Skip to main content

Apropos Kollaps: gefährlicher “Mangel an HIV-Medikamenten”

(Odefsey: mein lebensrettendes HIV-Medikament. Mir bleiben noch 14 Pillen. Bis zum 5.2.)

Liebe Leute,

ich rede ja gerne und oft vom Kollaps als Situation, in der “Normalitäten” zusammenbrechen, genauer:

Kollaps (Opens in a new window) heißt, dass Dinge (nicht: Gegenstände, eher sowas wie “Wasserversorgung”, “Krankenhäuser), die bisher funktonierten, nicht mehr funktionieren, oder nur selten und unvollständig. Dass das, was Du bisher für normal gehalten hast (zur Arbeit kommen, Essen kaufen, Geld abheben, nicht erschossen werden), plötzlich außerordentlich und schwierig wird.

Und wenn ich von “solidarischer Kollapspolitik” rede, meine ich eine Politik, die an Bedürfnissen anstatt Überzeugungen ansetzt, mit dem wichtiger qualifier, dass es hier nicht, wie so oft, um die imaginierten Bedürfnisse Anderer geht, sondern um die eigenen Bedürfnisse: mit denen fängt SKP an.


Medikamentenabhängigkeit

Was sind meine Bedürfnisse, im Gegensatz zu meinen Wünschen? Die unterscheiden sich bestimmt kaum von Euren, egal, wie weird mein Lebensstil Euch erscheinen mag. Aber in einer Hinsicht unterscheiden sie sich signifikant von den meisten von Euch, denn ich bin schwer medikamentenabhängig.

Ich muss jeden Tag meine anti-HIV-Medikamente nehmen, meine Odefsey, um sicherzustellen, dass bei mir meine sich im Rückenmark versteckende (that's where it hides from the medication, the clever bastard) HIV-Infektion nie zur tödlichen Krankheit AIDS wird. Klar, wenn ich die mal 1-2 Tage nicht nehme, passiert nichts Schlimmes (ich muss nur aufpassen, das nicht zu oft zu tun, sonst entstehen die berühmten medikamentenresistenten Strains), aber ein paar Wochen, gar Monate ohne Medikamente? Innerhalb ein paar Wochen könnte HIV zu AIDS werden; innerhalb von ein paar Monaten könnte ich tot sein (obwohl das unwahrscheinlich wäre – dauert meist länger).


Lieferschwierigkeiten

Als mir meine Apotheke vor 1-2 Monaten mitteilte, dass es gerade Lieferschwierigkeiten bei meinem Medikament gäbe, hab ich das noch nicht wirklich ernst genommen, I mean, die gab's bei vielen Produkten, das ändert sich bestimmt in wenigen Tagen wieder. Ich hab es zwar auf Social Media kommuniziert, aber eher so als “Notes from the Future”, im Sinne von: hey, schaut mal, so wird das in Zukunft immer mehr sein.

Well, this future, it appears, is now, at least for me, und für viele, viele andere HIV-Positive in diesem Land, und für diejenigen, die PrEP nehmen, um sich vor Infektion zu schützen: “Der Mangel am HIV-Medikament (Opens in a new window) mit den Wirkstoffen Emtricitabin+Tenofovirdisoproxil (FTC+TDF) hat sich weiter verschärft. Die Folge: Nutzer*innen mussten ihre HIV-Prophylaxe PrEP schon unterbrechen, HIV-Therapien wurden umgestellt, weitere PrEP-Unterbrechungen und Therapieumstellungen sind zu befürchten. Dieser Mangel, der die HIV-Prävention und auch die HIV-Behandlung massiv gefährdet und beschädigt, dürfte bis März anhalten.”


Und jetzt...?

...Schreibe ich erstmal diesen Text, um mir meinen Stress von der Seele zu schreiben. Ich habe gerade nachgezählt, mir bleiben noch 14 Pillen. Die reichen bis zum 5. Februar. Mir graut so megahardcore vor meinem nächsten Arztbesuch, weil, wenn die mir dann sagen “Lieber Tadzio, wie haben die Medikamente, auf die Dein Körper super gut eingestellt ist, die bei Dir keine erkennbaren Nebenwirkungen haben, die Du gut verträgst... die gibt's gerade nicht mehr, hier, probier mal dieses (total anders aufgebaute) Medikament”, dann werde ich an einem dieser Momente sein, die ich seit bald 8 Jahren, seit meinem Coming Out als HIV-positiv kaum mehr gespürt habe: ein Moment, wo ich genau spüre, wie scheiße es ist, dass ich HIV-positiv bin. Wie mich das ausliefert, und weniger resilient macht.

Aber – und verzeiht mir die Offenheit, die ich jetzt auch zu Bildungszwecken an den Tag lege – vielleicht kann ich mich ja ein Bisschen auf meinen Privilegien ausruhen, vielleicht wird die Tatsache, dass mein Hausarzt in einer HIV-Schwerpunktpraxis sitzt, bedeuten, dass er schon einen Plan hat, mit dem Mangel umzugehen; dass bürgerliche HIV-Arztpraxen in Berlin nicht der Ort sind, der als 1. Mangel erleben wird; usw, usw: so geht Kollapspolitik – Bedürfnisse, Privilegien, Ungleichheit... oder Bedürfnisse, gemeinsame Orga, weniger schlechte Welt. Hätte ich in den letzten Monaten mehr Zeit in diese Frage investiert, wäre ich jetzt vielleicht weniger ängstlich.

Also, vielleicht kann mir das als Reminder dienen: so wichtig Klimabewegungs- und antifaschistische Strategie sind – der Kollaps kommt trotzdem.

Don't EVER take the eye of that ball anymore.

Mit etwas besorgten Grüßen,

Euer Tadzio

4 comments

Would you like to see the comments?
Become a member of Friedliche Sabotage to join the discussion.
Become a member