Fleshful fantasy
Was sagt eigentlich die Evolution zum täglichen Fleischkonsum des Menschen?
Die Menschen essen zu viel Fleisch. Besser gesagt die Menschen in reichen Industrienationen essen zu viel Fleisch. Fleischproduktion ist vor allem durch Haltung und Versorgung von so vielen Tieren sehr unweltschädlich, das weiß man, das ist bekannt. Um all diese Tiere zur Schlachtreife zu bringen, braucht man Unmengen von Wasser, Futter, Medikamente, es fallen Tonnen von Exkrementen an, die Verarbeitung im Schlachtbetrieb kostet Energie. Vielen Menschen sind diese Probleme bekannt, aber sie sind dennoch so sehr an ihren täglichen Fleischkonsum gewöhnt, dass sie darauf nicht verzichten wollen.
Ich war auch lange so. Und meine biologische Ausbildung hat mich darin auch zunächst bestärkt.
Zeigt her Eure Zähne
Das Gebiss einer Art gibt Auskunft darüber, an welche Art der Ernährung sie sich angepasst hat. Es gibt Pflanzenfresser (Herbivore) mit Malmzähnen, die Pflanzenteile förmlich zermahlen, und Fleischfresser (Carnivore) mit Reißzähnen, die Stücke von Fleisch zerreißen oder zerschneiden. Und es gibt Allesfresser, die Omnivoren.
Allesfresser haben einige Zähne, die zum Zermalmen von Pflanzennahrung geeignet sind, und andere Zähne, die zerreißen können. Omnivoren sind zum Beispiel Bären, Schweine und Menschenaffen. Omnivor zu sein, bedeutet, dass sowohl pflanzliche als auch fleischliche Nahrung im Magen-Darm-Trakt aufgeschlossen und verarbeitet werden kann. Idealerweise bekommt eine omnivore Art beide Nahrungsbestandteile, überleben – auch über längere Zeit - kann sie aber auch nur mit einer.
Omnivore sind also Nahrungsgeneralisten, die nehmen, was gerade da ist. Für reine Fleisch- und Pflanzenfresser ist eine andere als die eigentlich benötigte Nahrung im wahrsten Sinn des Wortes nur mit Bauchschmerzen möglich, denn auch ihr Stoffwechsel und Magen-Darm-Trakt sind auf die einseitige Ernährung eingestellt. Es fehlt ihnen die Möglichkeit, das jeweils andere Futter im Magen aufzuschließen und an seine Nährstoffe zu kommen, weil der Verdauungscocktail im Magen auf eine ganz andere Nahrung eingestellt ist.
Menschen sind Allesfresser – die Evolution unserer Art hat zu einer Lebensweise geführt, die sowohl pflanzliche als auch fleischliche Kost vorsieht. Tierisches Eiweiß befördert den Muskelaufbau und ist damit für eine in Expansion befindliche Arbeit essentiell.
Aha, sagen wir von Fleischfreunde e.V. da, wenn die Evolution vorsieht, dass mein Körper auch Fleisch bekommt, wer bin ich dann, es ihm zu entziehen? Er braucht es schließlich.
Das ist aber nur sehr eingeschränkt richtig.
Fleisch und der moderne Wohlstandsmensch
Das, was uns von dieser "von der Natur vorgesehenen" Ernährung trennt, sind zwei Dinge.
1. Die nomadische Lebensweise
Unsere Vorfahren lebten nomadisch und zogen den großen Tierherden hinterher, die sie mit Leder, Knochen, Fellen und – aha! - Fleisch versorgten. Auch wenn die Reisegeschwindigkeit sehr gemächlich war – die Archäologie geht von einem bis fünf Kilometer pro Jahr aus -, ist ein nomadisches Leben sehr kräftezehrend. Da man Nahrung damals noch nicht haltbar machen konnte, gab es auch keine Vorräte, die es ermöglicht hätten, längere Zeit an einem Ort zu verschnaufen. Waren die pflanzlichen und tierischen Nahrungsgründe abgeerntet, ging es weiter. Die Menschen lebten von der Hand in den Mund, alles musste jeden Tag aufs Neue erarbeitet werden.
