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Ein Foto und ein paar Abgründe

Die Vergangenheit vergeht in Italien nie - man könnte auch von "lebenslänglich" sprechen, was die Auswirkungen der Attentate von 1992-93 betrifft (für alle, die damals noch nicht geboren waren: Es handelt sich um die Ermordungen der beiden Antimafia-Staatsanwälte Falcone+Borsellino): In diesen Tagen wurde die Fernsehsendung "Non è l'Arena" (Opens in a new window) abgesetzt. Jetzt könnte man sagen: Ok, passiert. Vielleicht waren die Quoten nicht gut genug?

Viele haben der Sendung vorgeworfen, dass sie zu sensationsheischend sei - allerdings ging es hier gerade in der letzten Zeit um Dinge, die dem durchschnittlichen italienischen Zuschauer entgangen wären: etwa die Hintergründe zwischen der Zusammenarbeit zwischen dem italienischen Staat und der Mafia. Und hier wurde auch im November die bevorvorstehende Verhaftung des Bosses Messina Denaro verkündet, von keinem Geringeren als Salvatore Baiardo, einem ehemaligen Eisverkäufer und Helfershelfer der Bosse Filippo und Giuseppe Graviano (Baiardo wurde dafür verurteilt und hat die Strafe abgesessen) - der sich jetzt als "Sprecher" der inhaftierten Brüder betätigt, worüber ich bereits in Reskis Republik berichtete (Opens in a new window).

Und weil Baiardo eine so schillernde Figur ist, interessierte sich auch die Antimafia-Staatsanwaltschaft von Florenz für ihn und seine Aussagen - denn sie ermittelt gerade in Hinblick auf eine mögliche Beteiligung von Berlusconi (immer noch im Krankenhaus, der Ärmste) und seiner rechten Hand Marcello Dell'Utri an den Attentaten von 1992-93. Als die Staatsanwälte den (sich seit einiger Zeit unter Polizeischutz befindlichen) Moderator befragten, sagte er, dass ihm Baiardo ein Foto von Silvio Berlusconi, den damals noch flüchtigen Graviano-Brüdern und einem Carabiniere-General gezeigt habe. Die Brüder Graviano wurden 1994 verhaftet, kurz bevor Berlusconi "ins Feld zog" und waren an den Attentaten wesentlich beteiligt.

Das Foto ist natürlich ein spannendes Detail - um so mehr, als Baiardo in diesem Zusammenhang angedeutet habe, dass es in Hinsicht auf die bevorstehende Gesetzesänderung in Sachen lebenslange Haft eine Rolle spielen könne (Remember: Die lebenslange Hochsicherheitshaft für Mafiosi ohne die Aussicht auf Hafterleichterung soll ja, so wollte es Draghis Justizministerin Cartabia, abgeschafft werden) - kurz: Das Foto soll offenbar zur Erpressung eingesetzt werden.

Jetzt könnte man sagen: Oh, oh, Verschwörungstheorie. Aber da fügt es sich, dass in der nächsten Folge der nun abgesetzten Sendung "Non è l'Arena" die Rolle von Marcello Dell'Utri beleuchtet werden sollte, Berlusconis rechter und wegen der Unterstützung der Mafia verurteilten rechten Hand. Dazu wird es jetzt nicht mehr kommen.

Interessant ist auch, dass der Sender la 7, auf dem die Sendung läuft, genau wie der Corriere Della Sera zur Medienholding RCS-Media-Group gehört, die mehrheitlich von dem Medienunternehmer Urbano Cairo kontrolliert wird. Cairo entspringt Berlusconis Fininvest-Universum, wo er es von Berlusconis persönlichem Assistenten bis zum stellvertretenden Direktor von Publitalia brachte, dem Werbeunternehmen von Fininvest, das mit seinem Marketingnetzwerk unter der Leitung des später wegen Unterstützung der Mafia verurteilten Berlusconi-Intimus Marcello Dell’Utri auch Berlusconis Partei Forza Italia gründete. So ein Zufall.

