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Spectrum of allies: Deutschland zwischen Klimaradikalen und Arschlochgesellschaft

Foto: open source


29.06.2023

Liebe Leute,

danke für Euer phänomenal großes Interesse an meinem letzten Text zum Coming out der Arschlochgesellschaft (Opens in a new window) Deutschland. Kurzzusammenfassung: der derzeitige Rechtsruck kommt nicht “von oben”, sondern ist Resultat eines gesellschaftlichen Dammbruchs, in dem all diejenigen, die schon immer andere abwerten wollten, sich endlich dafür nicht mehr schämen müssen – racists and queerhaters ouf of the closet, sozusagen.

Der Text hat einiges an Aufsehen erregt, viel Zustimmung bekommen, aber auch Kritik auf sich gezogen, und Fragen aufgeworfen. In diesem Text, den ich dieses Mal wirklich versuchen werde, kürzer zu halten (denn wie Polonius zu Laertes sagt: brevity is the soul of wit), möchte ich auf ein paar dieser Kritiken und Fragen eingehen, und daraus ein paar strategische Ideen ableiten (so no real chance it'll be short ;)). Aber es wird bedeuten: Spiegelstriche. Überleitungen kosten Zeit ;)

  1. “Bisher hast Du Deutschland immer eine Verdrängungsgesellschaft (VG) genannt, jetzt ist es plötzlich eine Arschlochgesellschaft (AG). Wie kann das sein?”

    Exzellente Frage, darauf hab ich gleich zwei Antworten: der Kernunterschied zwischen der VG und der AG ist, dass erstere sich noch an bestimmte aufklärerische Werte (manche würden evtl sagen: christliche Werte, aber whatever) klammert, an gewisse Universalismen, in deren Rahmen es halt nicht ok ist, anzuerkennen, dass andere Menschen, oft/meist mit anderer Hautfarbe, für unseren Wohlstand mehr oder minder elendiglich verrecken, oder zumindest auf's Blut ausgebeutet und unterdrückt werden. Da genau das aber natürlich der Fall ist – ich verweise auf die GEAS, den europäischen “Asylkompromiss”/de facto Abschaffung des europäischen Asylrechts, und die extrem peinlichen aber gleichzeitig genau so zu erwartenden Verrenkungen, die ACAB machen musste, um diesen “well, people are gonna drown or be thrown in jails in Tunisia”-Deal der grünen Basis zu verkaufen. Die Verdrängungsgesellschaft muss also versuchen, Dinge zu begründen, zu legitimieren, wenn diese nicht ignoriert werden können, und zwar in der Sprache des universalistischen Humanismus.

    Die Arschlochgesellschaft dagegen hat es zum Prinzip erkoren, sich eben gerade nicht erklären, und schon gar nicht legitimieren zu müssen. Es ist kein Zufall, dass das Motto eines der widerlich-reaktionärsten aller Bundesländer (Bayern), das “Mia san Mia” eigentlich das perfekte Motto der AG wäre: jo des is mia fei egol ob do irgandwelcha Schwoarza imma Middelmea absaufa” (Preuße versucht, bayerisch zu schreiben. Aua.). Da es genau die “Pflicht”, sein Verhalten im Kontext universalistischer Normen zu begründen – was für Arschlöcher (gleich zur Definition) halt nicht möglich ist, weil ihr Verhalten by definition nicht dem kategorischen Imperativ folgt. Die AG ist in dem Sinne also die schambefreite VG, und schamfrei sein ist echt chilliger, als sich die ganze Zeit vor allem vor sich selbst zu schämen. D.h. nicht, dass alle aus der VG notwendigerweise zur AG überlaufen, aber der Weg dorthin ist ziemlich bequem und attraktiv. Dann musst Du nämlich nicht Dein Verhalten ändern, nur ein Bisschen Deine Werte – die Du ja eh schon jeden Tag verrätst, so... piece of cake and all that.

  2. “Warum denn diese diffamierende Sprache, müsst Ihr Linken denn immer gleich Alle, die anderer Meinung sind, beleidigen?”

    Eine weitere exzellente Frage. Abgesehen von den immer überzeugenderen Studien, die belegen, dass die Nutzung von sog. “Kraftausdrücken” die Sprechende Person für die Zuhörenden als authentischer und glaubwürdiger erscheinen lässt (mit Ausnahme einer sehr dünnen Schicht hochnäsiger Bildungsbürger*innen – you know who you are ;)), benutze ich die Unterscheidung VG / AG durchaus im analytischen Sinne: Arschlöcher sind (u.a.) Menschen, die davon ausgehen, dass bestimmte andere Gruppen von Menschen ihnen grundsätzlich (evolutionär, intellektuell, ethisch-moralisch, im Rahmen von Gesellschaftshierarchien) unterlegen sind, und deswegen auch von oben herab/brutal/beleidigend/ausbeutend etc. behandelt werden können. Think of: gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Wer gruppenbezogen menschenfeindlich handelt, ist ein Arschloch. Simple definition, und ich finde es ok, jemanden Arschloch zu nennen, der mich “Drecksschwuchtel” nennt – und eine Gesellschaft, die Menschen ohne jegliche Begründung abwerten zum Strukturprinzip erklärt, ist nunmal eine Arschlochgesellschaft.

    Wie schon oft erklärt, ist gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ein Strukturfeature der neoimperialen, schonvielzuspätkapitalistischen Externalisierungsgesellschaften des globalen Nordens. Aber nicht jede in einer solchen Gesellschaft lebende Person ist selbst (aktiv oder auch nur implizit) gruppenbezogen menschenfeindlich (ich weiß, der Unterschied zwischen Individuum und Struktur ist schwierig im Kopf zu halten, but do try, it really helps). D.h.: in einer VG leben sowohl Arschlöcher, als auch solche, die keine sind. Wer aber als Arschloch in einer angeblich humanistischen, moralisch guten VG wie Deutschland lebt, muss sich immer ein Bisschen verstecken, zurückhalten, eben schämen. Das hörte mit dem Stolzmonat auf, jetzt können die Leute ganz offen sagen, was sie von ner perversen, kranken Junkieschwuchtel wie mir halten, was sie gerne mit den Klimaklebern machen würden, und sie fühlen endlich nicht mehr das Gefühl von Scham, das sie so lange “unterdrückt” hat.

  3. “Sind denn jetzt alle in Deutschland plötzlich von Verdrängenden zu Arschlöchern geworden?”

    Nein, natürlich nicht. Genauso wenig, wie die 20%, die die AfD in den Umfragen derzeit stabil bekommt, alle von waschechten Faschisten kommen. So ganz Pi mal Daumen hier mein Versuch, einer quantitativen und hoffentlich strategisch ein Bisschen nützlichen Aufteilung der deutschen Gesellschaft in die Art von Tortenstücken, die inspiriert sind von der Grafik, die Ihr oben seht – die übrigens vom berühmten US-amerikanischen Community Organizer Saul Alinsky entwickelt wurde, und sich “spectrum of allies” nennt.

    Also: ganz rechts in Deutschland stehen die Nazis und Faschisten, solche mit einem “geschlossenen rechten Weltbild”. My guess: die machen ung. 5% der Bevölkerung aus. Ist nicht viel, reicht aber, um ne stabile Basis zu haben, und die sind oft bewaffnet, riesig und können gut kämpfen. Dazu kommen dann 15% geoutete Arschlöcher, also solche, die jetzt endlich offen ihren Frauenhass, Rassismus, Nationalegoismus etc. rauslassen können. Diese Menschen sind mitnichten Faschos, sie sind halt Arschlöcher. Und weil die AfD eine rechtsradikale Partei ist, und weil alle Rechtsradikalen Arschlöcher sind, ist sie ein Ort, wo mensch, ähm, sorry, man ungestraft und schamfrei Arschloch sein kann, sogar dafür abgefeiert wird. Die AfD ist ein safe space für Arschlöcher, deswegen fühlen sich von ihr auch solche Arschlöcher angezogen, die zumindest vorerst keine Faschos sind.

    Der absolute Großteil der deutschen Bevölkerung verharrt in der Verdrängungsgesellschaft, die im Grunde sagt “klar sind wir für Klimaschutz, aber wir wollen dafür nix tun/zahlen/verändern, etc.” Die also in der Praxis Arschlochwerte leben müssen (weil kein wahres im falschen, yadayadayada), aber im Kopf noch universalistische Werte haben, und diese kognitive Dissonanz jeden Tag verdrängen. Genau daher auch der immer weiter verbreitete Eindruck, dass die deutsche Gesellschaft sich aus der Klimadebatte im Grunde sehr unvornehm heraushält, denn sich zu positionieren wäre halt echt viel zu anstrengend – was man da alles konfrontieren müsste, not least die eigenen Arschlochelemente.

