Der Aufstand der Anständigen
They're out there burning houses down and peddling racist lies
And we'll never rest again until every Nazi dies
(Chumbawamba)
132/∞
Good evening, Europe!
Zunächst einmal möchte ich mich ganz herzlich für die Rückmeldungen zur letzten Ausgabe (Opens in a new window) meines Newsletters bedanken, in dem ich mich für ein bisschen mehr Menschlichkeit im Alltag ausgesprochen hatte. Es macht schon viel aus, wenn man feststellt, dass das, was man schreibt, wirklich auch gelesen und gemocht wird! Macht das gerne und unbedingt auch bei anderen Menschen, deren Arbeit Ihr gut findet!
Ich war mir natürlich des Risikos bewusst, dass der ganze Newsletter wie ein einziges fishing for compliments wirken könnte, aber das war ich bereit einzugehen — schließlich ging es mir ja im Kern darum, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Und auch als Instagram-Post (Opens in a new window) haben meine Gedanken ganz gut performt.
Genau einen Tag nach diesem optimistischen Newsletter enthüllten die Journalist*innen von Correctiv dann ein Treffen von zwielichtigen Geldgebern, Neo-Nazis, Mitgliedern von AfD und „Werteunion“, auf dem Pläne besprochen wurden, wie man Menschen mit Migrationsgeschichte, die teilweise seit Jahrzehnten in Deutschland leben und sogar einen deutschen Pass haben, deportieren könne. Eine Art Mashup von Wannsee-Konferenz (Opens in a new window) und Hitlers Rede vor dem Industrie-Club Düsseldorf (Opens in a new window) im Martin-Sellner-Remix:
https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/ (Opens in a new window)Es war einer der seltenen Momente in meiner fast 35-jährigen Medienbeobachter-Laufbahn, in denen die Veröffentlichung einer journalistischen Recherche sofort das ganze Land zu verändern schien.
In den ersten Stunden passierte etwas, was ich holzschnittartig so wiedergeben möchte: Während bei Instagram die sogenannten normalen Menschen klarstellen, dass die Nazis in der Minderheit seien, und der Aufstand der Aufrechten dort quasi sofort im vollen Gange schien, machte die Standard-Twitter/X/Threads-Klientel aus den immergleichen, meist Berliner Medien- und Politikmenschen (zu 80% Männer) das, was sie am besten kann: Witze; das Fehlen eines Aufschreis bemängeln (meine komplette deutschsprachige Timeline war voll mit der immer wiederkehrenden These, es habe sich niemand zu dem Thema geäußert) und gesellschaftliche Reaktionen fordern, als sei „die Gesellschaft“ irgendein Geheimbund, in den man nur nach einem aufwendigen Aufnahmeritual gelangen kann.
Und dann waren die Menschen auf den Straßen: Erst ein paar Tausend und dann jeden Tag mehr. Die schweigende Mehrheit, eines der wichtigsten „Argumente“ der AfD für ihre menschenverachtende Politik, war plötzlich laut und gegen diese Partei.
Für letzten Freitag war die Demo in Bochum angekündigt, die Polizei erwartete im Vorfeld „bis zu tausend Personen“ und ich hatte einfach gehofft, dass es schon ein paar mehr würden (einfacher Dreisatz: in Köln waren am Montag 30.000 Menschen (Opens in a new window) auf der Straße gewesen; Köln hat etwa drei Mal so viele Einwohner*innen wie Bochum, also wären 10.000 hier ein ähnlich guter Pro-Kopf-Wert wie in dieser Stadt, in der die Menschen sowieso gerne im Winter auf der Straße (Opens in a new window) stehen und in der es eine gewisse moderne Tradition anti-faschistischer Großveranstaltungen (Opens in a new window) gibt).
Das Treffen fand vor dem Bochumer Hauptbahnhof statt, der zwar verkehrsgünstig gelegen ist, aber nicht genug Platz bot. (Der sogenannte Kurt-Schumacher-Platz ist unser zentraler Omibus-Bahnhof; in Bochum erklären wir auch Verkehrsinseln (Opens in a new window) und Sackgassen (Opens in a new window) zu „Plätzen“, wir sind da nicht so.) Volk ohne Raum mal ganz anders. Schnell war klar: Der vorher geäußerte Gruß „Wir sehen uns auf der Demo“ würde so nicht umsetzbar sein, dafür habe ich mehr bekannte Gesichter gesehen als beim Klassentreffen vor anderthalb Jahren. Einige Menschen erklärten, zum ersten Mal auf einer Demo zu sein, was mich als Protest-Veteran (Diggi, ich war schon auf Anti-Nazi-Demos, da war Martin Sellner noch keine acht Monate alt!) natürlich besonders gefreut hat.
