Mit Kunst und Kindern
Eine Begegnung mit Stefanie Scheurell
Nur wenigen Künstler*innen können von ihrer Arbeit leben. Stefanie Scheurell ist eine von ihnen. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Grenzen zu überwinden und Menschen zum Dialog aufzufordern. Wir haben sie getroffen, über ihre Kreativität und ihre Ziele gesprochen.
Von Pauline Tillmann
Stefanie Scheurell ist eine erfolgreiche Künstlerin, die mit ihrer einzigartigen Décollage-Technik Bekanntheit erlangt hat. Sie lebt und arbeitet seit mehr als zehn Jahren in Konstanz, wo sie sich trotz der begrenzten Möglichkeiten und hohen Mieten durchsetzt. Ihre Werke, meist Porträts und Menschendarstellungen, sind tiefgründig und regen zum Nachdenken an. Mit Unterstützung von Residenzstipendien und Galerien wie der Galerie Lachenmann strebt sie an, ihre Kunst international auszustellen. Scheurell setzt sich zudem für die Vereinbarkeit von Kunst und Familie ein und plant, ihre Familiengeschichte künstlerisch aufzuarbeiten.
Wenn sie ihre Papierarbeiten aus der braunen Pappschachtel nimmt, streift sie sich erst einmal die weißen Handschuhe über. Die haben zwar auch schon Flecken, aber so gelangen wenigstens keine Schmutzpartikel auf die fertigen Bilder. Die meisten sind DIN-A4 groß und lassen nicht erahnen, wie viel Zeit in ihrer Bearbeitung steckt. Meist sind es ehemalige Werbebilder mit Frauengesichtern. „Décollage" nennt Stefanie Scheurell ihre Technik, aber das trifft es nicht ganz.
Sie reißt und schleift nicht nur Schichten ab, sondern nutzt auch den Schleifstaub, um ihn als farbige Akzente auf die abgezogenen Flächen aufzutragen. Neue teilweise deformierte Formen entstehen. Scheinbar aufgetragene Linien sind in Wirklichkeit mit dem Cuttermesser gesetzte Vertiefungen, die durch den Schleifstaub erst sichtbar werden und sich zu einer Zeichnung verwandeln.
Diese Technik sei ihr Alleinstellungsmerkmal, sagt die Kunstschaffende. Vor etwa sieben Jahren hat sie zum ersten Mal damit experimentiert, als sie begann, einzelne Papierschichten von einem Werbeplakat abzutragen. Seitdem hat sie diese Technik perfektioniert.
„Ich wusste früh, dass mein Weg in die Kunst führen würde. Schon in der Schule hat mich meine Lehrerin für zeitgenössische Kunst begeistert. Ich habe mich freiwillig in die erste Reihe gesetzt und war von jeder Unterrichtsstunde fasziniert“. Die gebürtige Berlinerin kam mit drei Jahren nach Karlsruhe, dann ins Schwabenland und lebt seit mehr als zehn Jahren in Konstanz.
Schön sei es hier, mit dem Bodensee vor der Tür. Lange habe sie sich, als die Kinder klein waren, wie in einem „goldenen Käfig“ gefühlt. Die Möglichkeiten für eine Künstlerin seien doch relativ begrenzt. Schließlich seien die bekannten Galerien und Künstler*innen eher in Berlin, München und Köln zu finden. Seit Mai ist Scheurell mit ihren beiden Töchtern für ein halbes Jahr in Paris. Ein so genanntes „Artist in Residence“ Programm macht es möglich.
Eine Künstlerresidenz bietet Kreativen die Chance, für eine bestimmte Zeit an einem anderen Ort zu leben und zu arbeiten, um neue Inspirationen zu sammeln. Außerdem dient es dem internationalen Kulturaustausch. Diese Programme stellen oft Arbeitsräume und Wohnmöglichkeiten zur Verfügung und fördern den Austausch zwischen Künstler*innen verschiedener Disziplinen. Finanzielle Unterstützung wie Stipendien erleichtern ihnen, sich voll auf ihre kreative Arbeit zu konzentrieren. Residenzen sind in ihrer Dauer und den angebotenen Leistungen vielfältig und spielen eine wichtige Rolle für die künstlerische und professionelle Entwicklung.
Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg hat Stefanie Scheurell und sechs weitere Künstler*innen ausgewählt, um jeweils sechsmonatige Residenzstipendien in den landeseigenen Ateliers der Cité Internationale des Arts in Paris anzutreten. Diese Stipendien bieten den Künstler*innen nicht nur freie Unterkunft und ein monatliches Stipendium von 2.000 Euro, sondern auch wertvolle Ausstellungsmöglichkeiten und die Chance, in einer international angesehenen Kulturmetropole zu arbeiten und wichtige Kontakte zu knüpfen.