Und wenn Sie jetzt "Ist eben Italien" sagen, dann möchte ich Ihnen den Podcast "Mafia Land" (Opens in a new window) ans Herz legen, Super Podcast für alle, die nichts von der Mafia in Deutschland wissen, das aber nicht zugeben wollen - und deshalb die Mehrheit sind. "Mafia Land" zeigt anhand des Beispiels des Stuttgarter Promiwirts Mario L. die geschickte und völlig unterschätzte Unterwanderung von Politik und Wirtschaft durch die Ndrangheta auf. Acht Folgen - ich habe sie mir alle angehört und finde sie gut gemacht: Es geht erst locker mafia-for-beginners-mäßig los, zeigt dann aber die Abgründe auf, die in Deutschland so gerne verdrängt werden.

Disclaimer: Tauche in mehreren Folgen auf und werde als "Grande Dame der Mafiaberichterstattung" eingeführt: "Die ist ja auch schon ewig dabei".

Meanwhile in Venedig, dieser kleinen Stadt im Wasser: Gestern kam es im Ateneo Veneto zu einer Informationsveranstaltung anlässlich des 50. Jahrestags des "Spezialgesetzes zum Erhalt von Venedig und seiner Lagune": Im Jahr 1973, sieben Jahre nach der großen Flut, wurde das Spezialgesetz zum "Schutz Venedigs und des hydraulisch-geologischen Gleichgewichts seiner Lagune" verfasst. Es folgten weitere Gesetze, die forderten, die Morphologie der Lagune wiederherzustellen, den Verfall der Lagune aufzuhalten und rückgängig zu machen und jeden Eingriff in die Lagune verbieten , der nicht schrittweise durchgeführt wird und sowohl experimentell als auch umkehrbar ist. Nichts davon wurde beachtet. Die Lagune wurde zerstört, die Kreuzfahrtschiffe fahren nach wie vor ein, der Massentourismus wird nicht beschränkt, die Luft ist verpestet, Airbnb versetzt Venedig den Gnadenstoß, Unternehmen werden aus der Stadt vertrieben, die Stadt stirbt aus.

Die Referenten waren fast alle Protagonisten meines Venedigbuches (Opens in a new window): Darunter Armando Danella, der während der Amtszeit von Bürgermeister Cacciari als Funktionär des venezianischen Stadtrats zuständig war für die Einhaltung des besagten Spezialgesetzes für Venedig, das von allen Mose-Verantwortlichen mit den Füßen getreten wurde. In meinem Buch zitiere ich ihn mit den Worten: "Heute ist es kein Geheimnis mehr, dass das Mose-Projekt, das Venedig hundert Jahre lang schützen sollte, der Lagune mehr schadet als nützt. Der Klimawandel wird dem Projekt ein ruhmloses Ende bereiten". Gestern sagte er, dass er kein weiteres Wort mehr für das Mose-Projekt vergeuden würde, denn das würde nur bedeuten, "auf einen toten Mann zu schießen".

Und gestern Abend haben wir uns noch den Film Lagunaria angeschaut, hier ist der Trailer:

https://www.youtube.com/watch?v=e7keh5h10d0 (Opens in a new window)

Er beschreibt Venedigs Wirklichkeit auf sehr poetische Weise - wie ein Märchen. Und in Märchen passieren ja auch oft schreckliche Dinge. Das Kino war bis auf den letzten Platz besetzt, ich meine, das muss man sich mal vorstellen: Venezianer rennen ein Kino ein, in dem ihnen nichts als ihre Wirklichkeit vorgeführt wird. Und wir wurden alle ganz melancholisch, als wir die Bilder sahen, die in der Zeit des Lockdowns aufgenommen wurden - an die wir uns wie an eine Phantasmagorie erinnern.

Und heute um 15 Uhr werden wir auf dem Campo Sant'Angelo demonstrieren - anlässlich des 50. Jahrestages des ungenutzten Spezialgesetzes für Venedig: gegen Venedigs Ausverkauf, gegen die Zerstörung der Stadt und seiner Lagune.

Herzlichst grüßt Sie aus Venedig, Ihre Petra Reski

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