Und dann ging’s los: Da waren der Grundschüler und der Opi, die sich einen Battle geliefert haben, wer lauter rufen kann. Die Menschen, die am offenen Fenster standen und den Demonstrierenden beide Daumen hoch gezeigt und applaudiert haben. Eine Feuerwerksbatterie, die an der Uni-Straße den Himmel erhellte und lautstark bejubelt wurde. Und so viele Menschen, die bei Temperaturen um den Gefrierpunkt fast drei Stunden auf den Beinen waren, dass selbst die meist konservativen Schätzungen der Polizei (Opens in a new window) auf 13.000 kamen. Es lag eine friedliche, fast feierliche Stimmung über der Stadt und fühlte sich an wie ein 5:0-Heimsieg gegen Bayern.
Danach zum Aufwärmen in die Kneipe. Fotos aus Hamburg (Opens in a new window); Opis, die vermutlich schon im Bonner Hofgarten am Start gewesen waren, mit anderen Opis, die zum ersten Mal auf einer Demo waren. Und ein Toast darauf, dass unsere Kinder nicht mehr gegen Nazis demonstrieren müssen, wenn sie groß sind.
Natürlich darf das nur der Anfang sein. Natürlich muss das Ziel sein, die AfD und andere Extremisten und Populisten bei allen Wahlen unter fünf Prozent zu drücken und von den anderen Parteien eine humane und gerechte Politik zu fordern. Aber es war, knapp 35 Jahre nach meiner ersten Anti-Nazi-Demo, ein guter Anfang für diesen Aufstand der Anständigen. Die vielbeschworene Mitte der Gesellschaft zeigt, dass sie keinen Bock auf Deportations-Phantasien hat.
Die Autorin und Aktivistin Tupoka Ogette hatte direkt nach den Correctiv-Enthüllungen auf Instagram eine kleine Handreichung (Opens in a new window) veröffentlicht, was wir als weiße Mehrheitsgesellschaft tun können (u.a. „Sprecht mit Kolleg*innen, in der Familie, mit Freund*innen, mit Nachbarn. Lasst nicht locker. Übt es zu argumentieren, habt eure Fakten parat, bildet euch.“).
Die Bildungsstätte Anne Frank hat gerade, ebenfalls bei Instagram (Opens in a new window), ein paar Tipps herausgegeben, wie wir alle jetzt weitermachen können.
Das Thema Rechtsextremismus dominiert plötzlich den Alltag von Menschen, die sich vorher wahrscheinlich als „unpolitisch“ bezeichnet hätten, und ist groß in den Medien präsent. Aushilfs-Populisten wie Friedrich Merz, der die Demos gegen rechts als „gegen jede Form von Extremismus“ interpretierte (Opens in a new window) (die Bochumer Veranstaltung hatte unter dem recht eindeutigen Namen „Nieder mit der AfD — Organisiert den antifaschistischen Widerstand“ stattgefunden), oder Markus Söder, der sie auch als „Weckruf für die Ampel“ verstand (Opens in a new window), müssen sich jetzt erstmal neu sortieren, weil ihre Versuche, die AfD einzufangen oder deren Ergebnisse zu „halbieren“ (Merz im November 2018 (Opens in a new window)), indem sie möglichst viele derer Positionen übernehmen, gerade an beiden Enden scheitern. Und die AfD und ihre Anhänger versteigern sich in immer neue Trump’sche Verschwörungserzählungen, z.B. zu einem Foto von der Demo in Hamburg, die leicht zu widerlegen (Opens in a new window) sind.
Vor uns liegt noch ein weiter Weg, aber wenn jetzt internationale Medien über die Proteste gegen rechts in Deutschland (das in jeder Hinsicht eine Sonderstellung beim Thema Rechtsextremismus einnehmen dürfte) berichten, ist das vielleicht ein Ansporn für die Menschen in den Niederlanden, in Schweden oder den USA, auch massiv auf die Straße zu gehen. Vor allem letzteres ist dieses Jahr dringend nötig.
In Wien soll am Freitag (Opens in a new window) eine solche Demo stattfinden, am Samstag in Dinslaken (Opens in a new window).
Dass meine Kumpels von kettcar vergangenen Freitag nach fünf Jahren einen neuen Song veröffentlicht haben, der plötzlich noch zwingender erschien als ein paar Wochen zuvor, als er zum ersten Mal angekündigt wurde, könnte man als das Glück der Tüchtigen bezeichnen, wenn das vor diesem Hintergrund nicht zynisch klänge: In „München“ geht es um Alltagsrassismus.
