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Die Merzwerdung – eine Bildbeschreibung

Ein Ausschnitt von einem Aufkleber mit Friedrich Merz drauf. (Opens in a new window)

„Eine Photographie hat nur Wert, wenn man das, was sie repräsentiert, begehrt (und wäre es im Modus der Ablehnung)“

Roland Barthes, französischer Philosoph und Schriftsteller

Überall Bedeutung. Überall Versprechen. Überall Ewigkeiten. Ein Konfettiregen aus Fotos und Videos rieselt auf mich ein. Ich hocke am Pariser Flughafen und vertreibe mir die Zeit bis zu meinem Abflug auf Instagram, LinkedIn und TikTok. Kein Bild behalte ich in meiner Erinnerung. Das Auffegen geht immer schneller. Zwischen jetzt und gleich bleiben mir ein paar Minuten. In solchen Momenten google ich Dinge, die mich interessieren. Der Bundestagswahlkampf hat mich erfasst. Meine Neugier trifft Friedrich Merz. Laut Umfragen wird er der neue Kanzler. Es wird Zeit, ihn besser kennenzulernen. Ich überfliege die Suchergebnisse.

In meinem ersten Berufsleben war ich Fotoredakteur. Längst vergessene Instinkte melden sich zurück. Ich mache eine Google-Bildersuche: Merz beim Wandern, mit seiner Frau Charlotte, im Bundestag, im Büro, mit Persönlichkeiten, in Meetings oder als Pilot im eigenen Flugzeug. Wenig Privates wird mir angezeigt. Bis auf ein Bild. Gerne würde ich es mir näher anschauen, aber mein Flug wird aufgerufen. Ein Screenshot für später muss reichen. Meine Recherche verschwindet mit dem Flugmodus aus meinem Sinn.

Der Wahlsonntag rückt näher. Ich sitze am Schreibtisch und überlege, was ich hier auf Ponysülze schreiben kann. Mir schwebt eine Kurzgeschichte über einen Karpfen und eine alte Frau vor. Weit komme ich nicht. Gelangweilt von meinen eigenen Worten, greife ich zum Handy und flippe durch meine Fotoalben. Der Merz-Screenshot aus Paris taucht wieder auf. Ich ziehe das Foto groß.

Damals in den Redaktionen betrachtete ich mit der Lupe minutenlang Bilder. Mein Interesse galt Motiven, die viel Privates preisgaben. Ich hoffte, hier Heiligkeit zu finden. Heiligkeit versteckt sich nicht nur in Bildern, sie zeigt sich auch im echten Leben. Es ist ein Gefühl. Eine Entselbstung. Sie erfasst mich an windigen Ecken. Ein hysterisches Lachen aus einem Küchenfenster kann sie haben. In der Schule lenkte sie mich häufig ab. Auf einem gefrorenen Acker habe ich sie schon gefunden. Eine tanzende Haarlocke hinter einem Ohr besitzt sie. Bei meinen Dauerläufen im Regen hilft sie mir. In einem Nebensatz kann sie unvermittelt auftauchen. Hinter beschlagenen Fenstern ist sie sicher zu finden. Gestraffte Falten können sie vortäuschen.

Jeden Pixel nehme ich mir vor. Vielleicht komme ich der Heiligkeit im Merz-Foto auf die Spur, wenn ich mir vorstelle, wie das Bild mit Merz entstanden sein könnte. Meine Gedanken verselbstständigen sich wie eine Herde, die aus meinem Herzen ausgebrochen ist und jetzt mein Hirn überrennt.

