Metamoderne Mytho-Poese: Unsagbares ausdrücken
Die Kunst aufzuhören
Wie würden wir unser Leben leben, wenn uns dessen Aufhören bewusst wäre? Diese Frage stellt sich mir ganz neu und durch den Tod von Henriette, meiner Frau, sehr existentiell. Ich frage nun dich: Worauf würdest du hören, wenn du in dem Bewusstsein lebtest, dass alles jederzeit aufhören kann?

Dieses mehrdeutige „Aufhören” ist wirklich eine hohe Kunst. Eine Kunst, die wir in unserer krisengeschüttelten Zeit dringend brauchen. Wir ahnen dunkel, dass wir nicht imstande sind aufzuhören mit so vielem, was eigentlich notwendig wäre…
Wir sitzen in der Falle der selbst gemachten Umstände und geben uns meist mit kleinen Kurskorrekturen zufrieden, von denen wir uns die kleine Beruhigung in der großen Beunruhigung erhoffen.
„Um aufzuhören, muss man sich nicht abwenden, sondern gerade zuwenden muss man ganz Ohr werden”
Marianne Gronemeyer, Erziehungswissenschaftlerin
Denn wenn wir wirklich in der Tiefe etwas Neues in die Welt bringen wollen, braucht es zuerst den Mut, das „Alte” loszulassen („letting go”!) - nicht nur Verhaltensweisen an der Oberfläche verändern, sondern auch Strukturen, Überzeugungen und Weltbilder in der Tiefe „sein lassen” und dann dem lauschen, was da kommen könnte.
Das Sein-Lassen enthält wie das Auf-Hören eine Doppeldeutigkeit: Denn beim Sein-Lassen geht es nicht um ein bloßes Weghaben-Wollen, sondern eben um „Sein” lassen. Das bedeutet, sich dem was ist, zuzuwenden, es in der Tiefe anzunehmen, damit es sich dann wandeln kann.
Hemma Rügen, Kommunikationstrainerin und Organisationsberaterin (Evolve 41, S. 15).
Das ist eine treffende und schöne Beschreibung, was wir mit der metamodernen co-creativen Arbeit an der Wirklichkeit meinen. Eine Wirklichkeit, die wir meist nicht so haben wollen wie sie eben ist. Die Ereignisse im Oval Office mit Selensky oder das Sterben eines lieben Menschen oder das Zulassen der vollen Wucht einer kommenden Klimakatastrophe …
Die oberflächlichen Reparaturen am Vorhandenen reichen da nicht. Dann braucht es die Fähigkeit zur Resilienz 3.0 oder das „Bounce-Beyond” (über die bekannten Grenzen hinausspringen). So habe ich die Startseite unseres nuPerspective-Instituts (Opens in a new window)nun auch visuell neu gestaltet.

Genau das Sein-Lassen führt also tiefer in den Prozess der dann möglichen Transformation. Denn „Sein-Lassen” bedeutet eine Art „Sterben”: Es darf unser Ego „zugrunde gehen” (oder in der Sprache der Mystiker: das Ich geht den Dingen auf den Grund).
Wir dürfen z.B. die Idee loslassen, dass das, was geschieht, nur durch unser Tun entsteht. Oder wir lassen unsere Träume oder Wünsche los, wie wir unsere Welt gerne gehabt hätten. Stattdessen dürfen wir warten, auf das, was kommen mag. Warten, bis aus der Tief der Stille der Impuls für etwas Neues kommt.
Der Sinn von Presencing
Genau so benennt Otto Scharmer in seiner Theory U diese eben beschriebene Phase in seiner Theory U: „Presencing”.
Otto Scharmer, ein Ökonom und MIT-Professor, hat das Konzept des Presencing als zentralen Bestandteil seiner Theorie U (Opens in a new window) entwickelt. Der Begriff ist eine Kombination aus „Presence” (Gegenwärtigkeit) und „Sensing” (Spüren, Wahrnehmen).