Ich habe das Video letzte Woche etwas unvorbereitet mit meinem neunjährigen Sohn, der quasi seit Geburt großer kettcar-Fan ist, angemacht und danach sehr viel geheult und ihm einiges erklären müssen — aber wenn Neunjährige mit Migrationsgeschichte Rassismus erfahren müssen, kann auch eine neunjährige Kartoffel erfahren, dass es Rassismus gibt.
Die Band tut sich aus nachvollziehbaren Gründen schwer damit, sowas zu schreiben wie „Ey, vielen Dank für die tollen und vielen Rückmeldungen, und dass ihr den Song so oft geteilt und in eure Playlisten gepackt habt“, aber vielleicht wollt Ihr Song und Video ja trotzdem teilen:
https://www.youtube.com/watch?v=Mkc5XatbWlk (Opens in a new window)Was hast Du veröffentlicht?
Gemeinsam mit meinen Freund*innen und Kolleg*innen Selma Zoronjić, Peter Urban und Jens Kölsch habe ich bei Coffee And TV einen kleinen großen Rückblick auf das musikalische Jahr 2023 produziert:
https://www.youtube.com/watch?v=4AheZ2zbYwo (Opens in a new window)Die Sendung (Opens in a new window) gibt es nur auf Spotify zu hören, meine 2023-Playlist sowohl bei Spotify (Opens in a new window) als auch bei Apple Music (Opens in a new window).
Mit Musik aus dem neuen Jahr habe ich mich aber auch schon auseinandergesetzt und für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ über „Neverheart“, das neue Album von Maximilian Hecker, geschrieben (F+, kostenpflichtig):
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/pop/neverheart-maximilian-heckers-neues-studioalbum-19458406.html (Opens in a new window)Was hast Du gehört?
Im (eh oft sehr tollen) Podcast „People I (Mostly) Admire“ von Steve Levitt war der Daten- und Popkulturjournalist Walt Hickey zu Gast, den ich vorher auch nicht kannte, von dem ich aber direkt Fan geworden bin. Im Gespräch geht es im weitesten Sinne um Statistiken und Mathematik, konkret aber verhandelt an Beispielen wie dem Football-Computerspiel „Madden NFL“, „Star Wars“ und Taylor Swift. Da bin ich natürlich dabei:
https://freakonomics.com/podcast/walt-hickey-wants-to-track-your-eyeballs/ (Opens in a new window)Was hast Du gelesen?
Im „New Yorker“ hat Kyle Chayka darüber geschrieben, wie es war, zu Beginn des „Social Internet“ (AOL Instant Messenger, ICQ, Webforen, LiveJournal) aufzuwachsen: ein Gefühl von Gemeinschaft, die Verheißung einer besseren Welt durch Vernetzung — alles ausgelöscht und ins Gegenteil verkehrt, nur 20 Jahre später. Vieles kam mir sehr bekannt vor (vgl. Newsletter #124 (Opens in a new window)) und so habe ich zwischendurch beim Lesen wirklich geweint, weil es mich an das erinnert hat, was war, was möglich war und was anders gekommen ist (nicht immer, aber oft zum Nachteil aller):
https://www.newyorker.com/culture/the-weekend-essay/coming-of-age-at-the-dawn-of-the-social-internet (Opens in a new window)Was hast Du zum ersten Mal gemacht?
Nachdem Sandra Hüller, regelmäßig auf der Bühne des Schauspielhaus Bochum (Opens in a new window) zu sehen, gestern für ihre Leistung im Film „Anatomy of a Fall“ für den Oscar als beste Hauptdarstellerin nominiert wurde (Opens in a new window), kann ich mir „Eine*n Academy Award nominee bei der Hunderunde getroffen“ in meinen Lebenslauf schreiben — auch wenn das schon ein paar Monate her ist.
Was hast Du gelernt?
Helmut Schmidt hatte den gleichen Lieblingsstift (Opens in a new window) wie ich. Er in grün, ich in schwarz.
Bevor ich für heute ende, möchte ich noch einen besonderen Gruß an die neuen Abonnent*innen rausschicken, die seit der letzten Ausgabe hinzugekommen sind: Herzlichen Dank, das bedeutet mir sehr viel!
Und wenn auch Ihr diesen kleinen Hobby-Newsletter finanziell unterstützen und dafür im Neuen Jahr ein paar exklusive Texte erhalten wollt, könnt Ihr das hier tun:
Wie immer gilt auch: Wenn Euch diese Ausgabe des Newsletters gefallen hat, leitet sie doch an eine Person weiter, von der Ihr glaubt, dass auch sie Interesse daran haben könnte!
Habt eine schöne Restwoche!
Always love, Lukas