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Winterschlaf

Wind rüttelte am Fenster. Regen trommelte gegen die Scheibe, als würden Schwärme von Insekten immer wieder dagegen fliegen. Es war sieben Uhr morgens und stockdunkel. Die Nacht beschloss Überstunden zu machen.

Die Bettwärme betäubte meine Sinne. Ich schloss meine Augen und träumte gegen den Wind an. In meinem Traum taten wir Menschen es den Siebenschläfern gleich. Zum Ende des Sommers verlangsamte sich unser Stoffwechsel. Wir wurden immer müder und fielen in einen mehrmonatigen Winterschlaf.

Eisbaden, Daunenjacken, Feuerwerk, Hygge, Schneemänner, Heiligabend, Winteroffensiven, Vierschanzentournee, Hüttengaudi, Helene-Fischer-Weihnachtsshows, UGG-Boots, Sternensingen, Rodeln, Pelzmäntel, dicke Socken, Bundesligarückrundenstart, lange Unterhosen, Skiferien, Eiskratzen, Lebkuchen, Neujahrsansprachen, Black Fridays, Schneeballschlachten und Glühwein kannten wir nicht.

Wir lebten nur im Frühling und Sommer. In knapp sieben Monaten erledigten wir alles: Wir brachten die Kinder zur Welt, begruben unsere Liebsten, heirateten und trennten uns, bauten Häuser, eroberten Länder, gewannen oder verloren WMs, machten Abi, gründeten Firmen, ernteten Gemüse, schrieben Bücher oder sahen uns fremde Länder an.

Als Lonesome-Fat-Man war ich einer der wenigen letzten Wachen im November. Ich war sogar Mitglied im Lonesome-Fat-Club. Aufnahmebedingung war, dass du nie vor Mitte November einschläfst. Bevor ich die nächsten Monate im Bett verschwand, wollte ich mir noch einmal Eiscreme gönnen. Ich ging einkaufen.

Im Supermarkt schob ich meinen 131 Kilo schweren Körper durch die Gänge. Jeder Schritt war Schwerstarbeit. Ein wenig ärgerte ich mich über meinen Ausflug, weil ich dafür wertvolle Kalorien opferte. Ein Zwei-Liter-Becher Stracciatella mit extra viel Zucker landete in meinem Einkaufswagen und sollte den Verlust wieder ausgleichen.

Nur eine Kasse war auf. Der Kopf der Kassiererin lag auf dem Laufband. Sie schnarchte. Speichel floss aus ihrem Mund. Wie ein sattes und zufriedenes Baby sah sie aus. Ihr dicker Bauch war aus ihrem T-Shirt gerutscht. Fasziniert betrachtete ich ihr Unterhautfettgewebe. In den tiefen Falten ihrer Speckrollen schlummerte ihr Piercing. Es war ein rosa Kristallschmetterling, der im Frühjahr wieder sichtbar wurde und alle Kunden fröhlich anglitzerte.

Noch einmal mit einem Menschen sprechen, dachte ich. Statt die Self-Outcheck-Kasse zu benutzen, beschloss ich, sie zu wecken. Wäre meine Frau dabei gewesen, hätte sie es nicht zugelassen. Sie gehörte der Pro-Sati-Schlafbewegung an. Eine Strömung aus dem Buddhismus, die im Kern auf Mitgefühl setzt. Jede Handlung sollte im Geist der Fürsorge und Rücksicht ausgeführt werden. Schlaf war für sie ein heiliger Zustand. Das Stören dieses Zustands wurde als mangelnde Achtsamkeit interpretiert. Mein Drang, noch einmal mit einem Menschen zu reden, war aber größer als meine Rücksicht. Vorsichtig tippte ich der Kassiererin auf die Schulter. Sie öffnete die Augen und starrte direkt auf den Stracciatella-Becher, den ich vor ihr auf das Laufband abgestellt hatte.

„Was?“, fragte sie verwirrt. Sie setzte sich aufrecht hin, wischte den Speichel in ihrem Kittelarm ab, zog ihr Shirt über ihren Bauch, streckte die Arme in die Luft und gähnte dabei lange die Deckenleuchten an. Dann lächelte sie freundlich und sagte: „Sie sind heute mein erster Kunde. Morgen wird alles auf Smart-Shopping umgestellt. Dann sind nur noch die Verkaufsautomaten da. Sie haben Glück. Was kann ich tun?“

„Ist das Eis im Angebot?“, fragte ich sie.

