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Anders aufwachsen

Geschwister mit und ohne Behinderung (Teil 2)

Der zweite Text von Kooperationspartner „andererseits“ handelt davon, wie Familien damit umgehen, wenn es Kinder gibt, die eine Behinderung haben. Welche Erfahrungen machen sie und was prägt sie? Ein Blick nach innen.

Von Clara Porak, Wien 

„Geht es dir gut?“, fragt Pia. „Ha“, macht ihre Schwester. Wenn Kimmi ihren Mund weit öffnet und aus voller Kehle „Ha“ haucht, heißt das „Ja“, weiß Pia. Wenn sie den Kopf schüttelt, die Augen schließt und mit der Hand von sich weist, heißt das nein. Wenn sie sich mit ihrem Zeigefinger an die Stirn fasst, dann heißt das „die spinnen ja“. Pia versteht ihre Schwester, auch wenn das sonst nicht viele Menschen tun. Pias Schwester Kimmi ist 33 Jahre alt und wurde mit einem Herzfehler geboren, der sie immer schon eingeschränkt hat.

Vor ungefähr 10 Jahren blieb ihr Herz dann kurz stehen und Kimmi lag mehrere Wochen im Koma. Seitdem braucht sie 24 Stunden Pflege: Hilfe beim Waschen, beim Anziehen und Essen. „Meine Schwester hat eine sehr große Priorität in meinem Leben, das ist einfach klar“, sagt sie. Kimmi kann kaum mehr sprechen – aber mit ihrer Schwester kommunizieren, das geht trotzdem. Manchmal buchstabiert sie Wörter und wenn ihre Stimme es gerade hergibt, sagt sie „Ich hab dich lieb“.

Verantwortung, das ist ein Wort, das oft vorkommt, wenn man darüber redet, wie es den Geschwistern von Menschen mit Behinderungen geht. Auch ich kenne dieses Gefühl gut. Mit fünf Jahren wollte ich deshalb zum Beispiel nicht, dass mein Bruder ohne mich im Kindergarten ist. Ich hatte Angst, dass er dort nicht verstanden wird.

Verantwortung übernehmen von Anfang an

Mit so einer Verantwortung aufzuwachsen, wie Pia das tut, wie ich es getan habe, verändert wie man lebt, wie man die Welt sieht. Deshalb möchte ich diesem Thema die zweiten Folge der Serie „Neben Dir – über Geschwister von Menschen mit Behinderungen“ widmen. Wie geht man damit um, in die Verantwortung für einen anderen Menschen hineingeboren zu werden?

Um diese Frage zu beantworten, habe ich mit zwei Schwestern, die sich bei mir gemeldet haben, gesprochen. Eine von ihnen ist Pia. Pia ist 28 und studiert Kommunikationsdesign in der Nähe von Stuttgart. Ihre Familie besucht sie sehr regelmäßig. Gerade übernehmen Pias Eltern Kimmis Pflege. Die Frage, was passiert, wenn das einmal nicht mehr geht, beschäftigt Pia jeden Tag. „Wenn ich bei meiner Schwester bin, kann ich mir nicht vorstellen, sie wegzugeben. Ich denke dann, ich übernehme das ganz, weil ich sie so lieb habe“, sagt Pia. Aber: „Ich will eine eigene Familie, ich kann das nie übernehmen.“

Viele von euch haben in der Umfrage auch davon erzählt, dass die Verantwortung für eure Geschwister schnell überfordern kann: „Ich hatte oft das Gefühl, verantwortlich zu sein, für das, was er tut oder nicht tut, diese Verantwortung war manchmal ganz schön viel auf meinen schmalen Schultern“, schreibt jemand über seinen Bruder. Viele der Geschwister von Kindern mit Behinderungen bemühen sich, ihre Familie nicht zu belasten. Das kennt auch Pia: „Ich hatte immer das Gefühl, ich bin die, bei der es gut laufen muss.“

Geschichten wie die von Pia und mir, unsere Fragen kennt kaum jemand so gut wie Marlies Winkelheide. Sie ist Sozialwissenschaftlerin und berät seit vierzig Jahren Geschwister von Menschen mit Behinderungen. (Opens in a new window) Geschwister wollen funktionieren, um ihre Familie nicht zu belasten, aber das geht nicht immer, sagt Winkelheide. Viele kommen zu ihr mit dem Gefühl, nicht so wichtig zu sein, wie ihre Geschwister, die besonders viel Aufmerksamkeit brauchen. Ein Mädchen habe zum Beispiel einmal zu ihr gesagt: „So wichtig wie meine Schwester werde ich nie sein, weil mein Papa hat nur mehr eine Niere“, sagt sie. 

Situationen wie diese schildern Geschwister Winkelheide immer wieder. Sie versucht sich jede Lebenssituation genau anzusehen, um zu verstehen, was die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen brauchen. Denn Winkelheide ist überzeugt: Mit jemandem mit Behinderung aufzuwachsen das ist nicht automatisch ein Problem, es ist eine Herausforderung für die ganze Familie, der sich alle stellen müssen. Dennoch: „Geschwister brauchen nicht Therapie, weil sie Geschwister sind.  Sie sollen geschützte Räume kennen, in denen sie unbeeinflusst sprechen können und ihre Situation verstehen“, sagt sie. 

Die Geschwister hätten oft ähnliche Fragen, sagt sie. Zum Beispiel: Was heißt eigentlich anders sein? Darf ich mich über etwas freuen, dass meine Schwester nie können kann? Was passiert, wenn meine Eltern mal nicht mehr für das Geschwister da sind? Warum habe ich ganz andere Möglichkeiten wie mein Bruder? Winkelheide ist selber Geschwisterkind, ihr Bruder wurde adoptiert als sie 17 Jahre alt war. „Auch wenn mein Bruder, der im Rollstuhl sitzt, nicht dabei ist, prüfe ich automatisch bei jeder Tür, ob das gehen würde“, sagt sie.

Dieses Verantwortungsgefühl ist auch ein großes Thema an der Geschwisterforschung zu Familien mit Kindern mit Behinderungen. Es geht oft um die Dynamik in der Familie, darum, wie Menschen wie ich, oder wie ihr, darauf reagieren, wenn jemand mit Behinderung da ist. Sie stellt fest: Kinder ohne Behinderung sind oft wütend auf ihre Geschwister mit Behinderung oder aber sie „idealisieren“ sie und kümmern sich sehr stark um sie. Sie sind oft selbstbewusster, einfühlsamer als andere und flexibel (nachzulesen zum Beispiel in dieser Studie (Opens in a new window)).

Einfühlsamer und flexibler als andere?

Ich finde diesen Blick komisch: Da geht es immer darum, dass meine Familie anders ist, dass mein Bruder der prägende Faktor in meiner Kindheit war. Für mich stimmt das einfach nicht. Wenn mich etwas geprägt hat, dann auch der Umgang unserer Gesellschaft mit Behinderung.

Dennoch: Beide Reaktionen auf ein Geschwisterkind mit Behinderung, die Aufopferung und die Ablehnung, sind auch in unserer Umfrage Thema. Paula (Name geändert) schreibt zum Beispiel: „Da meine Schwester im Rollstuhl saß und nicht sprechen konnte, war sie immer wie ein kleines Baby und brauchte sehr viel Aufmerksamkeit meiner Eltern. Da hab ich mich oft sehr einsam gefühlt und es gab auch viele Momente, wo ich sehr eifersüchtig war. Da meine Eltern mir nicht immer 100 Prozent Aufmerksamkeit geben konnten. Meine Schwester war auch viel krank und es ging ihr oft schlecht. Beide Elternteile konnten nicht immer überall gleichzeitig bei Ausflügen oder Events dabei sein, da jemand bei meiner Schwester zu Hause bleiben musste.“

Ganz anders hat die Verantwortung Nicole wahrgenommen. Auch sie hat sich in meiner Umfrage gemeldet. „Ich habe dieses Kümmern immer als Geschenk empfunden“, sagt sie. Sie ist 19 Jahre alt, als ihr jüngerer Bruder Lukas mit Trisomie 21 (früher Down-Syndrom) geboren wird. Nicole lebt noch zuhause und in den ersten zwei Jahren von Lukas Leben kümmert sie sich viel um ihn, denn ihre Mutter hat nach der Geburt Krebs.