Mein Kopfkino beginnt:

Es ist der 22. Juni 2011. Merz geht am Tag der Aufnahme durch seine Berliner Wohnung. In seiner Bibliothek, die aus einem riesigen Regal besteht, als müsste es das ganze Haus schultern, kommt er zum Stehen. Er mustert seine Einrichtung, das polierte Parkett und die artig sortierten Bücher. Kein Staub. Keine Familienfotos. Keine Erinnerungen. Keine Pflanzen. Nichts, was beleidigen kann. Nichts, was zu Spekulationen führen kann. Hier herrscht Gründlichkeit und Ernst. Zufrieden tritt Merz ans Fenster. Auf seiner Stirn spürt er den Sommer. Er schließt die Augen. Drüben, wie er das Regierungsviertel jetzt nennt, war emsiges Treiben. Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima wurde über Deutschlands Atomausstieg verhandelt, die Wehrpflicht sollte der Vergangenheit angehören und die Euro-Schuldenkrise beschäftigte alle Parteien. Drüben hatten sie Merz vergessen. Wenn er an den Ministerien, dem Kanzleramt oder dem Reichstag vorbeifuhr, drängte es ihm in seiner Brust. Er schaute in die Fenster, die an ihm vorbeihuschten. Merz suchte und fand nur verlorene Träume. An solchen Tagen kamen wieder Zweifel bei ihm auf. War es richtig, dass er 2009 sein Bundestagsmandat niedergelegt hatte? Eine Frage, die ihn wie ein eingewachsener Zehennagel quälte.

Frustriert gab er auf. Nur wenige in der Union waren darüber traurig. Für Angela Merkel war Merz ein Zufall. Merz trieb auf einmal oben. Hochgespült, weil die CDU sich erneuern musste. Er konnte sein Glück selbst kaum fassen. Mit seinem Temperament, seiner kurzen Zündschnur, dem begrenzten strategischen Talent und mit seiner Besserwisserei war er für Merkel der Wessi, über den sich die Menschen im Osten immer lustig machten. Merz, der Helmuth-Kohl-Biedermeier, passte nicht mehr zur Partei und in die Zeit. Es gab keine AfD, keinen Ukrainekrieg, kein Corona, keine Energieprobleme, keinen Trump, keinen Musk, keine Flüchtlingskrise, keine Fake News, kein TikTok und gefühlt keinen Klimawandel im Land. Es lief gut für Deutschland.

Merz ist jetzt 55 Jahre alt, tüchtig und sehr erfolgreich. Er arbeitet für eine internationale Kanzlei. In Aufsichts- und Verwaltungsräten ist er vertreten. Ist Mitglied in wichtigen politischen Vereinen. Schaut hinter die Kulissen von Firmen. Eignet sich neues Wissen an. Lernt einflussreiche Geschäftsleute und Unternehmer kennen. Seine Expertise und sein Netzwerk sind gefragt. Über diesen Lebensabschnitt schreibt er später auf der CDU-Website, dass er in dieser Zeit das große Privileg hatte, viel von der Welt zu sehen und viel Neues kennenzulernen.

Aber Geld und Einfluss interessieren Merz nicht. Er spürt, dass etwas in seiner Existenz unvollendet ist. Es fühlt sich an, als müsste er ohne Hose durchs Leben laufen. Er will Macht. Richtige Macht. Politische Macht. Nicht die eines Ministers. Nicht die eines Ministerpräsidenten. Alles eine Nummer zu klein für ihn. Er will die Macht eines Bundeskanzlers haben. Jeden Morgen, wenn er beleidigt die Morgenzeitung zuschlägt, sagt er leise zu sich selbst: „Ich will führen!“ Tatsächlich meint er damit, dass er es besser kann als andere. Auch heute wird keiner nach ihm rufen. Es werden Jahre vergehen, bis er sich entschließt, wieder in die aktive Politik zurückzukehren. Viele Meilen wird er bis dahin in den Excel-Etagen zurücklegen. Und so ergeht es Merz an diesem Morgen wie vielen Menschen, die nur ihr Unglück wahrnehmen, aber selten ihr Glück.

“Vielleicht war es die Furcht vor Kreativität, die deutschen Konservativen innewohnt, dass Merz und seine Berater auf Reflexe statt auf Anstrengungen setzen.”