„Halber Preis, wenn Sie zwei Becher kaufen.“

„Ok, einer reicht mir“, antwortete ich und schob ein Kompliment hinterher: „Sie haben einen schönen Bauch. Als Sie schliefen, habe ich ihn bewundert.“

„Oh, vielen Dank! Das ist sehr nett. Ich setze auf Gummibären, die haben viel Zucker und Kollagen. Ich schwöre darauf. Das Bindegewebe ist dann besonders straff. Ihr Bauch und Ihre Schenkel sind auch nicht von schlechten Eltern. So einen Schweinenacken hätte ich auch gerne. Wann haben Sie mit dem großen Essen angefangen?“

„Danke. Gleich nach den Sommerferien stopfe ich alles in mich hinein. Ich habe das Glück, dass ich vom Sofa aus arbeiten kann. Dann geht es schneller mit dem Fettwerden.“

„So eine Couch-Office-Arbeit hätte ich auch gerne. Ich muss gegen die viele Bewegung im Job richtig anfressen, damit ich auch zulege. Bei der letzten Inventur habe ich viel Gewicht verloren. Fast 17 Tüten Weingummi hat es gebraucht, bis ich wieder mein Zielgewicht hatte.“

Ich packte das Eis in eine Kühlbox, damit es nicht schmilzt, denn mit meinem Gewicht dauerte es eine Ewigkeit, bis ich wieder zu Hause war. Zum Abschied wünschten wir uns noch ein schönes Erwachen im April. Als ich ging, lag die Kassiererin schon wieder mit dem Kopf auf dem Laufband und schlief.

Zu Hause angekommen, nahm ich den Fahrstuhl. Ab September verzichtete ich aufs Treppensteigen. Wertvolle Kalorien zu vergeuden war für mich eine Sünde. Mein Winterspeck sorgte dafür, dass ich im Frühling gesund aufwachte. Jeder Mensch brauchte ungefähr 120 Kilo, um heil durch den Winter zu kommen. Experten empfahlen sogar etwas mehr. Es kam immer wieder vor, dass Menschen zu spät mit dem großen Essen begannen. Die meisten buchten dann einen Zunehmkurs bei den Fat-Watchern. Manche von ihnen schafften über 30 Kilo in nur zwei Monaten. Das brauchte ich nicht. Ich war gut vorbereitet.

“Was für ein Traum mag das gewesen sein? War ich auch dort? War sie in diesem Moment glücklich?”

Am Küchentisch starrte ich auf das restliche Eis. Die Schokoladensplitter suchten im weichen Milcheis nach Halt. Mir fehlten meine Frau und unser gemeinsamer Stracciatella-Kunststreit, ob Stracciatella-Eis eher zum Pointillismus oder zum abstrakten Expressionismus gehört.

Vor elf Tagen war meine Frau vor mir in den Tiefschlaf gefallen. Ihre Haut war jetzt kühl, ihr Herz schlug nur sechsmal in der Stunde und sie machte wenig Atemzüge. Sie schlief immer vor mir ein, aber im Frühjahr war sie die Erste, die das Bett verließ. Zu unserem Frühlingserwachungsritual gehörte es, dass sie mir die Schneefrage stellte: „Hast du noch den Schnee mitbekommen?“ Einmal, wir waren gerade verheiratet, schneite es viel zu früh. Ich machte ihr einen Schneeball und bewahrte ihn den Winter über in der Kühltruhe für sie auf. Als ich Tage später nach ihr erwachte, verschlafen vor ihr stand und meine zu groß gewordene Pyjamahose festhielt, sagte ich ihr, dass im Kühlfach eine Überraschung auf sie wartete. Sie freute sich wie ein kleines Kind über den Schneeball und tanzte mit ihm zu Vivaldis „Zwei Jahreszeiten“. Den Schneeball fand sie fast besser als ihr Dornröschengeschenk. Alle Frauen bekamen von ihren Partnern zum Aufwachen Dornröschengeschenke. Ohne sie war der Frühling kein richtiger Frühling. Über den Schneeball spricht meine Frau noch heute.

Schwer und träge machte sich die Stille in unserer Wohnung breit. Bevor Hypnos mich in seine Arme schließt, wollte ich noch einmal die Stimme meiner Frau hören. Vor fünf Wintern fing ich an, von ihr Winterschlaf-Audios aufzunehmen, denn sie spricht im Schlaf. Sleep-Poetry nennt meine Frau ihre Selbstgespräche. Ich wählte meine Lieblingsstelle aus. Sie stammte aus dem dritten Winter. Ihre Stimme begann in der Küche zu kreisen.

„Kein Laut. Kein Leise. Streckt mich hinaus.

Alle Zeit ist ein Hampel.

Das Weltall ein Husch Husch.

Keksblau und Dosengrün.

Und überall Trost.

Mäuse schwirrent. Fische flirrent.

Zerweht den Zunder.

Schreckt alle Gewissen auf.

Schlafkakteen seid ihr. Jederzeit.

Ihr verrührt die Tiefe.

Verloren in allen Wassern.

Frostschatten rollen sich raus.“

Was für ein Traum mag das gewesen sein? War ich auch dort? War sie in diesem Moment glücklich?

Ich spürte, wie mein Herz langsamer zu schlagen begann. Es wurde Zeit. Ich musste mich bettfertig machen. Eine letzte Dusche und dann würde ich in den Winterschlaf gehen. Das restliche Eis warf ich in den Müll. Geschmolzen sah es aus wie ein Jackson-Pollock-Bild. Schade um den Zucker.

In Zeitlupe schlich ich durch unsere Wohnung. Sie kam mir riesig vor. Atemlos erreichte ich das Bad. Im Spiegel betrachtete ich meinen kahlen Kopf. Vor zwei Tagen hatte ich mir die Haare abrasiert. Der Winterschlaf mag die Körperfunktionen verlangsamen, aber die Haare wachsen im gewohnten Tempo weiter. Sie führten ihr eigenes Leben. Die Sekundenschlafanfälle häuften sich. Das Duschen und Abtrocknen dauerten lange. Nackt sah ich aus wie ein fetter Porzellan-Buddha in einem Chinarestaurant. Ich zog meinen Flanellpyjama an und ging ins Schlafzimmer. Hier drückte ich den Hiber-Nation-Button und setzte unser Wohnungssystem auf Audiopilot. Jetzt waren wir von der Welt abgemeldet.

Im Bett hielt ich die Hand meiner Frau und fragte mich, wie wohl eine Welt aussehen würde, in der die Menschen keinen Winterschlaf mehr hielten? Es gab einen Science-Fiction-Film, in dem Unternehmen, Politiker und Militärs versuchten, den Winterschlaf mit Wach-Drogen abzuschaffen. Sie hielten ihn für nutzlos. Er wäre eine Gefahr für Freiheit und Wohlstand, argumentierten sie. Tatsächlich gelang es ihnen ein Mittel gegen den Winterschlaf zu entwickeln. Die Menschheit konnte fortan mit der Droge auch im Winter rund um die Uhr arbeiten, einkaufen, in den Urlaub fahren, ständig miteinander kommunizieren und Partys feiern. Wach sein hieß, im Flow sein. Alles musste fortan im Flow sein. Dem Flow wurde alles untergeordnet, bis er zum Gesetz wurde und sogar in einigen Verfassungen aufgenommen wurde. Wer ihn störte, riskierte eine Verhaftung. In einer Szene gab es Angeber, die damit prahlten, dass sie nur zwei Stunden geschlafen hätten. Damals im Kino mussten wir alle darüber lachen. Der Film hatte ein Happy End. Die Menschen waren erschöpft und müde. Sie verweigerten die Drogen. Es kam zu einer Schläfer-Revolution. Am Ende gewann die Ohnmacht. Alle verschliefen wieder den Winter und waren glücklich. Aber wer mag schon an einem kalten und dunklen Januarmorgen zur Arbeit fahren? Ein Gedanke, bei dem mir kalt wurde.

Wie eine Raupe in ihrem Kokon verkroch ich mich unter meinen vielen Bettdecken. Wind rüttelte am Fenster. Regen trommelte gegen die Scheibe, als würden Schwärme von Insekten immer wieder dagegen fliegen. Es war sieben Uhr morgens und stockdunkel. Die Nacht beschloss Überstunden zu machen.

Die Bettwärme betäubte meine Sinne. Ich schloss meine Augen und träumte gegen den Wind an.

Ich fiel in den Winterschlaf.

Danke. Du hast durchgehalten. Ich freue mich. Vor Jahren habe ich diese Kurzgeschichte in sehr kurzer Fassung auf dem SoSUE-Blog veröffentlicht. Als ich jetzt wieder in meinen Notizen reinschaute, war da noch so viel, was ich damals erzählen wollte, also habe ich den alten Text komplett überarbeitet und neu geschrieben.

Ich wünsche dir und deinen Liebsten schöne Weihnachten und ein glückliches neues Jahr. Bleib gesund. Bis bald.

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