Psychologische Sicherheit aus Nervensystemperspektive
Falls du meinen Artikel "Psychologische Sicherheit verstehen und stärken (Opens in a new window)“ gelesen hast, erinnerst du dich vielleicht: Erst habe ich dir ganz viele Tipps gegeben, wie man psychologische Sicherheit im Team stärken kann – nur um dann zum Schluss zu sagen:
All die beschriebenen Maßnahmen können nicht garantieren, dass sich ein Mensch sicher fühlt. Wie sicher wir uns fühlen, hat viel mit unserem Nervensystem zu tun und den darin abgespeicherten Erfahrungen von (gefühlter) Sicherheit und Unsicherheit.
Und daher möchte ich dich nun mitnehmen in die faszinierende Welt des Nervensystems 😍
Wenn du den ersten Artikel (Opens in a new window) noch nicht kennst, kann es hilfreich sein, da mal reinzuschauen. Aber auch so kannst du sicherlich viel aus diesem zweiten Artikel mitnehmen.
Kurz zur Wiederholung: Psychologische Sicherheit meint „ein Teamklima, in dem wir uns sicher fühlen, zwischenmenschliche Risiken einzugehen“. Wir tragen keine metaphorische Maske, sondern fühlen uns frei, wir selbst zu sein. Laut vieler Studien ist psychologische Sicherheit der wichtigste Faktor für Hochleistung im Team. Und es gibt bereits einige gut erforschte Faktoren zur Stärkung psychologischer Sicherheit, z.B. geringe Statusunterschiede, Führungsverhalten, gute Beziehungen zwischen Kolleg:innen, fehlerfreundliche Kultur…
An dem Punkt möchte ich nun ansetzen und anhand der Funktionsweise unserer Nervensystems erläutern, warum Interventionen für mehr psychologische Sicherheit auf unterschiedliche Menschen unterschiedlich wirken können. Anschließend bespreche ich, was wir daraus für effektive Zusammenarbeit in Team und Organisation lernen können.
Sicherheit aus der Perspektive des autonomen Nervensystems
Sicherheit aus Nervensystemperspektive unterscheidet sich von „psychologischer Sicherheit“, wie ich sie bis jetzt besprochen habe: Psychologische Sicherheit ist ein von Prof. Amy Edmondson entwickeltes, organisationspsychologisches Konstrukt. Es wird auf der Teamebene quantitativ gemessen – durch die individuelle Befragung aller Teammitglieder mit von Edmondson entwickelten Fragen. Daraus wird dann ein teambezogener Messwert gebildet. Psychologische Sicherheit ist ein sinnvolles Konstrukt, weil sich in Studien verlässlich gezeigt hat, dass die gemessenen Werte in Zusammenhang stehen mit anderen, relevanten organisationspsychologischen Werten (z.B. Leistung, Lernen,…).
Die gefühlte Sicherheit des autonomen Nervensystems (ANS) wiederum ist ein individuelles, körperliches und meist unbewusstes Empfinden. Während sie offensichtlich nicht das Gleiche ist wie psychologische Sicherheit, steht sie aber mit ihr im Zusammenhang.
(Für die folgende Ausführungen greife ich vor allem auf das Buch „Anchored – how to befriend your nervous system with polyvagal theory“ von Deb Dana und den Somatic Experiencing- Ansatz zurück)
Die Aufgabe des ANS ist es, zu ermöglichen, dass wir uns sicher durch unser tägliches Leben bewegen können. Das ANS reguliert unsere inneren Organe und Körperprozesse, inklusive Herzschlag, Atemrhythmus, Blutdruck, Verdauung und Stoffwechsel. Je nachdem, ob das ANS denkt, dass wir sicher sind oder nicht, wird es die Körpervorgänge anders steuern.
Die drei Nervensystemzustände
Es gibt drei Nervensystemzustände:
Reguliert/sicher/verbunden
In diesem Zustand sind wir entspannt. Wir sind verbunden und kommunizieren mit anderen. Wir sind glücklich als Teil einer Gruppe oder fühlen uns alleine zufrieden. Die gewöhnlichen Irritationen des Tages (z.B. Stau, umgekippter Kaffeebecher) fühlen sich gut beherrschbar an. Statt gestresst oder verärgert zu werden, gehen wir mit dem Fluss des Lebens.
Kampf/Flucht-Zustand
Wenn sich etwas für uns zu viel anfühlt, uns überfordert, wenn zu viel auf einmal passiert oder das Leben sich wie eine Serie von nie-enden-wollenden Herausforderungen anfühlt, dann geht unser Nervensystem in Kampf und/oder Flucht-Modus. Wenn unsere To-do-Liste nie kleiner zu werden scheint, wenn nie genug Geld für den Lebensunterhalt da zu sein scheint oder es scheint, als wäre unsere Partnerin immer abgelenkt, dann können wir das Gefühl von Sicherheit im gegenwärtigen Moment verlieren. Unser Nervensystem denkt dann, dass wir in Gefahr sind und reagiert mit Angreifen oder Flucht.
