Folge #19 - Ist es wirklich so einfach, Gutes zu tun?
Ich rede hier ja oft davon, wie wichtig es ist, Gutes zu tun, für andere da zu sein und hilfsbereit zu handeln. Das ist eines dieser lebensprägenden Prinzipien, die auf beiden Seiten des Vorhangs zwischen Leben und Tod Bestand haben. Hier, im Diesseits, wirkt es sofort. Und dort, im Jenseits, formt es die Essenz unseres Seins. Was ganz gut ist, oder? Allerdings bleibt eine Frage: Was genau bedeutet es eigentlich, „Gutes“ zu tun?
Wie erkennt man, ob man wirklich Gutes tut oder sich nur Illusionen macht und womöglich mehr Schaden anrichtet, als man ahnt? Darüber möchte ich hier mit euch nachdenken. Es klingt simpel, aber in dieser Folge graben wir etwas tiefer.
Vom selbsternannten „guten“ Menschen
Du siehst dich vielleicht als einen guten Menschen. Als jemanden, der alten Menschen seinen Sitzplatz im Bus anbietet, dem Kellner ein Extra-Trinkgeld hinterlässt oder den Nachbarn hilft, wenn sie mal wieder ihre Schlüssel vergessen haben. Die alltäglichen Heldentaten des modernen Lebens. Aber schau mal in den Spiegel und frag dich ehrlich: Bist du immer dieses moralische Vorbild? Oder gibt es da auch diese Momente, wenn dir Supermarkt versehentlich zu viel Wechselgeld rausgegeben wird und du nur kurz zögertest, bevor du das „Glück“ diskret einsteckst?
Wollen wir die Dinge mal nicht unnötig romantisieren. Die Wahrheit ist, dass wir Menschen weit komplexer sind als eine einfache Dichotomie zwischen Gut und Böse. Oftmals sind wir etwas dazwischen – eine schillernde Grauzone. Und um das zu verdeutlichen, gehen wir zurück in die 60er Jahre, genauer gesagt ins Jahr 1963, in das ominöse Milgram-Experiment, das so manchem moralischen Rückschlag einen Rahmen gibt.
Der Weg in die Dunkelheit ist gepflastert mit gutem Willen
Stell dir das Milgram-Experiment so vor. Ganz normale Menschen – Menschen wie du und ich – werden gebeten, bei einem harmlosen „Lernexperiment“ mitzumachen. Die Teilnehmer wurden in die Rollen „Lehrer“ und „Schüler“ aufgeteilt. Und es war ganz einfach: Die „Schüler“ sollte Wortpaare auswendig lernen und bei Fehlern von ihren „Lehrern“ Elektroschocks bekommen. Die Sache eskalierte schnell, denn bei jedem Fehler wurde der vermeintliche Schock stärker. Die Schüler, die in Wahrheit Schauspieler waren, simulierten heftige Schmerzen und bettelten, dass man aufhören solle. Aber viele der Lehrer – 60 Prozent von ihnen – drückten weiterhin den Knopf, bis die (theoretische) Spannung bei bedrohlichen 450 Volt lag.
Doch warum? Weil eine Person im weißen Kittel – die Autorität im Raum – ihnen versicherte, dass es schon „richtig“ sei. Die Teilnehmer waren nicht von Natur aus grausam oder sadistisch veranlagt. Sie folgten lediglich der Anweisung, getragen von der Überzeugung, dass sie dem Gemeinwohl dienten. Eine erschreckende Lektion darüber, wie leicht der Pfad zur moralischen Dunkelheit beschritten werden kann, wenn man nur den richtigen Impuls und ein wenig freundliche Anleitung erhält.
Befehl ist Befehl – aber wer prüft den Befehl?
Denken wir darüber nach: Hattest du jemals eine Situation, in der du einen Befehl einfach deshalb befolgt hast, weil er von einer Autorität kam? Hast du jemals die Weisung eines vermeintlichen Experten oder Vorgesetzten blind ausgeführt, ohne darüber nachzudenken, ob sie moralisch vertretbar war? Wir alle haben solche Momente. Vielleicht ist es der Glaube, dass „die da oben“ schon wissen, was sie tun. Vielleicht ist es die beruhigende Sicherheit, dass man nicht selbst die Verantwortung trägt. Aber diese gedankenlose Compliance hat ihre Konsequenzen.
Autorität und Gehorsam – die dunkle Seite der Loyalität
Autorität hat diese fabelhafte Eigenschaft, uns zu beeindrucken und uns eine Entschuldigung zu geben, Dinge zu tun, die wir sonst niemals in Betracht ziehen würden. Es genügt eine freundliche, aber bestimmte Stimme, die uns anweist, und plötzlich begeben wir uns auf einen Pfad, den wir nie geplant hatten. Diese Seite der menschlichen Natur offenbart, wie manipulierbar wir sind, wenn wir blind Autorität vertrauen.
Passen wir also lieber auf, bevor wir uns das nächste Mal unüberlegt dem guten alten „Befehl ist Befehl“-Mantra hingeben. Vielleicht ist es an der Zeit, nicht nur zu hinterfragen, wer uns den Befehl gibt, sondern auch, ob es uns letztlich wirklich von unserer Verantwortung entbindet. Denn egal, wie man es dreht und wendet, am Ende des Tages bleibt die Entscheidung – und die moralische Last – bei uns.