Fast jeden Abend bringt Nicole ihren Bruder ins Bett. Fast nie will er einschlafen, also nimmt ihn Nicole in den Arm und geht mit ihm im dunklen Zimmer im Kreis. Dabei singt sie ihm vor, sein Lieblingslied „Ghetto Superstar“ kann sie noch heute auswendig. „Das waren sehr schöne Momente“, sagt Nicole. Dieses Gefühl verstehe ich auch: Damals im Kindergarten, als ich Matthias nicht alleine lassen wollte, da war ich zwar überfordert, aber ich wusste auch, dass ich gebraucht werde. Dass ich Erwachsenen helfen kann, helfen muss. Ich habe früh gelernt, dass ich zähle, dass ich Dinge kann.

Auch deshalb glaube ich, dass loslassen, keine Verantwortung übernehmen, mir so schwer fällt. „So geht das vielen Geschwisterkindern“, sagt Beraterin Winkelheide. Das liegt aber nicht nur an den Familien. Geschwisterkinder können oft gut mit Andersartigkeit umgehen. Das werde zum Beispiel auch in den Schulen ausgenutzt: „Geschwister kommen nicht aus der Überverantwortung raus. Wer schläft mit dem behinderten Kind im Zimmer? Wer sitzt neben dem lauten Kind? Da muss man lernen sich zu wehren.“

Sich wehren lernen, das ist gar nicht so einfach, wenn es vor allem um die Menschen geht, die man am allerliebsten hat. Johanna, die ihr in der nächsten Folge kennenlernen werdet, habe ich auch gefragt, wie es für sie wäre weit weg von ihrer Familie zu leben, weniger zu übernehmen: „Es wäre besser, aber ich könnte es mir vorstellen.“ Genau so fühlt sich das für mich an. Loslassen, das kann auch ich nicht gut. Ich will es aber auch gar nicht.

Familie, das schließt für mich immer schon meinen Bruder ein. Ich will, dass er in meinem Leben eine Rolle spielt, mein ganzes Leben lang. Viele Leute ohne Geschwister mit Behinderungen schauen mich mitleidig an, wenn ich das sage. Warum eigentlich? Wenn ich ein Kind bekommen würde, würden mir die Leute gratulieren, wenn ich mich um die Zukunft meines Bruders kümmern möchte, bekomme ich Mitleid.

„Viele sagen, opfer dich nicht auf, aber sie verstehen  nicht: Ich möchte auch bei meiner Schwester sein“, sagt Pia. „Meine Schwester kümmert sich ja auch um mich. Sie tut mir auch gut.“ Wie Pia habe auch ich oft gehört, dass ich auch mein eigenes Leben leben muss, vielleicht wegziehen, eine Familie gründen, herausfinden, wer ich sein will. Einfach für mich leben. Das stimmt natürlich. Aber ich kann das nicht, ich möchte es gar nicht. Ich möchte diesen Abstand zwischen meinem Leben und dem von Matthias nicht herstellen. Ich weiß schon, wer ich sein will: Jemand neben Matthias.

Weitere Infos zu unserem Kooperationspartner:

„andererseits“ ist ein Online-Magazin für Behinderung und Gesellschaft. Bei „andererseits“ machen Menschen mit und ohne Behinderungen Journalismus – gleichberechtigt, kritisch und fair bezahlt. Freitags verschickt die Redaktion einen Newsletter für alle, die Behinderung verstehen möchten. Im Juli 2023 hat die Redaktion einen Film darüber veröffentlicht, wie der Katastrophenschutz für Menschen mit Behinderung versagt (am Beispiel Ahrtal): https://youtu.be/DHJ2CHSBzXw (Opens in a new window)

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