Erstarrungs-/Zusammenbruchs-Zustand
Wenn die überwältigenden Herausforderungen kein Ende zu nehmen scheinen, wir keinen Weg raus und keinen Weg damit umzugehen sehen, geht unser Nervensystem in den Zusammenbruch, ins Erstarren, in den Verbindungsabbruch. In diesem Zustand hat nichts mehr Bedeutung, wir ziehen uns innerlich komplett zurück und spüren nicht mehr viel. Wir können bei Tieren beobachten, dass sie erstarren, sich tot-stellen, wenn es keine Chance mehr gibt, zu kämpfen oder zu fliehen. Das Nervensystem sieht das Tot-Stellen dann als die einzige Chance zu überleben. In unserer modernen Welt sind es in den meisten Fällen gefühlte und nicht tatsächliche Bedrohungssituationen, in denen das Nervensystem zumacht.
Ein mit dem Erstarren verwandter physiologischer Zustand, ist der sog. Bambi-Reflex“ (engl. Fawning). Dabei wird ein möglicher Aggressor beschwichtigt/so getan als wäre alles ok, um einer Gefahr zu entgehen. Der Bambi-Reflex ist ein weit verbreitetes Verhalten in eigentlich ungefährlichen sozialen Situationen, da wir geschichtlich gesehen lange Zeit für unser Überleben auf die Gemeinschaft angewiesen waren.
In den Gefahren-Zuständen (Kampf/Flucht & Erstarrung/Bambi-Reflex) fokussiert sich alles auf die Abwehr einer potentiellen Gefahr. Dadurch verliert der Körper das Gefühl für potentielle Sicherheit und ist auch nicht an sozialer Verbindung interessiert. In welchem Zustand wir sind, beeinflusst fundamental, wie wir die Welt in dem Moment wahrnehmen – und damit auch die Kolleg:innen, das aktuelle Arbeitsprojekt und das ganze Arbeitsumfeld. Wenn wir uns sicher fühlen, sehen wir viel mehr Möglichkeiten, haben Zugang zu unserer Intuition und mehr Vertrauen in das Gegenüber. Das (Arbeits-)Leben fühlt sich händelbar an.
Neurozeption – wie unser Nervensystem Sicherheit wahrnimmt
Das Nervensystem nutzt drei Zugänge, um Sicherheitssignale und Gefahrensignale aufzunehmen: Innen, Außen, und zwischen Menschen. Das Ganze nennt sich Neurozeption. Neurozeption nach Innen betrifft das Innere des Körpers: Herzschlag, Atemrhythmus, Muskelaktivität und innere Organe. Neurozeption nach Außen betrifft alles, von der unmittelbaren Umwelt bis zur globalen Gemeinschaft. Und die Neurozeption zwischen Menschen betrifft die Kommunikation mit anderen Menschen – eins zu eins oder in der Gruppe.
Das Ergebnis der Neurozeption ist einer der oben beschriebenen Zustände, der uns entweder in Verbindung mit Menschen bringt oder auf die Abwehr von Gefahr durch Kampf, Flucht, innerlich zumachen oder Bambi-Reflex einstellt. Die Neurozeption sichert unser Überleben. Im besten Fall ordnet sie angemessen ein, welcher Zustand gerade gebraucht wird. Wir dürfen ihr also sehr dankbar sein 😊
Hier kommen allerdings aktuelle Stressoren und auch frühere Erfahrungen ins Spiel: Wenn aktuell schon viele Stressoren in unserem Leben sind, kann eine scheinbar banal wirkende Stresssituation der Tropfen auf dem heißen Stein sein, der uns in den Gefahrenmodus bringt.
Außerdem speichert das Nervensystem überwältigende frühere Erfahrungen (Trauma), insbesondere aus Kindheit und Jugend, ab. Wenn eigentlich sichere Situationen in der Gegenwart das Nervensystem an diese früheren Erfahrungen erinnern, kann es fälschlicherweise mit einem Gefahren-Alarm reagieren. Dann entsteht eine Kampf-, Flucht-, Erstarrungs- oder Bambi-Reflex-Reaktion, obwohl dieser nicht notwendig ist. Von außen wird das dann manchmal als „Überreagieren“ interpretiert.
Es ist völlig normal, dass unsere Neurozeption uns über den Tag hinweg immer mal wieder aus der Regulation bringt. Entscheidend ist, dass wir unseren Weg zurückfinden. Wenn wir aus der Dysregulation nicht mehr rauskommen, kann das für uns und unser Umfeld herausfordernd sein.
Sicherheitssignale wahrnehmen
Unsere Neurozeption können wir nicht direkt verändern. Wir können sie aber wahrnehmen und unterstützen, indem wir ihr Sicherheitssignale senden. Das ist nicht nur für akute Momente der Dysregulation wichtig. Je mehr unser Nervensystem im alltäglichen Leben Sicherheit wahrnehmen kann, desto eher wird es genug Kapazität haben, in herausfordernden Situationen reguliert und angemessen zu reagieren.
Es gibt unendlich viele mögliche Sicherheitssignale. Im Folgenden möchte ich dir gerne ein paar Beispiele nennen, sowohl im Kontakt mit anderen (Co-Regulation) als auch alleine (Selbst-Regulation).
Starten wir mit Co-Regulation:
Als soziale Wesen sind verlässliche, sichere soziale Verbindungen für uns wichtig. Sie helfen uns, uns sicher zu fühlen. Insbesondere sind Menschen hilfreich für unser Nervensystem, die selbst in einem regulierten Nervensystemzustand („sicher und sozial“) sind. Auch (Haus-)Tiere können für manche Menschen hilfreiche Co-Regulatoren sein. Hilfreiche Co-Regulation sieht für jede:n individuell unterschiedlich aus. Du merkst, ob jemand ein:e Co-Regulator:in oder Co-Dysregulator:in für dich ist, indem du in deinen Körper reinspürst: Bist du im Kontakt mit der Person entspannt oder eher angespannt bzw. wie eingefroren/taub?
Als Kinder sind wir auf Co-Regulation durch Erwachsene angewiesen. Durch ausreichend soziale Verbindungen und verlässliche Möglichkeiten zu Reziprozität und Co-Regulation baut unser Körper die Fähigkeit zur Selbst-Regulation (s.unten) auf. Das ist nicht bei jedem in der Kindheit der Fall gewesen, aber wir können immer noch im Erwachsenenalter unsere Fähigkeit zur Selbst-Regulation stärken.
Nun geht es also weiter mit Selbst-Regulation:
Hier gibt es unendlich viele Möglichkeiten. Nicht jede passt für jeden. Ich nenne dir ein paar Beispiele:
Für viele können Entspannungsübungen/-kurse wie Autogenes Training, Restoratives Yoga, Qi Gong oder MBSR hilfreich sein, das Nervensystem zu regulieren. Allerdings nur wenn du dich in dem Kontext, in dem sie stattfinden (z.B. Kursraum oder zu Hause vor dem PC) sicher und wohl fühlst.
Grundsätzlich signalisiert Langsamkeit dem Nervensystem, dass alles ok ist. Sei es z.B. langsames Gehen oder langsames Abwaschen. Das bringt dich ins Jetzt. Ebenso das langsame Orientieren im Raum: 360 Grad alles anschauen.
Wenn du gerade in einer akuten Stressreaktion bist, kannst du dich auf die Dinge konzentrieren im Raum, die du magst, die ein angenehmes Gefühl erzeugen. Wirklich hin spüren: Wo fühle ich das angenehme Gefühl im Körper?
Auch langsame Atemübungen sind hilfreich, insbesondere die Verlängerung des Außenatems.
Natur ist gewissermaßen ein Co-Regulator. Wenn diese gerade nicht verfügbar ist, können schon 15min Naturvideos (Opens in a new window) anschauen helfen.
Auch Ernährung ist sehr wichtig. Aus Nervensystemperspektive lässt sich unterscheiden zwischen ausgleichenden, aktivierenden und unterdrückenden Nahrungsmittel. Ausgleichende Nahrungsmittel wie Gemüse, Hülsenfrüchte und Vollkorn helfen uns, uns zu regulieren. Aktivierende (z.B. Zucker, Kaffee) und unterdrückende Nahrungsmittel (z.B. Alkohol, sehr fettreiches Essen) können auf verschiedene Weise einem ausgeglichenen Nervensystem im Weg stehen ( Wenn du zu diesem Thema mehr lernen möchtest, empfehle ich dieses englischsprachige Webinar (Opens in a new window) von Somatic Experiencing International)
Was bedeutet dieses Wissen für psychologische Sicherheit im Team?
Gruppenbezogene Interventionen für psychologische Sicherheit im Team machen weiterhin Sinn (s. für Details mein Artikel „Psychologische Sicherheit verstehen und stärken (Opens in a new window)“). Diese können für viele Nervensysteme relevante Sicherheitssignale bieten. Nicht jede Intervention für jedes Nervensystem auf die gleiche Art, aber wenn man einen Blumenstrauß an Maßnahmen anbietet, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass für möglichst viele Nervensysteme etwas dabei ist.
Gleichzeitig ist es wichtig, nicht zu erwarten, dass sich dadurch alle sicherer fühlen. Es ist wichtig zu respektieren, wenn nicht jeder happy reagiert auf die neuen Kommunikationsmethoden, das CheckIn vor dem Meeting, den Konfliktlösungsworkshop oder, oder, oder …. Für den ein oder anderen können bestimmte Veränderungen Trigger und damit Stressoren sein. Eine massiv ablehnende Reaktion kann also eine autonome Reaktion des Nervensystems sein, das sich schützen will. Es hat die eigentlich ungefährliche Situation mit Gefahr überkoppelt. (Und abgesehen davon gibt es natürlich auch einfach unterschiedliche Präferenzen. Auch das gilt es zu respektieren.)
Ich persönlich halte es für wichtig, niemanden zu zwingen, „an sich zu arbeiten“. Und sowieso haben wir alle unsere individuellen Trigger und werden vermutlich nie ganz frei davon sein, dass eigentlich sichere Situationen unseren Gefahren-Modus aktivieren. Dass wir in Angriff, Flucht oder Erstarren verfallen. Und je nachdem, was sonst so in unserem Leben los ist, ist z.B. eine kleine Meinungsverschiedenheit mit der Kollegin nicht der Rede wert oder kann uns komplett überfordern.
Natürlich ist es aber wichtig, als Team gut miteinander zu funktionieren. Ein individuelles Eingehen auf individuelle Bedürfnisse hat aus meiner Sicht die höchste Chance, ein Miteinander zu finden, das sich für alle gut anfühlt. Und wenn zwischenmenschliche Situationen mal so richtig aus dem Ruder gelaufen sind, dann lohnt es sich, die Klärung so zu gestalten, dass sich die beteiligten Nervensysteme zum Zeitpunkt des Gesprächs möglichst sicher fühlen können.
Wenn ein Mensch sein Nervensystem unterstützen möchte, weil er sehr oft im Gefahren-Modus feststeckt und das ihn und die Teamarbeit belastet, halte ich das von Seiten der Organisation für sehr unterstützenswert. Ich empfehle Coachings mit in Somatic Experiencing ausgebildeten oder anderweitig Nervensystem-kompetenten Coaches (z.B. bei Malwina Ulrych (Opens in a new window)). Außerdem bin ich ein großer Fan der (englischsprachigen) Angebote von Holistic Life Navigation, insbesondere des Kurs "Finding Safety in Yourself (Opens in a new window)". Und natürlich lässt sich abseits von Coaching und Programmen selbständig viel für das eigene Nervensystem tun. Weiter oben habe ich ja schon ein paar Möglichkeiten genannt. Das Buch "Der Vagusnerv als innerer Anker (Opens in a new window)“ von Deb Dana bietet viele weitere Übungs- und Vertiefungsmöglichkeiten.
Gerade für Führungskräfte empfehle ich, hinzuschauen, wie es mit der eigenen Regulation, der eigenen Fähigkeit, Sicherheit wahrzunehmen, aussieht. Denn ein Mensch mit einem chronisch dysregulierten Nervensystem kann auch dysregulierend auf andere Nervensysteme wirken – insbesondere, wenn diese Person viel Macht hat, wie eben eine Führungskraft. Wer hier als Führungskraft was für sich tut, tut was für das ganze Team.
Viel Freude wünsche ich dir beim Entdecken und Erforschen deines Nervensystems! 😊
Und wenn du Lust hast, noch tiefer in das Thema einzutauchen, dann schau dir gerne dieses englischsprachige Video-Interview mit mir an: Psychological safety with Lyn von der Laden (Opens in a new window)(Youtube Kanal von Manuel Küblböck/New Work by Design)
Du hast Gedanken zu diesem Artikel? Dann schreib mir gerne an mail@lynvonderladen.de (Opens in a new window) . Ich freue mich über Rückmeldungen 😊
Herzliche Grüße aus Dresden
Lyn
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(Foto von Diego PH auf Unsplash)
Über Lyn von der Laden
Als Coach und Beraterin für Zusammenarbeit (Opens in a new window) begleite ich Teams und Organisationen, ihre Zusammenarbeit wirksam, anpassungsfähig und freudvoll zu gestalten.
Außerdem schreibe ich auf Steady regelmäßig über meine Herzensthemen, z.B. über Selbstorganisation, psychologische Sicherheit oder die Bedeutung des Nervensystems für wirkungsvolle Teamarbeit.