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Erinnerungen

Die Geschichte, die Albrecht Weinberg von seinem Leben erzählt ist herzzerreißend. Er erzählt wie er in seiner ostfriesischen Heimat zuerst diskriminiert und dann vertrieben wurde. Die Demokratie starb allmählich, doch dann ging alles sehr schnell. Selbst in der tiefsten idyllischen Provinz wirkte das antisemitisch rassistische Gift der Nazis und wie das geschah ist unfassbar, denn jeder Dorfbewohner kriegte das mit. Albrecht Weinberg war im „Fehndorf“ Rhauderfehn in Ostfriesland aufgewachsen. Bereits 1936 durften die Kinder nicht mehr die reguläre Schule besuchen. Auch Ostfriesland wurde „judenrein“ gemacht. Nach den Novemberpogromen 1938 versuchten die Eltern zumindest den Kindern die Auswanderung nach Palästina zu ermöglichen, doch als die Auswanderung dorthin erfolgen sollte, war es Menschen jüdischen Glaubens schon verboten Deutschland zu verlassen.

Albrecht Weinberg musste Zwangsarbeit verrichten, überlebte drei Todesmärsche und wurde im April 1945 in Bergen-Belsen befreit. Nur wenige Familienmitglieder überlebten den Holocaust. Seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Er, sein Bruder Dieter und seine Schwester Friedel überlebten jedoch das Vernichtungslager Auschwitz. Der Bruder starb tragischerweise jedoch kurz nach dem Krieg. Zusammen mit seiner Schwester Friedel wanderte Albrecht Weinberg 1947 in die USA aus. Mehr als 60 Jahre lebten sie zusammen in New York.

Als seine Schwester Friedel im Alter einen Schlaganfall erlitt, kamen die Geschwister 2012 nach Leer zurück. Friedel starb kurz danach in ihrer alten Heimat. Albrecht Weinberg begann nun endlich zu sprechen und besuchte in der Folgezeit zunehmend Schulen. Dadurch fand er späte Anerkennung.

In Rhauderfehn gibt es seit 2006 eine Geschwister-Weinberg-Straße. Albrecht wurde Ehrenbürger und das Gymnasium, das er ab 1936 nicht mehr besuchen durfte, wurde inzwischen nach ihm benannt, nachdem ihm dort 2021 das Ehrenabitur verliehen wurde.

Die Schülersprecher ehrten ihn mit den Worten: „In den vergangenen Jahren haben Sie uns Schülerinnen und Schülern immer wieder Ihre Geschichte erzählt, für uns haben Sie das Grauen, das Ihnen widerfahren ist, erneut durchlebt, um uns etwas beizubringen, das so viel wichtiger ist als viele der schulischen Inhalte: Was es bedeutet, ausgegrenzt und gehasst zu werden, dass Respekt und  Achtung vor unseren Mitmenschen wichtiger sind denn je, und vor allem, dass wir eine Stimme haben, die im Angesicht großer Ungerechtigkeit nicht verstummen darf.“

 

Eine andere nicht weniger herzzerreißende Lebensgeschichte ist die von Lidia Maksymowicz. In ihren Erinnerungen „Ich war zu jung, um zu hassen.“ erzählt sie von ihrer Leidenszeit in Auschwitz. Sie wurde im Alter von drei Jahren nach Auschwitz deportiert und überlebte das Vernichtungslager nur, weil sie von Josef Mengele für seine grausamen Experimente ausgewählt wurde.

Lidias Familie wurde bei Ankunft dort „selektiert“. Die Großeltern wurden sofort in der Gaskammer ermordet, ihre belarussische Mutter musste Zwangsarbeit leisten, während Lidia als Mengeles Versuchskaninchen in die Kinderbaracke geschickt wurde. Lidia erzählt in dem Buch auch von der Suche nach der eigenen Identität und nach ihrer leiblichen Mutter, die Auschwitz in einem der letzten Todesmärsche verlassen musste. Auch sie überlebte und suchte nach dem Krieg in Auschwitz vergeblich nach ihrer Tochter, bevor sie in ihre Heimat zurückkehrte. Lidia wurde nach dem Krieg von einer Polin aus Auschwitz adoptiert und lebte nun dort. Sie kannte auch kaum etwas anderes. Erst im Erwachsenenalter fand sie ihre leibliche Mutter in Belarus wieder. Schwierige Zeiten für alle Beteiligten, denn ihre leibliche Mutter ging davon aus, dass sie nun wieder bei ihr leben würde. Doch Lidia hatte ihre Heimat in Auschwitz gefunden und blieb. Sie lebt bis heute in der Nähe, in Krakau.

 

 

Ernst Reuß

 

 

Nicolas Büchse, Albrecht Weinberg - »Damit die Erinnerung nicht verblasst wie die Nummer auf meinem Arm«, Eine wahre Geschichte vom Holocaust, dem Überleben und einem Versprechen, das die Zeit überdauert, München 2024, 288 Seiten, 20 Euro.

 

Lidia Maksymowicz, Paolo Rodari, Ich war zu jung, um zu hassen. Meine Kindheit in Auschwitz, München 2024, 192 Seiten, 22 Euro.

Topic Shoa/Judentum

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