Die Verführung der Verantwortungslosigkeit: Das gefährliche Spiel mit der moralischen Maske
Denn es beginnt oft ganz harmlos. Eine freundliche Stimme, ein entschlossener Anführer oder ein stilles Pseudonym im digitalen Raum – und plötzlich ist die Moral ein Hauch, der im Wind verfliegt. So absurd es klingt, wir Menschen haben ein erstaunliches Talent dafür, Verantwortung abzugeben. Manchmal reicht es schon, wenn uns jemand versichert, dass die Verantwortung von der Person oder Institution „übernommen“ wird, damit wir erleichtert und fröhlich die moralischen Fesseln ablegen.
Die bequeme Anonymität: Dein Benutzername und du
Wenn du in einem anonymen Forum postest, deine Worte wie Pfeile ins Dunkel schleuderst und dich hinter deinem Benutzernamen verkriechst, fühlst du dich frei. Aber wie oft stellst du dir die Frage: Würdest du diese Worte auch im Angesicht einer realen Person äußern? Die Antwort ist wahrscheinlich ein kurzes, leises Nein. In dem Moment, in dem du die Verantwortung auf dein Alter Ego – oder eben auf das unsichtbare Internet – überträgst, wird ein innerer Hebel umgelegt. Jetzt ist es nur noch ein Spiel. Das „Ich“ verschwindet, die Konsequenzen sind irrelevant, und der eigene moralische Kompass? Der darf sich ausruhen.
Wenn der andere keine Person mehr ist – der gefährliche Schritt zur Entmenschlichung
Stell dir vor, jemand erklärt dir, dein Gegenüber sei nichts weiter als eine „Störung“ oder ein „Problem“, vielleicht sogar etwas weniger als menschlich – und voilà, plötzlich erscheint die Tür zu den dunkelsten Teilen deiner Seele offen und einladend. Wir sehen das allzu häufig: Fußballspieler, die zu „Spielermaterial“ degradiert werden, ohne dass jemand den Menschen hinter dem Talent wahrnimmt. Solange der andere in unseren Augen nur ein Begriff, eine Zahl oder eine Funktion ist, fällt es unendlich leichter, die moralischen Konsequenzen beiseitezuschieben.
Die Macht der Worte: Euphemismen als verbale Tarnkappenbomber
Jetzt wird’s erst richtig gefährlich. Worte sind nicht nur dazu da, Dinge zu beschreiben – sie können alles Mögliche rechtfertigen, von kleinen Unhöflichkeiten bis hin zu massiven Verbrechen. Man denke an die beruhigenden, aber tödlich manipulativen Euphemismen: Folter wird zu „erweiterten Verhörmethoden“ und Völkermord zur „ethnischen Säuberung“. So elegant und steril klingen diese Begriffe, dass sie selbst die grausamsten Handlungen wie chirurgisch saubere Prozeduren erscheinen lassen. Schon im Milgram-Experiment erfuhren die Teilnehmer, sie würden „der Wissenschaft“ dienen und halfen angeblich, das Gedächtnis zu verbessern – selbst, wenn das bedeutete, echten Schmerz zuzufügen.
Wo bleibt dein moralischer Kompass?
Also, beim nächsten Mal, wenn du jemanden hörst, der Worte kunstvoll dreht und wendet, um Abscheuliches als Tugend zu tarnen, frag dich, was tatsächlich hinter der glänzenden Rhetorik lauert. Die Mechanismen, die uns in die Abgründe führen, sind da, ja. Doch der Clou? Wir haben die Wahl. Wir haben die Option, die Bühne der Verantwortungslosigkeit zu verlassen und uns stattdessen für eine bewusst gelebte Verantwortung zu entscheiden.
Der Blick in den Spiegel: Was machst du, wenn niemand hinsieht?
Das Potenzial zum Bösen schlummert in uns allen, so wie die Chance auf Heldentum in den kleinen Taschen unseres Alltagskrempels versteckt liegt. Die entscheidende Frage ist: Wenn es darauf ankommt, stehst du auf und übernimmst Verantwortung – auch wenn keiner hinsieht? Das ist der wahre Prüfstein der Moral. Es ist leicht, sich hinter einer Uniform, einem Titel oder einem Pseudonym zu verstecken, aber was passiert, wenn diese Schutzschichten abfallen?
Im Milgram-Experiment gab es einige, die wachsam blieben. Sie sahen die Anweisung, sahen die Unsinnigkeit und entschieden sich, einfach zu gehen. Sie verweigerten sich der Maschinerie und nahmen die Kontrolle in die eigenen Hände. Sie waren keine Zahnräder, keine ferngesteuerten Akteure. Sie waren Menschen – denkende, fühlende Wesen, die die Kraft und den Mut hatten, den Automatismus zu durchbrechen.
Widerstand ist eine Wahl – jeden einzelnen Tag
Am Ende bleibt dies: Widerstand ist nichts, was dir mit einem freundlichen Zwinkern in die Wiege gelegt wird. Es ist keine ererbte Fähigkeit, kein Privileg der Charakterstarken. Widerstand ist vielmehr eine bewusste Entscheidung, die du täglich triffst, Situation für Situation, Moment für Moment. Es ist der Willensakt, aufzustehen, wenn alle anderen sitzen bleiben, zu sprechen, wenn die Stille drückt, und „Nein“ zu sagen, wenn alles in dir schreit, mit der Masse zu gehen.
Es ist an uns, diese Wahl zu treffen, und darin liegt der Kern des menschlichen Daseins – der Grat, auf dem wir zwischen Dunkelheit und Licht wandeln.
Und natürlich kostenlos für alle - hier oder: