und natürlich jederzeit durch neue Informationen widerlegt oder unwahrscheinlich werden kann): Es handelte sich tatsächlich primär um einen meteorologischen Ballon, jedoch für  spezifische militärische Zwecke, wie etwa der Datengewinnung über die Stratosphäre für die Optimierung von Hyperschall-Waffen. Die Luftschichten oberhalb der für die kommerzielle Luftfahrt benutzten Höhenbereiche sind bislang primär für Zwecke der Wettervorhersage beforscht worden. Das Hyperschall-Waffen, die sich mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit in großen Höhen bewegen, nicht immun gegen das Wetter in den oberen Luftschichten sind, lässt sich indirekt daraus folgern, dass auch die USA ein umfangreiches Höhenballon-Forschungsprogramm unterhalten und vereinzelt der Zusammenhang zwischen Hyperschall-Waffen und Höhen-Meteorologie sogar offen benannt wird, wie etwa in diesem Bericht (Opens in a new window).

Die chinesischen Ballons sind in geringeren Höhen unterwegs als das o.g. Projekt als Forschungsziel für Hyperschall-Waffen angibt, jedoch gibt es nicht das eine Hyperschall-Waffenkonzept sondern eine Vielzahl mit sehr unterschiedlichen Flugprofilen. Und auch höherfliegende Vehikel müssen irgendwann im Zielanflug durch die Stratosphäre.

Es ist zudem wahrscheinlich, dass es noch weitere "meteorologische" Forschungsziele gibt, die spezifische Parameter kartografieren und erforschen, die außerhalb des Kontexts der jeweiligen Waffen- und Taktikentwicklung nur schwer einzuordnen sind. Eine gute Analogie sind wahrscheinlich die ozeanografischen Forschungsschiffe und -Drohnen, die von allen U-Boot-fahrenden Staaten betrieben werden, um die Unterwasserwelt zu kartografieren und ihre Mechanismen durch Messreihen modellierbar zu machen. Unter Wasser sind zum Beispiel Temperatur und Salzgehalt der Wasserschichten von entscheidender Bedeutung für die Schallausbreitung und Tiefenströmungen können die Reisezeit von U-Booten signifikant beeinflussen. Es ist anzunehmen, dass es ähnlich relevante Phänomene in der Stratosphäre gibt und detailliertes Wissen darüber zu erlangen von hinreichender militärischer Bedeutung ist, um ein Ballonprogramm zu rechtfertigen.

Einen guter Eindruck von möglichen sonstigen Szenarien, für die Stratosphären-Ballons nützlich sein können, lässt sich anhand des Portfolios von Raven Aerostar (Opens in a new window) gewinnen, einem US-Unternehmen, das auch an Googles Project Loon beteiligt war und offensichtlich einen großen Teil der dort entwickelten Technologie weiter pflegt und verbessert, unter anderem für das US-Militär und die NASA. 

Besonders spannend ist hier das Szenario “Kommunikationsatelliten-Ersatz”. Wie im letzten Realitätsabzweig (Opens in a new window) betrachtet, ist im Konfliktfall der Angriff auf gegnerische Satelliten einer der ersten Schritte der Auseinandersetzung. In einer solchen Situation (und erst Recht wenn aus der Weltraum-Kriegführung ein  Kessler-Syndrom (Opens in a new window) entsteht) ist die Fähigkeit, schnell ein Satelliten-Ersatz-System mit Ballons – ähnlich dem Loon-Konzept – in die Luft zu bringen, extrem hilfreich.

Zusammengenommen sind Ballons hinreichend nützlich und günstig in spezifischen Anwendungsszenarien, dass das Beherrschen der Technologie für eine aufstrebende Großmacht wie China nicht optional ist. Insofern ist es (bis zum Beweis des Gegenteils durch die Trümmer-Forensik) am wahrscheinlichsten, dass der in den USA abgeschossene Ballon nicht die spezifische Aufgabe hatte, Militär-Installationen auszuspionieren sondern Messdaten zu gewinnen und Ballon-Technologie für einen späteren großflächigen Einsatz zu perfektionieren. Das China die Kontrolle über den spezifischen Ballon verloren hatte (z. B. durch Ausfall der Höhenkontroll-Pumpe) und er tatsächlich unbeabsichtigt in den Nordamerikanischen Luftraum gedriftet ist, ist zumindest technisch und statistisch plausibel und steht nicht in Konflikt mit den bisher vorhandenen Daten. Wir können gespannt sein, was die Trümmer-Forensik so ergibt.

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