  4. “Wer sind denn diese Klimas, von denen Du immer redest?”

    Links von der VG gibt es die “Klimas”, eine “gesellschaftliche Grundströmung” (analog zur konservativen, liberalen, linken...), die man auch als “grünes Feld” bezeichnen könnte. Die würde ich auch ung. auf 15% einschätzen. Klimas sind solche, die die Herausforderung und Bedrohung durch die Klimakatastrophe weitgehend anerkennen, und alle der Meinung sind, dass viel zu wenig gemacht wird, die aber auch (im Grunde verdrändend) glauben, dass das durch richtige Policy-, Wahl- und Konsumentscheidungen schon irgendwie werden wird. Die sind gerade alle ziemlich gefrustet, ist doch jede ihrer Strategien bisher krachend gescheitert (Grüne Partei; FFF; Öko-NGOs)

    Und genau wie es neben dem linken Feld die Linksradikalen gibt, gibt es neben den Klimas die “Klimaradikalen”, derzeit angeführt und hauptsächlich repräsentiert von der Letzten Generation. Diese kommen soziologisch aus der Mitte, aus dem bürgerlichen Teil des Klimafeldes, haben aber verstanden, dass von oben nix kommen wird (never mind den Sprech der LG, ihre Strategien sind de facto darauf ausgelegt, nicht zu überzeugen, sondern zu zwingen, anders lassen sie sich nicht analysieren und erklären). Während eine normale Bürgerin ein Problem so bearbeitet, dass, wenn sie die Kritik auf die richtige Weise an die richtigen Autoritäten richtet, dann wird das Problem auch bearbeit, zumindest teilweise in ihrem Sinne. Das hat z.B. FFF ziemlich lange versucht, und natürlich kam nix dabei rum. D.h., dass die Klimaradikalen eine frustrierte Abspaltung aus dem bürgerlichen Klimafeld sind, die mit Mitteln des radikalen Bruchs, die teils aus der radikale Linken importiert sind, versuchen, bürgerliche Forderungen gegenüber der Mitte durchzusetzen, was, wie Ihr beim Lesen vielleicht merkt, gewisse Problem mit sich bringt, vor allem angesichts der immer wieder offensichtlichen kulturellen Abgrenzung der LG von allem, was nach Links riecht.

Spectrum of alies?

D.h: wir haben 5-20% aktive und passive Gegner*innen, und auf die werden wir keinen positiven Einfluss haben – they just wanna kick our asses. In der Verdrängungsgesellschaft müssen wir leider auch davob ausgehen, dass die meisten dort im Zweifelsfall Richtung AG tendieren werden, weil es eben so viel einfacher ist, und auch unseren imperialen Lebensrealitäten entspricht.

Auf links, oder genauer: auf der Klimaseite haben wir 5% aktive Supporter*innen einer Politik des radikalen Bruchs, und potenziell 15% passive Unterstützer*innen (die Klimas). Eines unser Ziele muss sein, die AfD nachzuahmen, die es geschafft hat, ein möglicherweise stabiles Bündnis aus Faschos und Arschlöchern zu basteln. Unser Ort können nicht die Grünen sein, die mittlerweile, zumindest oben, der grüne Flügel der VG geworden sind. Unser Ziel müssen diejenigen in Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und vielen anderen Vereinen sein, die mehr machen wollen, die in ihren Körpern einen Zug zur Blockade, zur Störung, zum Kampf fühlen. Mehr Klimas zu radikalen Klimas machen: Kernaufgabe.

Zweitens sollten wir – vgl. die Kampagne gegen Tesla bei Grünheide – manchmal auf Themen setzen, die noch nicht so hart polarisiert (kulturkampfisiert) worden sind, wie Autos oder fossile Brennstoffe. Das Wassertheme, das immer mehr zum zentralen Kristallisationspunkt klimatastrophenbedingter Konflikte wird, bietet sich da an.

20 – 60 – 20. That's what we've got to work with. Klimas zu radikalen Klimas machen, und Verdrängende zu Klimas. The rest is lost, & we'll meet them across the barricades.

In dem Sinne,

Euer Tadzio

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