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Beben, Krieg und Tinte

Von Hasnain Kazim - Meinungen / Erdbeben in Istanbul / Kaschmir / Tinte

Liebe Leserin, lieber Leser,

diese Woche teilte mir eine Leserin mit: “Ich stimme politisch fast nie mit Ihnen überein. Und mit manchen Meinungen, die Sie in Ihren ‘Erbaulichen Unterredungen’ vertreten, drängt es mich zu widersprechen. Aber es macht Spaß, mich daran zu reiben. Manchmal überdenke ich meine Meinung, manchmal sehe ich mich bestätigt. (…) Machen Sie weiter so!”

Das freut mich natürlich sehr. Menschen neigen dazu, sich mit Menschen zu umgeben, die ähnlich oder gleich denken wie man selbst. Mein Eindruck aber ist, dass das in den vergangenen Jahren drastisch zugenommen hat. Bloß keine andere Meinung! Schon gar nichts Gegensätzliches! Und wenn, dann ist das sofort “Extremismus”, der Vertreter dieser Meinung ein “Feind”!

Nun gibt es natürlich Extremismus und Leute, die man als Feinde der Demokratie bezeichnen muss. In den meisten Fällen der alltäglichen Meinungsverschiedenheit ist das aber nicht der Fall. Setzen wir uns also viel mehr anderen Meinungen aus! Lesen wir zum Beispiel Medien, von denen wir wissen, dass sie völlig andere Meinungen vertreten als die eigenen. Ich selbst informiere mich abwechselnd in unterschiedlichen Medien. Rückt manchmal so manche Perspektive zurecht. Schärft jedenfalls den Blick.

Übrigens: Es gibt Menschen, mit denen stimme ich politisch in den meisten Punkten nicht überein, aber ich finde sie sympathisch und bin mit ihnen befreundet. Dann wieder gibt es Menschen, die ticken politisch wie ich, aber ich kann sie menschlich nicht ausstehen.

Da fällt mir ein: Am 23. April war “Welttag des Buches”, und der Schriftsteller Franz Kafka hat in einem Brief an seinen Schulfreund Oskar Pollak im Jahr 1904 geschrieben: “Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben.”

Ganz so sehe ich es nicht. Natürlich gibt es eine Menge Bücher, deren Lektüre glücklich macht, und das ist auch gut so. Aber es stimmt schon: Man sollte sich auch mal etwas aussetzen. Mit etwas auseinandersetzen. Sich an etwas reiben, wie die Leserin mir schreibt.

Erdbeben in Istanbul

Die Erde hat gebebt diese Woche, in Istanbul. Millionen Menschen waren in Sorge, manche in Panik, viele verbrachten die Nacht im Freien. Mehr als 150 wurden verletzt, heißt es in den Berichten, niemand davon in direkter Folge des Bebens, sondern bei Unfällen, die sich infolge der panischen Reaktionen ereigneten. Die Erde bebte viele Male, selbst am Tag nach Beginn der Erschütterungen.

Ich fühle mit den Menschen. Drei Jahre lang habe ich in Istanbul gelebt, und ich erinnere mich, dass das Thema Erbeben einen ständig begleitete. Bei der Wohnungssuche fragte man: Ist dieses Gebäude erdbebensicher? Experten sagen seit Jahren voraus, dass früher oder später ein großes Erdbeben Istanbul treffen wird. Die Stadt liegt in einem Gebiet, das besonders gefährdet ist. So wie die Türkei insgesamt von tektonischen Bewegungen und damit besonders häufig von Erdbeben betroffen ist. Moderne Häuser und Wohnanlagen sollten eigentlich so gebaut sein, dass sie ein Beben verkraften und einsturzsicher sind.

Viele Gebäude in der Stadt sind es aber nicht. Auch das Haus, in dem ich wohnte, war es, jedenfalls in technischer Hinsicht, nicht. Wir hatten eine wunderschöne Wohnung ganz in der Nähe des Galata-Turms, mitten im schönen Stadtteil Beyoğlu. Vom Wohnzimmer blickten wir auf und über den Bosporus und zum Goldenen Horn, und mein Büro befand sich am anderen Ende der Wohnung, mit Blick auf die alten Gassen.

Entsprechend alt war das Gebäude, sehr alt, es wurde vor mehr als hundert Jahren gebaut. Es gab nur ein Treppenhaus, keine Notleiter, im Falle des Falles hätte man auf das Dach des Nachbargebäudes springen können. Ich habe mir oft überlegt, wie wir vorgehen könnten, sollte es notwendig werden… Zu unserer Beruhigung sagte man uns, unser Haus stehe auf einem riesigen Felsen. Und es stimmt ja: Dieses Gebäude hatte mehrere schwere Erdbeben, von denen Istanbul in den zurückliegenden Jahrzehnten betroffen gewesen war, unbeschadet überstanden. Zu genau nachdenken über das Thema mochten wir aber nicht. Verdrängung ist auch ein Weg, wenn auch kein guter.

