Skip to main content

Duke Days

Getty Images

Gestern wartete ich mit meinem Sohn vor unserem Lieblingsburgerladen, um unsere Bestellung nach Hause zu tragen. Mit uns wartete ein älteres Paar in den besten Jahren, die Zigaretten rauchten. Ich hatte es ewig nicht mehr gerochen. Dennoch sind wir einige Schritte aus ihrem Qualmabzug getreten, kamen so über die nostalgische Qualität von Rauchwaren ins Plaudern. Die Dame war in den besten Jahren und erzählte, dass ihr Vater Zigarre rauchte. Westzigarren, die ihm die Verwandtschaft in die DDR schickte. Er zählte sie ab. Dann rauchte er eine davon zur Hälfte am Samstagnachmittag, wenn er Kartoffeln für ihre sechsköpfige Familie schälte. Also er ging dazu auf den Balkon, präzisierte sie. Die andere Hälfte gönnte er sich dann am Sonntag, nachdem sie gemeinsam die Klöße verzehrt hatten. Männer im Wandel der Zeit.

Das führt uns zur erstaunlichsten Wendung der letzten Zeit: In diesem Newsletter sind wir von einer Chronistenpflicht befreit, also müssen auch keine Verrenkungen unternommen werden, um einen würdigen Nachruf auf den Herzog von Edinburgh zusammen zu schreiben. Es ist merkwürdig, wie ein Mann, der jahrelang als Unsympath im Maßanzug und schwer erträglicher, reaktionärer Sprücheklopfer galt, nun verehrt wird wie ein Erfinder oder Friedensstifter. Ob die AutorInnen der Nachrufe nicht heimlich lachen mussten? Sicher hat die tolle Netflix-Serie „The Crown“ damit zu tun – ich vermute, dass Philip eine Quelle der Serienautoren war. Er wusste alles, hatte Zeit im Überfluss und kam vor allem dort so gut weg wie nirgends sonst. Im Kontext des Dramas um Lady Di war er sogar der ausgesprochene Buhmann gewesen, der seinen Sohn in diese absehbar unglückliche Ehe drängte.

Vermutlich beeindruckt die schiere Dauer seines öffentlichen Dienstes, und seiner unübertrefflichen globalen Prominenz, die sich, wie jene der Queen, synchron mit der Entwicklung des Radios, des Fernsehens  – also der globalen Medienöffentlichkeit herausbildete. Er war der erste, der berühmt dafür war, berühmt zu sein – ein Vorläufer von Paris Hilton. Die große Hilary Mantel beschrieb in diesem Essay am besten, wie die britische Monarchie unseren Blick einfängt, wie wir sie anstarren, um etwas über uns selbst zu erfahren

Hilary Mantel über die Royals (Opens in a new window)

https://www.lrb.co.uk/the-paper/v35/n04/hilary-mantel/royal-bodies (Opens in a new window)

Das Angebot an charismatischer Autorität ist rar geworden, die digitalisierte Welt lässt Prominenz im Stundentakt entstehen und vergehen. Die Leute verfolgen nicht mehr passiv die gleichen, globalen Medien und verehren die dort ausgestellten Figuren, sondern schaffen sich ihre eigenen Kanäle und interagieren dort. Die Öffentlichkeit ist subjektiv geworden. Man merkt das, wenn man mit Kindern eine Show einschaltet:  Es fällt dem Casting offensichtlich schwer, genügend berühmte Menschen zu finden, um die Runden zusammen zu bekommen. Wer in den großen Zeiten des Kinos oder der Fernsehunterhaltung bekannt wurde, den kennen meine Kinder nicht und wer danach berühmt wurde, etwa in der Fülle der Comedy und Realityformate, den kennen wir alle nicht.   Die lange Couch von „Wetten dass ?“ wäre heute voller Menschen, die sich gegenseitig und dem Publikum erst einmal vorstellen müssten.

In der Politik zeigt sich das auch. Das Rollenfach des elder statesman bleibt unbesetzt. Dabei wurden etwa Helmut Schmidt, Willy Brandt oder Giscard erst nach ihrer Amtszeit zu Männern, denen man gern zuhörte, die über ihre Wählerschaft hinaus Respekt und Gehör fanden.

Heute saugen überkapitalisierte Finanz-, Digital- und Energiebranchen alle einstigen Amtsträger in ihren globalen Vortrags-, Beratungs- und Eventzirkus. Die Clintons, Blairs, Sarkozys und Schröders dieser Welt verschmähen für Geld ihre mögliche Rolle als Pädagogen der Politik und moralische Autoritäten, als Figuren, die für den öffentlichen Diskurs zuständig sind. Die besondere Verwilderung der öffentlichen Auseinandersetzung in den sozialen Netzwerken tut ein Übriges dazu, Menschen aus der professionellen Politik zu vergraulen.