Menschen, die ein so hartes Leben führen, sind stärker auf tierisches Eiweiß als Energielieferant angewiesen als sesshafte Bauern, die ihre eigene Nahrung anbauen und lagern können.
2. Fleischkonsum ist die Ausnahme, nicht die Regel
Seit Anbeginn ihrer Entstehung haben Hominiden Fleisch konsumiert, das ist wahr. Aber Fleisch machte, auch weil es so wahnsinnig schwer zu bekommen war, immer nur einen sehr geringen Prozentsatz ihrer Diät aus. Die Jagd ist alles andere als ein sicheres Geschäft und Fehlschläge gehören dazu. Ein jagender Nomade kommt keinesfalls abends sicher mit einem schönen Braten nach Hause.
Fleisch gehört also zwar regelmäßig zur menschlichen Ernährung, aber regelmäßig heißt nicht täglich. Bei den San in Südafrika, die ihre nomadische Lebensweise lange gegen europäische Besatzer verteidigen konnten, macht die überwiegend von Frauen gesammelte pflanzliche Nahrung bis zu 80 Prozent aus. Fleisch ist gewissermaßen ein Zubrot.
Wenn wir also feststellen, dass unsere Körper biologisch auf Fleischkonsum ausgerichtet sind, dann bedeutet das lediglich, dass uns – rein evolutionsbiologisch gesprochen - hin und wieder tierisches Protein gut tut.
Weniger ist mehr
Als mir mein Denkfehler aufging – in Wahrheit fegte er wie ein Hurrikan über mich hinweg und nahm mein bisheriges Essverhalten mit sich -, war mir sofort klar, dass ich meine Ernährung verändere.
Zunächst reduzierte ich die Fleischmengen. Wo ich vorher mit satten 250 Gramm Rinderhack kochte, nahm ich nur noch 80 Gramm, wo ich zuvor acht Scampi in die Pfanne haute, nahm ich nur vier kleingehackte. Geschmacklich gab es praktisch keinerlei Einbußen, aber meine Besuche an der Fleischtheke wurden deutlich seltener. und da ich ausschließlich in Biosupermärkten wie Denn's oder BioCompany einkaufe, meine Einkäufe auch billiger.
Das war aber nur der Einstieg. Ich fing an zu experimentieren, probierte aus, wie meine Lieblingsgerichte ganz ohne Fleisch funktionieren. Und stellte zum Beispiel fest, dass mein legendäres Tomatensößchen gar keine Fleischeinlage braucht, um unfassbar lecker zu sein. Ich bin wirklich keine Köchin, ich hasse kochen und empfinde keinerlei Spaß daran, mit viel Zeitaufwand Zutaten in einen Topf oder eine Pfanne zu werfen, um sie dann in zehn Minuten aufzuessen. Wenn ich also sage, ich fing an zu experimentieren, dann war das für mich ein großer Schritt. Fleischersatzprodukte gab es zunächst nicht, statt dessen probierte ich verschiedene "normale" Zutaten, die das Fleischgefühl ersetzen konnten. Mit Zwiebeln gebratene Pilze funktionieren für mich gut. Auch Fleischersatzprodukte versuchte ich, aber ich muss ehrlich sagen, dass mich Sojahack oder Lupinengyros nicht wirklich überzeugen. Ein echter Gamechanger auf dem Weg zu einer fleischarmen Küche waren für mich geschmacksintensive Käsesorten, die ich kleingewürfelt in die Pfanne gab.
Mittlerweile gibt es Fleisch bei mir nur noch rund einmal die Woche. Es geht mir gut, ich habe keine Mangelerscheinungen, fühle mich nicht kraftlos (außer Depression). Alles schick, Fleischzufuhr ausreichend.