Ich hoffe, die Regierung meint es ernst damit, die Stadt jetzt noch sicherer zu machen für künftige Erdbeben. Diese Woche habe ich besonders viel an meine Freunde gedacht, die in Istanbul leben und denen es, zum Glück, gut geht.

Kriegsgefahr in Südasien

Indien und Pakistan stehen, mal wieder, vor einem Krieg. Am Dienstag haben Terroristen in der Region Pahalgam, das zum indischen Teil Kaschmirs gehört, Touristen angegriffen, die dort am Rande einer Wiese saßen und die fast unwirklich schöne Aussicht auf die Berglandschaft genossen. Die Terroristen erschossen 26 Menschen und verletzten weitere Menschen, danach verschwanden sie wieder.

Indien wirft nun, durchaus mit einiger Berechtigung, Pakistan vor, hinter diesem Angriff zu stecken. Das Land, so der indische Vorwurf, unterstütze seit langem islamistische Terroristen in der Region. Pakistan wiederum weist das von sich.

Vielleicht kurz zur Geschichte von Kaschmir: Indien und Pakistan waren ja mal eins, bis zur Teilung 1947, als die Briten die Kolonialherrschaft aufgaben. Beide Länder, Indien und das neu gegründete Pakistan, beanspruchen den bis dahin unabhängigen Prinzenstaat Kaschmir seither ganz für sich. Letztlich wurde die Provinz aber aufgeteilt.

Tatsache ist: Es gibt eine Uno-Auflage, eine Volksabstimmung unter den Kaschmiris über die Zugehörigkeit durchführen zu lassen. Indien verweigert sich dem. Denn die Bevölkerung in Kaschmir, überwiegend muslimisch, würde sich wahrscheinlich für eine Unabhängigkeit entscheiden oder, wenn das nicht zur Wahl stünde, für einen Anschluss an Pakistan. Und ja, im indischen Teil benehmen die indischen Soldaten sich wie Besatzer. Sie misshandeln die Bevölkerung, behandeln sie schlecht, ich habe es selbst gesehen als Reporter.

Aber das rechtfertigt null, absolut null den Terror, der sich nicht nur gegen Indien und indische Soldaten, sondern gegen die Bevölkerung richtet. Immer wieder gibt es Hinweise, dass Pakistan diesen Terror befördert. Indien reagiert jetzt relativ hart: Nicht nur wurden diese Woche pakistanische Diplomaten ausgewiesen, Grenzübergänge geschlossen und sämtliche pakistanische Staatsbürger in Indien aufgefordert, das Land binnen 72 Stunden zu verlassen, sondern Indien setzt auch das 1960 unterzeichnete Abkommen mit Pakistan über die Nutzung des Indus-Wassers außer Kraft, bis Pakistan sich “glaubhaft und unwiderruflich von grenzüberschreitendem Terrorismus distanziert”, wie es aus der Regierung in Neu-Delhi heißt. Vereinfacht ausgedrückt: Indien dreht Pakistan, was den Indus und seine Nebenflüsse angeht, das Wasser ab. Für die pakistanische Landwirtschaft und damit für die ganze Bevölkerung kann sich das rasch zu einer Katastrophe entwickeln, was wiederum die Gefahr eines großen Krieges steigert.

Seit dem Terroranschlag am Dienstag schießen indische und pakistanische Soldaten wieder vermehrt aufeinander, an der Grenze innerhalb Kaschmirs, an der “Line of Control”, wie sie dort genannt wird. Zwei Atommächte führen, jetzt (noch?) regional begrenzt, wieder Krieg. Wobei man sagen muss, dass es schon seit Jahrzehnten alle paar Tage zu Gefechten kommt, die Tote zur Folge haben, nur nimmt das kaum noch jemand in der Weltöffentlichkeit wahr.

Als Ende November 2008 zehn Männer aus Pakistan die indische Millionenmetropole Bombay überfielen, die Stadt drei Tage lang in Angst und Schrecken versetzten und 166 Menschen ermordeten, machte Indien ebenfalls die pakistanische Regierung für die Tat verantwortlich. Ich war seinerzeit in Bombay und berichtete über den Terror. (Opens in a new window) Es stellte ich heraus, dass die Täter zur Terrororganisation Lashkar-e-Taiba gehörten, neun von ihnen wurden noch in Bombay von den Sicherheitskräften getötet, der zehnte Terrorist festgenommen, vor Gericht gestellt und vier Jahre später in Indien hingerichtet. (Opens in a new window)