Der Mangel an Autorität macht sich derzeit gerade in der Union bemerkbar. Weder Laschet noch Söder scheinen derzeit in der Lage, einen erfolgreichen oder zumindest interessanten Wahlkampf zu führen. Letzterer hat vielleicht manche Wählerin und manchen Wähler auf seiner Seite, aber wenig Rückhalt in der CDU. Und was wäre, wenn die Union das Kanzleramt verlieren sollte? Fliegt ihnen dann die Partei um die Ohren, so wie es den französischen Konservativen erging, die in erbittertem Zwist untergingen und heute ein Relikt im stillen, weiten Museum der versunkenen Parteien sind?

So wie ich die CDU kennen gelernt habe, ist man dort vor allem stolz auf ein professionelles deutsches Image, darauf, das Land ordentlich zu führen. Dort sind viele Einserjuristen, Pannen und Improvisationen machen sie nervös. Sie dürften unglücklich sein mit dem Bild, dass ihre Partei derzeit bietet.  Es würde mich nicht wundern, wenn ein neuer Kandidat benannt würde, um Merkel nachzufolgen oder notfalls in Ehren zu verlieren und eine neue Koalition vorzubereiten.

Das müsste ein Profi sein, etwas autoritär, aber ohne die Ambition, nun auch 16 Jahre regieren zu wollen. Einer, der Koalitionsverhandlungen mit den Grünen führen kann, ohne dass seine Partei den Aufstand übt. Eine solche Figur ist Wolfgang Schäuble. Ich würde mich nicht wundern, wenn er der Kandidat wird. Sein Alter ist ein Vorteil: Er wäre, wie Joe Biden, ein Mann, der den Weg für die folgende Generation bereitet. Sollte die denn wissen, wo sie lang möchte. Und Journalisten lieben ihn einfach. Ich habe allerdings noch nie CDU gewählt und werde nun nicht damit anfangen.

In Frankreich blüht derzeit eine schwer zu erklärende kulturelle Neurose. Angeblich bieten große Restaurants geheime Abendessen, umgehen die Coronaabwehrbestimmungen und öffnen für gutsituierte, gut vernetzte Kundinnen und Kunden. Eine dunkle Elite tafelnder Schlemmer, die sich darüber tot lacht, wie sich der Rest abmüht. Wer sind sie? Genaues weiß man nicht, aber alle reden mit.  Jeder will es gehört haben, von jemandem, der es sicher gesehen hat.

Ab und zu werden Wirte erwischt, ihre Kunden bestraft, aber in der kollektiven Imagination ist das Phänomen ungemein bedeutend. Es trifft den Nerv des kollektiven Unterbewusstseins - Das Restaurant ist die säkulare Kirche der Französinnen und Franzosen. Wenn sich Franzosen über den Seelen-und Gesundheitszustand eines gemeinsamen Freundes verständigen wollen, dann teilen sie mit, wo und was er Werktags zu mittag isst: „Sein Leben ist die Hölle, er schafft mittags nur einen Salat.“

Der Finanzminister Bruno LeMaire entschloss sich sogar, seine akademische Laufbahn auf zugeben und in die Politik zu gehen, weil die nötigen Pendelfahrten zwischen den Universitäten ihm nur Zeit für das immer gleiche, trostlose Schinkenbaguette ließen – so könne es nicht bis zur Pensionsgrenze weiter gehen, befand er und bereitete sich auf die ENA vor, jene Verwaltungshochschule, die seine Regierung nun endgültig schließen möchte.

Leider ist zu erwarten, dass die französische Öffentlichkeit nicht die Leistungen, die vielen Beispiele der Tapferkeit und Nächstenliebe im Sinn behält, wenn sie über die Pandemie nachdenkt, sondern die Gerüchte über die geheimen Tischrunden der Coronaverräter. So wie im Kontext der Attentate gegen „Charlie Hebdo“ kaum noch von der überwältigenden Solidarität die Rede ist, die nach den Attentaten öffentlich wurde, sondern viel zu oft von den paar bescheuerten Schülern, die sich weigerten, bei der Gedenkminute in den Klassen mit zu machen. So sucht sich Frankreich mit sicherem Gespür immer die schlechteste Nachricht und erhebt sie zur Diagnose über den Zustand des Landes – zur Not wird auch erfunden.

Was tun?

Ich schaue das immer wieder, nun wird sie auch kostenlos im Privatfernsehen zwischen  Minus6 oder Contra8 zu empfangen sein, die HBO-Miniserie „Chernobyl“ – Sie zeigt das Wechselspiel zwischen Ideologie, Politik, Wissenschaft und Zivilbevölkerung und wird zum Lehrstück für den Umgang mit der Pandemie und mit dem Klimawandel. Der Geheimdienst KGB, so schildert es die Serie, war direkt nach der Katastrophe hochzufrieden: Es war gelungen, die Telefonanschlüsse der Unglücksregion stillzulegen, die Sicherheit war also gewährleistet. Man wird an echte Helden erinnert – Taucher, Bauarbeiter, Ärztinnen– deren Namen vergessen sind. Und es ist eine leise Liebeserklärung an lernfähige Politiker, die dann doch noch auf die Wissenschaft hören.

0 comments

Would you like to be the first to write a comment?
Become a member of Der siebte Tag and start the conversation.
Become a member