Manche Menschen sind gleicher als andere
Lektüre, die zufällig eines gemein hat und Spiele, an dich ich noch denke, obwohl ich sie nicht spielen mag
Alle Bücher, die ich dieses Jahr hörte, haben eines gemein: Sie behandeln auf die ein oder andere Weise postkoloniale Themen — manchmal ohne, dass man es sofort merkt.

Der Liste habe ich vier weitere Bücher hinzugefügt und bei Instagram (Opens in a new window) vorgestellt. Drei Minuten reichen aber nicht aus, um die unterschiedlichen Facetten zu beleuchten, die diese Bücher so wichtig und eindrucksvoll machen. Das bringt uns zur heutigen Ausgabe.
Die Tochter des Dr. Moreau, Silvia Moreno-Garcia, 2023
Dr. Moreau erschafft Tiermenschen, die er für seinen Gönner zu Arbeitskräften erzieht. Den Namen teilt er sich mit dem Protagonisten aus “Die Insel des Dr. Moreau” (und einem Gegner aus Resident Evil 8), der Vorlage für diese Geschichte. Seine Tochter, Carlotta, und sein Verwalter, Montgomery, erzählen die Geschichte. Fast alle anderen (menschlichen) Charaktere wirken verdächtig und unheilverkündend, ohne dass man anfangs verorten könnte, woher diese Skepsis kommt. Carlotta und Montgomery erzählen häufig die gleiche Situation, eben aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Das ermutigt nicht nur zu Vertrauen, sondern bringt auch eine neue Ebene in die Erzählung: die Charaktere und wie sie die Situationen erleben stehen im Vordergrund, weniger die Handlung selbst.
Eines Tages besucht der Sohn des Gönners das Anwesen und das Unheil nimmt seinen Lauf. Im 19. Jahrhundert haben die Maya in Yucatán gegen die Autorität des Staats gekämpft, das ist hier der Schauplatz der Geschichte. Weiße empfinden dort das Gemälde einer nicht-weißen Eva in der Kirche als Blasphemie und generell ist die Meinung einer Frau weniger wert. Die Tier-Arbeiter:innen werden mit Alkohol und Predigten in einem Abhängigkeitsverhältnis gehalten. Im Kleinen spielt sich ab und macht dadurch greifbar, wie Kolonialmächte ihre Herrschaft rechtfertigen und etablieren. Der Roman erzählt von der Emanzipation aus diesem Verhältnis, hat aber auch einen “frenemies to lovers”-Teil. Kurz: Frankenstein trifft Pocahontas.
Trophäe, Gaea Schoeters, 2024
Hunter jagt seit er ein kleiner Junge ist. Jetzt ist er reich und versucht in einem nicht weiter genannten Land in Afrika seine “Big Five” vollzumachen. Die Lizenz für das Nashorn hat er schon. Doch die Jagd geht schief und sein Jagdleiter macht ihm ein anderes Angebot.
Aus der Sicht von Hunter erleben wir die Jagd, die folgt, und alle Rechtfertigungen, die damit einhergehen. Er reduziert das Land auf Korruption und sieht darin gleichzeitig einen Sehnsuchtsort; seinen Freizeitpark, den Weiße wie er seit Jahrhunderten romantisieren und zerstören. Nur das, was einen wirtschaftlichen Wert hat, ist es für ihn wert geschützt zu werden. So argumentiert er, dass die Trophäenjagd auf vom Aussterben bedrohte Tiere Artenschutz sei, Trophäen hinter der Paywall.

(Foto von Pauline Bernfeld (Opens in a new window) auf Unsplash (Opens in a new window))
Einem Absatz solcher Logik folgt ein entlarvender Satz. Hunter verachtet die “afrikanische Logik”, er kennt nur das Wort für “Weißer”, denn es bezieht sich auf ihn und über die Menschen und Kulturen vor Ort weiß er herzlich wenig, dafür umso mehr über das effiziente Jagen, das die Trophäe nicht beschädigt. Als er sein Nashorn nicht bekommt, verlangt er sein Geld nicht zurück. Mehrere Zeilen behauptet er damit Artenschutz zu betreiben, um schlussendlich doch zu verkünden, dass ihm die Behörden so noch ein Nashorn schulden würden und er doch noch bekäme, was er will.