Die Themen Mensch und Porträt begleiten Scheurell seit ihrer Akademiezeit. In ihrer Klasse waren etwa 20 Kunststudierende, gleich viele Frauen wie Männer. Danach konnte sie sowohl als Kunsterzieherin als auch als freischaffende Künstlerin arbeiten. Sie unterrichtete Kunst am Ellenrieder Gymnasium, am Humboldt-Gymnasium und an der HTWG Konstanz. Von ihrer Arbeit als Künstlerin kann sie erst seit Kurzem leben. Sie sagt, dass dies nur wenigen Künstler*innen gelingt – Frauen noch seltener als Männern, unter anderem weil sie weniger Geld für ihre Arbeiten bekommen.
Vom DAAD, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, habe sie einmal ein Stipendium für Japan bekommen und in Zeiten der Pandemie kamen weitere hinzu. So haben öffentliche Stellen zahlreiche Förderprogramme für Künstler*innen aufgelegt, und so wurde Scheurell immer wieder für ein bis drei Monate nach München eingeladen.
Bisher pendelte Scheurell immer zwischen den Residenzen. Weil die Strecke Paris – Konstanz zum Pendeln jedoch zu lang ist, beantragte die Künstlerin frühzeitig, ihre beiden Töchter, zehn und zwölf Jahre, für eine gewisse Zeit mitnehmen zu dürfen. Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, das die Paris-Residenz vergibt, gab grünes Licht. Ein Präzedenzfall und ein Meilenstein für Künstler*innen, wenn es um die Vereinbarkeit von Kind und Karriere geht.
Also hinaus in die Welt, lautet das aktuelle Motto. Scheurells Traum ist es, ihre Werke auch in internationalen Museen zu präsentieren. Da kommt ihr die renommierte Galerie Lachenmann gerade recht. Nur etwa zwei Prozent aller Verkäufe auf dem Kunstmarkt würden in Deutschland getätigt, sagt sie. Der größte Umsatz findet in den USA und China statt. Langfristig möchte sie auch dort ihre Kunst verkaufen. Sie wisse zwar, dass männliche Kunst zu höheren Preisen gehandelt werde, lasse sich davon aber nicht abschrecken.
Kienholz und Krystufek als Inspiration
Durch die Nähe zur Schweiz, liegt es nahe, sich auch dort umzuschauen. Zürich ist eine Stunde von Konstanz entfernt und – Zitat Scheurell – sei als Kunststandort „absolut hochkarätig“, weil dort viele international arbeitende Galerien angesiedelt seien. „Da gibt es Geld, gute Stiftungen, umfangreiche Privatsammlungen, aber als Deutsche ist es schwer, dort Fuß zu fassen“, sagt sie. Zwar habe sie immer mal wieder an Ausstellungen teilgenommen und auch einzelne Werke verkauft, aber unterm Strich sei keine langfristige Zusammenarbeit zustande gekommen.
Künstler*innen, die Scheurell inspiriert haben, sind unter anderem Edward Kienholz und Elke Krystufek. Der eine Installationskünstler und Bildhauer, die andere ein Allround-Talent, das Malerei, Zeichnung, Fotografie und Performance als Ausdrucksformen nutzt. Krystufek ist bekannt für ihre explizite Darstellung von Sexualität und ihre Auseinandersetzung mit weiblicher Identität und Autonomie. Häufig setzt sie sich selbst als Subjekt ihrer Kunst ein, um Normen und Erwartungen zu hinterfragen.
Auch Stefanie Scheurell erzählt, dass ihre Kunst tiefgründig und persönlich ist, oft eine Auseinandersetzung mit Identität und menschlicher Existenz. „Ich möchte, dass meine Kunst Fragen aufwirft. Über Menschen, ihre Geschichten und die Systeme, in denen wir leben.“ Ihre Werke seien nicht nur bildende Kunst, sondern Dialoge, die sie mit der Welt führe. Die Arbeiten, die nicht in Ausstellungen hängen oder verkauft sind, befinden sich im externen Lager und in ihrer Galerie. Ihr Atelier hat sie temporär untervermietet.
Sie arbeitet, wenn sie nicht unterwegs oder am See ist, von zu Hause aus, weil das besser mit ihren Kindern vereinbar sei und die Mädchen von ihrer Arbeit so mehr mitbekämen. Scheurell träumt von einem großen Raum, in dem sie künstlerisch arbeiten kann, in dem sie Platz hat und atmen kann, in dem sie frei ist in der Wahl der Formate und nicht darauf achten muss, ob ihre Bilder „durch die Tür passen“. Doch das sei in Konstanz wegen der hohen Mieten und der generellen Raumknappheit kaum möglich.