Pakistan bestritt, hinter dem Terror zu stecken, auch wenn alle zehn Terroristen pakistanische Staatsbürger waren. Die Terroristen wollten Indien provozieren und Spannungen zwischen beiden Ländern anheizen, heißt es in Islamabad. Ich finde aber nachvollziehbar, dass man sich in Indien fragt, wie ernst es die pakistanische Führung mit der Verfolgung und Bekämpfung der Terroristen meint. Und die Verstrickungen zwischen islamistischen Terroristen und pakistanischem Militärgeheimdienst sind absolut nicht von der Hand zu weisen. Der in Pakistan lebende Chef von Lashkar-e-Taiba zum Beispiel wurde dort nicht festgenommen und an Indien ausgeliefert - sondern er lief in Pakistan weiterhin als freier Mann herum, jahrelang. Das muss man sich mal vorstellen!

Die Wut der Inder kann ich nachvollziehen, auch wenn ich damals unerwartet zwischen die Fronten geriet: Indien verweigerte mir ein halbes Jahr später, im Frühjahr 2009, die Akkreditierung als Korrespondent, weil ich pakistanische Wurzeln habe. So offen sagten sie es mir nicht, aber es war so. Dabei ist meine Familie sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits eine typische Teilungsfamilie: mit Angehörigen in beiden Ländern. Statt nach Indien zu ziehen, zog ich mit meiner Familie dann eben nach Pakistan, was aus journalistischer Sicht ein Glück war. Aber natürlich ärgerte ich mich damals über die indische Regierung.

Es war eine der ersten außenpolitischen Leistungen des damals neu gewählten US-Präsidenten Barack Obama, den indischen Premierminister Manmohan Singh von einem militärischen Vergeltungsschlag gegen Pakistan abzuhalten.

Teure Tinte

Auch am Markt für Schreibwaren gibt es bisweilen kuriose Entwicklungen. Der Heidelberger Schreibgerätehersteller Lamy (der seit vergangenem Jahr einem japanischen Schreibwarengiganten gehört, aber das ist ein anderes Thema) hatte 2016 eine lilafarbene Tinte herausgebracht, die sich als äußerst populär erwies: “Dark Lilac” hieß die Farbe, und sie wurde nicht ins reguläre Farbprogramm aufgenommen, sondern war eine Sonderedition. Die Gläser waren rasch ausverkauft.

Im vergangenen Jahr - 2024 - brachte Lamy diese Farbe erneut heraus. Doch Fans fanden schnell heraus, dass es sich nicht um exakt dieselbe Farbe handelte. Lamy räumte später ein, dass ein bestimmtes Pigment nicht mehr lieferbar gewesen sei und man daher nach Ersatz gesucht habe.

Tinte in Dark Lilac, Sepia und Petrol: Möglicherweise meine Altersvorsorge.

Ich finde, man muss schon sehr, sehr, sehr genau hinsehen, um einen Unterschied zu erkennen, aber klar, ich verstehe Puristen, die das bemängeln. Wie auch immer: “Dark Lilac” von 2016 wurde schon nach dem Ausverkauf zu hohen Preisen gehandelt, aber jetzt erreichten sie schwindelerregende Höhen. Ich habe auf einigen Plattformen Angebote im unteren vierstelligen Bereich für das 50-Milliliter-Fass gesehen. Aber auch das neue Lila war schnell ausverkauft. Das alles war so irre, dass sogar die “New York Times” darüber schrieb. (Opens in a new window)

Ich selbst bin kein allzu großer Fan von lilafarbener Tinte, aber vom 2024er Jahrgang habe ich ein Glas gekauft.

Dieses Jahr, vor ein paar Wochen, hat Lamy - wie immer ohne große Werbung und PR - wieder zwei neue Sonderfarben herausgebracht: Sepia und Petrol. Die Schreibwarenhändler meines Vertrauens wussten nichts davon, vielleicht wird das auch gar nicht nach Österreich ausgeliefert. Ich habe mir dann übers Netz jeweils ein Glas für je rund zehn Euro bestellt. Die Farben sind ganz okay, nicht schlecht, aber sie lösen bei mir, anders als andere Farben und andere Tinten von anderen Herstellern, keine Begeisterung aus. Na ja, jedenfalls hab ich sie jetzt mal da. Wer weiß, vielleicht bessert das meine Rente auf.

Fürs Schreiben der “Erbaulichen Unterredungen” nehme ich mir jede Woche Zeit. Das geht nur, wenn ich mir diese Zeit freihalten kann von anderen Arbeiten. Derzeit unterstützen nur drei Prozent aller Leserinnen und Leser mit einem kleinen Beitrag, und es wäre schön, wenn sich das erhöhen könnte. All denen, die mich bereits unterstützen, ein herzliches Dankeschön!

Ich wünsche Ihnen eine meinungsvielfältige Woche!

Herzliche Grüße aus Wien,

Ihr Hasnain Kazim

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