Er wird aus den Gedanken gerissen. Ein Fotograf wird in die Bibliothek geführt. Die Tageszeitung Welt hat Merz nicht vergessen. Es ist sein Fanzine und er ist ihr Poster-Boy. In der Rubrik „Was ich gerade lese“ soll er mit seinem Buchtipp erscheinen. Trotz vollem Terminkalenders nimmt Merz sich Zeit. Eine Chance, die er sich nicht entgehen lassen will. Er will im Gespräch bleiben.

Merz und sein Beraterteam haben sich etwas überlegt und vorbereitet. Eine Selbstinszenierung. Der Denker Merz in seinem Bücherturm. Das Motiv soll an die legendäre Werbekampagne der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erinnern. Die „Dahinter-steckt-ein-kluger-Kopf“-Idee gefiel Merz von Anfang an, weil sie seinem Selbstbild entspricht und schnell umgesetzt werden kann. Er liebt Effizienz. Sie war schon bei seinem Karrierestart als Bußgeldrichter ein treibender Faktor. Er legte die Termine so, dass ein Anwalt, der mehrere Verfahren hatte, diese in einem Rutsch abwickeln konnte. „Nur schnelles Recht ist gutes Recht“, sagt er später in einem Zeit-Interview.

Die Wetterstationen in Berlin melden knapp 27 Grad. Ein sonniger Tag. Ein Glück für das Foto. Weiches Tageslicht fällt in die Bibliothek und lässt Merz sanft erscheinen. Er setzt sich in seine Cassina-Chaiselongue, einem ikonischen Möbelstück von 1952, das Charlotte Perriand entwarf, jedoch lange Zeit fälschlicherweise Le Corbusier zugeschrieben wurde. Neben Merz steht ein Glastisch mit Büchern. Sauber gestapelt. Fast alle im gleichen Format. Alle griffbereit, um die Lektüre schnell zu wechseln. Auf der anderen Seite wacht eine stolze Bibliotheksleiter aus Kirschholz. Eine Konstruktion, die mit ihren Greifholmen für Sicherheit sorgen soll, wenn Merz die oberen Regalhöhen aufsucht. Im Hintergrund steht diskret und verschwiegen eine Leselampe.

Merz will eine Biografie über Berthold Beitz vorstellen. Ein Unternehmer alter Schule, der den Krupp-Konzern nach dem Krieg wiederaufgebaut hat. Vom Staat Israel wurde er zum Gerechten unter den Völkern ernannt, weil er Hunderte jüdische Zwangsarbeiter gerettet hatte. Nicht nur die Rettungstat bewundert Merz, er schreibt später, dass im Buch „die Voraussetzungen für erfolgreiches unternehmerisches Handeln in der sozialen Marktwirtschaft“ gut dargestellt werden. Wie alle Politikerfotos steckt auch hinter diesem Schauspiel ein Kalkül. Selbst in einem Moment gespielter Privatheit soll jedermann im Land erfahren: Merz kann Markt. Merz ist bereit. Dass er auf dem Sprung ist, signalisieren seine Straßenschuhe, die er anbehält. In seinem Designsessel macht Merz den Eindruck, als würde er in der Businessclass einer Airline sitzen und Akten studieren, es fehlt nur ein Glas mit Tomatensaft.

Das Arrangement erinnert an Carl Spitzwegs Gemälde „Der arme Poet“, das einen mittellosen Dichter im Bett beim Schreiben in seiner Dachstube zeigt. Obwohl der eine arm und der andere reich ist, haben die beiden Bilder etwas gemeinsam, sie zeigen zwei Männer, die bewusst die Isolation wählen, um ihre intellektuelle Abgehobenheit zu demonstrieren. Aber es gibt einen feinen Unterschied. Wir werden den Eindruck nicht los, dass der Dichter in seiner Kammer für Weltoffenheit steht. Der Politiker in seiner Manufactum-Burg dagegen verkörpert die Weltfremdheit. Das ist kein gemütlicher Ort zum Schmökern. Das ist eine elitäre Denkzentrale mit einer Work-Work-Balance.

Vielleicht war es die Furcht vor Kreativität, die deutschen Konservativen innewohnt, dass Merz und seine Berater auf Reflexe statt auf Anstrengungen setzen. Wie viel dankbarer wären die Welt-Leser und -Leserinnen gewesen, wenn Merz auf einem Sofa rumlümmeln und Harry Potter lesen würde, weil er wissen möchte, mit welchen Büchern sich seine Enkel beschäftigen. Mit ein wenig Fantasie hätte er dem erstaunten Publikum erklären können, dass in Harry Potter-Büchern Galleonen, Sickel und Knuts das Währungssystem bestimmen. Diese Geldmenge aber begrenzt sei und Inflation in der Zauberwelt kaum eine Rolle spiele. Trotzdem gebe es ein Wohlstandsgefälle: Familien wie die Malfoys genießen wirtschaftliche Vorteile durch Kapitalakkumulation, während die Weasleys durch eine geringe Erbschaftsquote und fehlende Skaleneffekte ökonomisch benachteiligt sind. Merz wäre aufgefallen, dass er einem Malfoy ähnelt, und hätte sich über sich selbst lustig machen können.

Die ersten Aufnahmen sind im Kasten. Auf einem Laptop begutachtet Merz die Fotos. Merz ist froh, dass er nach dem Duschen trotz des warmen Wetters lange Kniestrümpfe angezogen hat. Nichts hasst er mehr, als wenn der Hosensaum etwas Haut am Bein freigibt. Diese Manie geht so weit, dass er von Männern in kurzen Socken keine hohe Meinung hat. Der Fotograf empfiehlt einen leichten Blitz von vorne, der die Konturen schärft. Aber dem Foto fehlt Entspanntheit. Es ist die Krawatte, meint der Fotograf. Merz überlegt einen Moment. Schließlich nimmt er die Krawatte ab. Tupft mit seinem Stofftaschentuch seine Stirn trocken. Merz schaut auf seine Uhr. Nimmt wieder Haltung an. Konzentriert sich auf sein Buch. Dass er die Schuhe ausziehen könnte, um die Lockerheit mehr zu betonen, traut sich der Fotograf in diesem Moment nicht zu fragen. Er drückt noch einmal ab.

Friedrich Merz und sein Buchtipp erscheinen am 6. August 2011 in der Welt. An diesem Morgen wird er die Zeitung nicht beleidigt zuschlagen. Merz fängt an, wieder an sich zu glauben. Die Merzwerdung beginnt.

Der Wahlsonntag ist vorbei. Die CDU hat gewonnen. Merz wird wahrscheinlich der nächste Bundeskanzler. Die ersten Sondierungsgespräche mit der SPD werden geführt. Ich schreibe die letzten Zeilen für diesen Text und stelle mir die Frage: Wenn sich heute die Fiktion immer mehr der Wirklichkeit annähert, warum sollte sich die Wirklichkeit nicht mehr der Fiktion annähern?

Geholfen hat das meiner Einbildung nicht. Es gibt keine Heiligkeit im Merz-Foto. Ich mag nicht weitersuchen. Draußen lockt der Frühling. Ich gehe raus. Ein paar windige Ecken warten auf mich.

 

Meine Fiktion wurde von den Ereignissen immer wieder unterbrochen und ich war mit der Vorbereitung meiner Akquise (Opens in a new window) beschäftigt, daher meine kleine Verspätung. Warum zeige ich das Bild nicht? Das hat mit den Urheberrechten zu tun, aber hier bei Getty (Opens in a new window) kannst du es dir anschauen. Du siehst vielleicht etwas anderes oder gar nichts – jeder hat seinen eigenen Blick auf die Dinge. Trotzdem bedanke ich mich für deine Zeit. Aktuell arbeite ich an einer neuen Kurzgeschichte, vielleicht schon im April. Bis bald. Genießt den Frühling.

PS: Über Weiterempfehlungen von Ponysülze freue ich mich.

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Topic Essay

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