Presencing beschreibt also einen Zustand, in dem Menschen oder Organisationen sich mit ihrer tiefsten inneren Quelle verbinden, um aus einer zukünftigen Möglichkeit heraus zu handeln, anstatt nur aus der Vergangenheit oder aus bestehenden Mustern. Es geht darum, innere Blockaden des Verhaftetseins in bekannte Muster zu überwinden und eine tiefere Verbindung zu zukünftigen Potenzialen herzustellen. Ich kann verstehen, wieso Henriette so fasziniert war von der Kreativitätsforschung, die genau diese Fähigkeiten erstmalig erforscht hatte.
Die drei Kernelemente des Presencing:
Loslassen (Letting Go) → Alte Denkmuster und Ängste ablegen.
Zugang zum inneren Wissen (Letting Come) → Intuition und tieferes Bewusstsein nutzen.
Handeln aus der Zukunft (Acting from the Emerging Future) → Visionen und Innovationen umsetzen.
Presencing in der Praxis:
In Organisationen: Transformation und Innovation ermöglichen.
In Leadership: Führungskräfte entwickeln ihre intuitive Entscheidungsfähigkeit.
In gesellschaftlichen Prozessen: Gemeinsames Lernen und Wandel fördern.
In Religion und Theologie: neue Sprachbilder für das göttliche Geheimnis zulassen oder finden
Kurz gesagt: Presencing hilft dabei, nicht nur aus Erfahrungen der Vergangenheit zu handeln, sondern sich auf die bestmögliche Zukunft auszurichten.
Meta-Spiritualität der Metamoderne
„Metamoderne Spiritualität ist ein rekonstruktives Unterfangen. Sie ist eine spirituelle Praxis, die uns dazu einlädt, große Erzählungen und ganzheitliche Sinngebung aus einer sich selbst reflektierenden Haltung heraus neu zu begreifen. Wir sind ernsthaft und aufrichtig bemüht, neue symbolische Formen und mythische Bilder zu schaffen, die wir in echter Ehrfurcht vor der Schönheit und Tiefe der Wirklichkeit verwenden können. Gleichzeitig bewahren wir eine gewisse Distanz zu ihnen, denn sie sind geschaffene Ausdrucksformen unserer schöpferischen Imagination.
Diese metamoderne Mythopoese (oder Mythenschöpfung) ist Teil einer umfassenderen Denkweise über diesen evolutionären Moment in der Geschichte, in dem die Vorstellungen vom Heiligen eine Neugestaltung erfahren. Wir können erkennen, dass solche Bemühungen der Neugestaltung in der Geschichte schon immer im Gange waren, aber jetzt geschieht es in einem Moment, in dem wir uns dessen bewusst sind.
Wir können dies als eine Einladung verstehen, uns auf diesen Prozess einzulassen und bewusst daran teilzuhaben und zu versuchen, die Künstler und Poeten Gottes zu sein. So gesehen ist es nicht nur eine Frage der Kunst oder der Vorstellungskraft, sondern eine fast prophetische Aufforderung, die Religion für die Zukunft neu zu entwerfen.“
Sagt der Theologe Brendan Graham Dempsey, der in evolve 45 „Lebendige Praxis interviewt wird. Das Heftthema: Wie eine Ökologie von Lebenspraktiken uns wachsen lässt“. (Opens in a new window) Ich habe seinen Denkstil und sein Anliegen hier in einem sehr theologischen Artikel (Achtung Schwarzbrot) skizziert: Emergentismus vs. Integrale Theorie. (Opens in a new window)
Ich glaube, Henriette war uns ist eine Künstlerin und Poetin Gottes. Voller Dankbarkeit zum „Sein-lassen” gedrungen grüße ich dich,
dein metamoderner Helge
https://youtu.be/9pFLP4s5w9Q?si=JkqIgPZau-Rslk9M (Opens in a new window)Und lyrisch ausgedrückt von Michael Patrick Kelly ist dieser Wechsel zum neuen Horizont im Bild des Paragliding und zugleich einer personalen Erfahrung des Gehaltenseins über dem Abgrund.