Zum Gespräch hat sie einige Bücher mitgebracht. Ein Porträtband ihrer Großmutter Ruth aus Berlin, die sie oft besuchte und die sich gerne verkleidete. Es handelt vom Altern, Demenz und dem „unsinnigen Spiel“. Ein weiteres heißt „Ränder der Haut“ und zeigt Abbildungen ihrer Décollagen neben Werken von Robert Ritter, der ebenfalls an der Kunstakademie studiert hat und additiv arbeitet. Das heißt, er trägt immer mehr Schichten auf, während Scheurell Schicht für Schicht abträgt.
Wenn ein Bild im Seerhein versinkt
Eines Tages packte sie ihre Werke wieder ein, um professionelle Fotos davon machen zu lassen, sogenannte Repros. An diesem Tag blies der Wind so kräftig, dass er die Verspannungen aufriss und ihre Bilder auf der Fahrradbrücke aus ihrem Anhänger wehte. Eines versank im Seerhein. Ein großer Schreck – aber auch eine Inspiration: Das Element Wasser bezieht die Künstlerin seitdem in ihre Arbeit mit ein. Nicht selten bearbeitet sie ihre Papierarbeiten mit dem feuchten Nass.
Wer ein Bild kaufen will, muss zwischen 500 und 3.000 Euro auf den Tisch legen. Galerie Lachenmann, die sie vertritt, bekommt die Hälfte. Das sei gerechtfertigt, findet Scheurell, denn die Galerie investiere in ihre Künstler*innen, repräsentiere sie auf Messen und kümmere sich ums Marketing. „3.000 Euro für ein Original ist in der unteren Preisklasse für zeitgenössische Werke auf dem Kunstmarkt.“ Man könne zwar mehr verlangen, aber nur Wenige am Bodensee seien bereit, das zu bezahlen.
Ihre Galeristin Juliane Lachenmann erklärt: „Das Besondere an Stefanies Kunst ist die Ernsthaftigkeit und Genauigkeit – das unterscheidet sie von anderen Künstlern. Sie lebt und liebt das.“ Neben ihr vertritt die Kunsthistorikerin neun weitere Künster*innen. Schweizer*innen machen die Hälfte der Kundschaft aus – wie wohl bei vielen Einzelhändler*innen in Konstanz.
Was Lachenmann durchaus stört, ist der weit verbreitete Konservatismus. Zeitgenössische Kunst habe es in der Region schwer, anders als in Metropolen wie Berlin, Hamburg oder München. Dennoch ist die 44-Jährige von ihrer Bedeutung überzeugt und will in den nächsten Jahren ihre Aktivitäten in der Schweiz sowie international kontinuierlich weiter verstärken. Sogar eine weitere Dependance, neben Frankfurt am Main, sei im Gespräch. Genaueres verrät sie aber noch nicht.
Zum zehnjährigen Jubiläum Mitte Oktober werden die Pläne konkreter und sicher auch spruchreif, verspricht Juliane Lachenmann. „Der Preis für Kunstwerke lässt sich an klaren Kriterien festmachen“, erklärt die Kunsthistorikerin. Dazu gehören unter anderem Ausbildung, Ausstellungen im Ausland, Ausstellungen in Kunstvereinen, Aufnahme in Sammlungen und der Umsatz. Warum Männer in der Regel bessere Preise erzielen? „Vielleicht sind sie am Ende des Tages einfach frecher.“
Die Experimentierfreude geht Stefanie Scheurell auch nach 25 Jahren künstlerischer Tätigkeit nicht aus. Sie sei selbst immer wieder überrascht von den verschiedenen Materialien, es sei jedes Mal ein Abenteuer – wie zuletzt, als sie mit Kaffeeflecken und Pappmaché herumprobiert hat. In Paris möchte sie auf jeden Fall noch mehr mit Plakatwänden arbeiten. Das Spannende sei, dass aus ihrer Kunst Lebensenergie ströme.
Sie sagt: „Obwohl ich jetzt 43 bin, fühle ich mich immer noch wie am Anfang. Das ist schön!“ In den nächsten Jahren will sie ihre Familiengeschichte aufarbeiten. Nach der Geburt wurde sie adoptiert. Ihre leibliche Mutter lebt in Berlin, ein Projekt über sie und ihre gemeinsame Geschichte würde Scheurell gerne umsetzen. Und da sind sie wieder, die zwei Lebensthemen: Mensch und Porträt.