Ein Scheinargument jagt das nächste. Jedes Argument dreht sich im Kreis und trägt sich ausschließlich durch sich selbst, es sind Zirkelschlüsse. Die Gegenüberstellung mit den Antworten der People of Color, denen Hunter begegnet, heben die Perversion seiner Egozentrik noch weiter hervor.
Zirkelschluss, der. Beweisführung, in der das zu Beweisende bereits als Voraussetzung enthalten ist
In der 2. Hälfte des Romans ist Hunter mit einem Fährtenleser unterwegs. Nach einer unheimlichen Nacht in der Schlucht erwacht er morgens und sieht das Land mit neuen Augen. Er hat das Gefühl der erste zu sein, ein “Entdecker” des “echten” Afrikas, nicht länger im “falschen” Jahrhundert geboren worden zu sein. Ein Verlangen, das er mit “Das ist es, was Männer zu Jungfrauen treibt” vergleicht. Dieses Paradoxon von unberührter Natur ist nur ein Beispiel für neokolonialistisches Anspruchsdenken. Dort leben ja schon Menschen, nur keine Weißen. Also zählt Hunter sie nicht mit.
Der Roman ist belastend. Er ist poetisch und ironisch. Dem “Thrill” der Jagd kann ich noch folgen. Minutiöse Planung, geduldige Ausführung. Das kenn ich, das mag ich. Nur, dass am Ende ein Tier tot sein muss, erschließt sich mir beim besten Willen nicht. Hunters absolut wilde Vorstellungen der Welt sind so abstrus, dass ich sie nicht ernst nehmen kann und doch weiß, dass ich solche Männer in meinem Umfeld habe und solche Männer die Welt regieren.
Babel, Rebecca F. Kuang, 2022
Als ich dieses Buch angefangen habe, habe ich es als “linguistic fanfiction” beschrieben. Es geht vor allem um die Herkunft von Wörtern und ihre Bedeutung in diversen Sprachen, die sich über Jahrhundert verändert hat. Das ist nicht uninteressant, aber fühlt sich nach Klugscheißerei und Belanglosigkeit an. Das Magie-System im Roman basiert auf eben jenen Unterschieden zwischen Übersetzungen, denn der gleiche Begriff in zwei Sprachen hat selten dieselbe Konnotation.
Später habe ich den Roman als “woke Hogwarts” beschrieben. Er spielt Anfang des 19. Jahrhunderts, als England Handel mit China treiben wollte und das Land mit dem Verkauf von Opium versuchte fügig zu machen. Robin wird als kleiner Junge aus Kanton nach England gebracht, um am Institut von Babel Sprachen zu lernen und selbst die Magie wirken zu können. Dort lernt er drei Freunde kennen, von denen nur eine in England geboren wurde. Die anderen verbindet, dass sie von reichen Männern als sprachbegabte Sprösslinge nach England verschleppt wurden. Wir folgen ihrem Alltag, ihren Prüfungen und den Diskussionen, die untereinander entfachen — über die Weltlage, Privilegien, Übersetzungen und ihre Familien.
Für Robin ist die Lage schwer zu begreifen. Er genießt die Privilegien, die er als jemand hat, den viele für weiß halten. Als Student am wichtigsten Institut der Welt. Als zukünftiger Gelehrter, mit dessen Magie die Welt wortwörtlich am Laufen gehalten wird. Er ist ignorant und bequem, bis etwas geschieht und er sich radikalisiert. Die darauffolgenden Diskussionen sind repetitiv und anstrengend — wegen des Themas, aber auch wegen der Ignoranz der Figuren, die sich weigern Diskriminierung ihrer Mitmenschen wahrzunehmen. Damit ist das Buch überraschend realitätsnah — immer wieder müssen Grundlagen erklärt werden, die Repetition ist frustrierend und traurig.

(Pieter Bruegel d.Ä., Der Turmbau zu Babel, 1563)
Robin blickt im Verlauf des Romans immer wieder auf sich selbst durch die Augen der Engländer:innen. Er ist dort aufgewachsen und Teil der Gesellschaft. Gleichzeitig ist er immer anders, was ihn seine Mitmenschen spüren lassen. Für sie ist er ein bisschen weniger englisch, ein bisschen weniger wert. Das führt zu einer Zwei-igkeit in ihm: Er ist Chinese und Engländer und doch in beiden Kulturen Außenstehender. Er sieht sich durch die Augen der einen Kultur als Teil der anderen. Er sieht sich selbst als Chinese und als Engländer. Beide Identitäten lassen sich nicht vereinen und sind trotzdem gleichzeitig Teil von ihm. Dieses Gefühl beschreibt W.E.B. Du Bois als “double consciousness”.
Die meiste Zeit gibt es in der Geschichte kein wirkliches Ziel, was den Plot ziehend und dröge macht. Keine Fallhöhe, kein Spannungsbogen, keine Gefahren oder Belohnungen. Alles passiert einfach und dann passiert etwas anderes. Den ersten großen Twist gibt es in der 2. Hälfte. Ich bin fast vor ein Auto gelaufen, so schockiert war ich beim Hören. Der zweite Twist kommt wenig später und ist die Art, die man vorhersehen kann, aber nicht wahrhaben will. Danach eskaliert der Plot schnell, wodurch das Ende zunächst nicht so recht seine Wirkung entfalten kann. Das passiert ein paar Tage nach dem Lesen.
Identitti, Mithu Sanyal, 2021
Hierüber schrieb ich letztes Jahr schon (Opens in a new window). Die Studentin Nivedita erfährt, dass ihre Dozentin gar keine Person of Color ist, wie sie vorgab. Das löst in Nivedita viele Gefühle und Fragen aus, aber auch bei ihren Freund:innen und in der Öffentlichkeit. Allein und gemeinsam wagen die Charaktere eine Aufdröselung der mitunter widersprüchlichen Fragen und suchen nach Antworten. Es geht nicht nur darum, wie die eigene Identität konstruiert wird, sondern auch wie andere sie mitgestalten, aufstülpen oder diskriminieren.
Herz der Finsternis, Joseph Conrad, 1899
Auch das ist ein alter Hut (Opens in a new window). In zweierlei Hinsicht, denn nicht nur habe ich diesem Werk mal zwei Ausgaben gewidmet, es ist auch mit Abstand das älteste in dieser Liste.
Marlow soll auf einem Dampfer den Kongo “entdecken”. Da leben natürlich schon Menschen, die aber ausgenutzt werden sollen, damit zuhause in Europa Männer mit Lineal und Kuli auf einer Karte Gebiete unter sich aufteilen können. Die Lage auf dem Dampfer wird immer dramatischer, denn die Natur dort ist für unbedarfte Reisende gefährlich. Und nicht nur die, wie sich später herausstellt.
Wir Herrenmenschen, Bartholomäus Grill, 2019
Why I’m No Longer Talking to White People About Race, Reni-Eddo-Lodge, 2017
Jede Sammlung von Fiktion braucht eine kontrastierende Erwähnung von Sachbüchern. Diese beiden erklären — sehr unterschiedlich, aber eindrücklich — wieso uns heute noch beschäftigen sollte, dass Deutschland (und europäische Nachbarn) Kolonien hatte. Was die oben genannten Bücher auf einer Gefühlsbasis erzählen, vermitteln diese beiden auf Datenbasis.
Wenn ihr diesen Newsletter sehr aufmerksam lest, kennt ihr beide Titel schon. Ich bin SEHR daran interessiert, eure Empfehlungen zu lesen, Fiktion oder Sachbuch.
You are always on my mind
Es gibt Spiele, über die denke ich immer wieder nach. Dabei sind es gerade nicht meine Lieblingsspiele oder -reihen. Nicht die Final Fantasy 9s, Resident Evils und Dark Souls dieser Welt. Sondern Spiele, an die ich mich wohlwollend erinnere ohne Lust zu haben sie noch einmal zu spielen.
Fallout 4 wegen seiner offenen Welt, die voller Abenteuer schien (im Gegensatz zu Assassin’s Creed-Welten, I said what I said)
Get Even, weil es ein wilder Mix aus Outlast-artigem Horror und 7/10-Shooter ist
Rayman Legends wegen seiner Musiklevel und weil die Lernkurve eine Gerade ist
Tunic, weil es das perfekte Erkundungsspiel ist, das Rätsel und Lösung auf zwei diegetischen Ebenen hat: die tatsächlichen Hindernisse in der Welt werden mit einem Handbuch überwunden, dessen Sprache wir uns mit unseren Handlungen in der Welt erschließen müssen
Deadly Premonition, weil es eine freche Twin Peaks-Kopie mit surrealen Figuren und janky Mechaniken ist
Planet Mort wegen seiner absurden Items, Gegner und Minispielen in vertrauten N64-Leveln

(Get Even)
Vermutlich liegt über allen wohligen Erinnerungen schon der Schleier des Vergessens. Vielleicht habe ich auch ein wenig Angst diese Spiele mit mehr Erfahrung nochmal zu spielen und enttäuscht zu werden. Or maybe it ain’t that deep.
Meme der Woche

Eigentlich ist das Format “What’s wrong, babe? You barely touched your…” grausigen Essenskreationen vorbehalten, wie dem hyperrealistischen Mettigel oder dem Haps Flip (Opens in a new window). Dingen, die man lieber nicht essen möchte, deren alle Grenzen des Essbaren sprengende Kreativität und Hingabe aber anerkannt werden muss.
Das Pendant für alles (auch nicht theoretisch) essbare ist “XY isn’t real, he can’t hurt you.” XY steht beispielsweise für “Colgator”. Auch hier zeigt sich: die unheilige Verbindung zweier Dinge, die nicht verbunden werden sollte (Colgate und Aligator, Mett und Igel) ist immerhin guter Meme-Content.

Hier haben wir es nun mit einem Triceratops-Tiramisu zu tun. Oder “Triceramisu”. Sowohl der Dino als auch das Dessert erfreuen sich in der generellen Öffentlichkeit großer Beliebtheit und die Verbindung ist hier etwas wunderschönes, vermutlich sogar delikates. Der einzige Witz ist das Wortspiel aus Triceratops und Tiramisu. Zur Verbreitung des Memes ist sicherlich auch der Cuteness-Faktor zuträglich. Aber wieso ist dieses Meme dennoch ein eher schwacher Vertreter seines Genres?
Ein möglicher Hinweis könnte das Bild sein. Ich möchte niemandem zu nahe treten, aber es gibt nur sehr wenige Menschen, die so ein Triceramisu backen könnten. Wahrscheinlicher ist der Einsatz einer KI.
Was uns zu der Frage bringt: Ist auch der Witz künstlichen Ursprungs? Werden wir in Zukunft weniger Paint-Kunstwerke, schlecht ausgeschnittene Bilder und Wasserzeichen sehen? Wollen sich Meme-Erschaffer:innen professionalisieren und ihren Memes ein weniger hingerotztes Aussehen verleihen? Wo führt uns das hin? Wie sehen Memes in 2, 10, 40 Jahren aus?
Dass auch mit Memes Geld zu machen ist, ist lange kein Geheimnis mehr. Und endlich werden die Memes besser! Bauhaus hat zum Beispiel einen absoluten Klassiker der deutschen Meme-Kultur witzig angewendet (Opens in a new window). Auf Tiktok und Social Media tummeln sich seit Jahren Kanäle, die ausschließlich mehr oder weniger witzigen Content posten und in Kauf nehmen alle paar Monate schäbige Werbung zu machen und tausende Follower:innen zu verlieren. Die nächsten Tausend stehen schon an der Tür.
Danke
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Die Überschrift dieser Ausgabe ist eine Anspielung auf Animal Farn von George Orwell. Dort heißt es, dass alle Tiere gleich sind, aber manche sind gleicher als andere.
Tschüsli Müsli,
Christina