Tierisches Eiweiß mit sechs Buchstaben
Aber da ist ja noch etwas, das momentan durch (Soziale) Medien geistert. Die EU hat gemahlene Grillen und die Larven des Getreideschimmelkäfers (eine andere Art von Mehlwurm) als Lebensmittel zugelassen (Opens in a new window). Yummy!
Den meisten von uns erscheint die Idee, Insekten zu essen, vermutlich (noch) ganz weit weg. Insekten, das sind die, die Krankheitserreger übertragen, unsere Vorräte schädigen und/oder uns zu Tode erschrecken, wenn wir im Keller das Licht einschalten. Die westliche Kultur hat Insekten und Spinnen so weit aus unserem Lebensraum verdrängt, dass wir sie nicht als harmlose Mitbewohner, sondern als Gefahr verorten, als bösartigen, ekligen Eindringling. Die Entfremdung von unseren mehrbeinigen Nachbarn hat bei vielen Menschen sogar zu handfesten Phobien geführt. Sendungen wie "Ich bin ein Star, holt mich hier raus" spielen lustvoll mit diesem Ekel, wenn etwa Teilnehmende Maden, Heuschrecken und Engerlinge essen müssen.
Aber ebenso wie die Krustentiere des Meeres gehörten auch Sechs- und Achtbeiner immer schon zu unserer normalen Ernährung. Sie sind wesentlich leichter zu erbeuten als eine Antilope, man muss sie nur einsammeln. Häufiger als Großsäuger sind sie auch. Sie stehen also bei geringerem Aufwand fast unbegrenzt zur Verfügung. Während aber Meeresfrüchte vielen Menschen als Delikatesse gelten, schüttelt es vermutlich die meisten bei dem Gedanken daran, eine Made zu essen. Insekten essen nur reiche Schnösel in exaltierten Gourmetrestaurants und "unzivilisierte Naturvölker" (der Begriff verdeutlicht das überhebliche Vorurteil, nicht meine Haltung).
Als Biologin bin ich immer daran interessiert, in Harmonie mit meinem evolutionären Werdegang zu leben, und als von Angststörungen Betroffene befinde ich mich ohnehin in ständiger Feindschaft mit irrationalen Ängsten. Deshalb finde ich die Idee, Insekten zu essen, gut. Punktum. Mich schüttelt es auch bei der Vorstellung, einen fingerdicken Engerling zu essen, und genau deshalb fände ich einen kulturellen Weg hin zu mehr Engerlingakzeptanz richtig. Meine Vorfahren vor 20.000 Jahren hätten sich nach einem Engerling alle zehn Finger geleckt und mich darüber hinaus für verrückt erklärt, einen solchen Happen aus zivilisatorischer Naturentfremdung heraus auszuschlagen.
Im Moment sind Insekten und ihre Larven noch nicht als menschliches Lebensmittel im normalen Supermarkt verfügbar, aber sobald das der Fall ist (und ich es bei der gemächlich agierenden Bürokratie noch erlebe), bin ich sofort dabei, Insekten zu essen. Denn was anderes als die Scampi des Landes sind denn Insekten?
So oder so: wir Menschen sind von der Evolution zwar auch für Fleischkonsum geschaffen, aber in sehr viel geringerem Maße als unsere Fleischesskultur uns weismachen will. Unsere Körper kommen mit einem Bruchteil tierischen Proteins aus von dem, was wir tatsächlich konsumieren. In Deutschland waren das im Jahr 2015 immerhin fast 61 Kilo (Opens in a new window). Während der Konsum von Milchprodukten seit 2015 um rund fünf Prozentpunkte gefallen ist (Opens in a new window), bleibt unser Fleischkonsum fast gleich. Das ist nicht nur unter kulturellen Gesichtspunkten falsch, sondern auch, wenn man es biologisch betrachtet.
Lasst uns zurückkehren zu dem guten Sonntagsbraten, genau wie zu dem Badetag. Lasst uns den kulturellen Ekelfaktoren den Rücken kehren. Lasst uns Fleisch wieder als das wertschätzen, was es war: eine besondere Delikatesse, ein Ausnahmeessen.
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