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Ich hatte das Gefühl, eine Stimme zu haben, also schrieb ich.


<Sasha Filipenko>

Sasha Filipenko ist nur ein Jahr älter als ich und lebt mit seiner Familie im Schweizer Exil, weil ihm in seiner Heimat Bearus straftrechtliche Konsequenzen drohen. Als Schriftsteller, Journalist und Moderator stellt er sich öffentlich gegen den belarussischen Präsidenten und dessen Politik.

Ich hatte das Gefühl, eine Stimme zu haben, also schrieb ich. Das stand in meinem Abreißkalender. Auf einem Blatt - das Datum weiß ich nicht mehr, doch lange her ist es noch nicht.

zweitausendneunzehn.

Als meine Tochter Fritzi ein paar Tage alt war und vermutlich war es am zweiten oder dritten Tag auf der Intensivstation der Kinderklinik, da begann ich zu schreiben. Ich schrieb, um den Boden unter den Füßen wiederzufinden. Wenigstens die Fußspitze einmal wissen lassen, dass da noch Boden war - wenn auch nur kurz.

Ich schrieb, um nicht zu vergessen. Ich hatte ein Kind geboren. Das dritte in nicht einmal sieben Jahren und ich saß an einem Klinikbett, keine 100 Stunden später. Meine Gedanken waren wirr, sie waren zu schnell und es waren zu viele. Meine anderen Kinder noch klein, völlig verunsichert ob unserer ganzen Situation und ich schrieb zur Erinnerung an diese Zeit. Für dieses kranke Kind, für meine gesunden Kinder. Für uns. Für mich. Für irgendwann.

Ich schrieb und Fritzi wurde mehrfach operiert. Ich schrieb und wir wussten nicht, was morgen sein würde. Ich schrieb und wir kamen nach Hause. Kein gesundes Kind, kein Aufatmen, keine Prognose, keine Sicherheit.

zweitausendzwanzig.

Ich schrieb und eine Pandemie erfasste die Welt und alle darin lebenden Menschen. Schrieb und wir wühlten uns durch den Pflegewahnsinn hindurch in Wälder, in denen das kranke Kind ohne weitere Konsequenzen im Strahl in die Büsche erbrechen konnte und in denen niemand ebenfalls wandelte und uns anstecken konnte.

Ich schrieb mir einen Griff an das verschlossene Fenster vor meinen Gedanken. Ich schrieb und es öffnete sich in zwei Richtungen.

Nach draußen in die Welt, in der die anderen waren. Die, die verstehen konnten, weil sie Ähnliches erlebt hatten und die, die verstehen wollten, weil es ihnen gut genug ging. Und ich öffnete das Fenster zu mir selbst. Sichtbarkeit nach außen und Innenschau. Ich schrieb.

zweitausendeinundzwanzig.

Immer schrieb ich und verstand etwas. Dass ich das erste Jahr nur überleben konnte. Dass ich im zweiten die Wahl zwischen Sterben und radikalem Annehmen traf und dass das dritte Jahr mit meinem kranken Kind ein Ankommen war in unserem Jetzt und Danach. Ich schrieb und bereitete mich vor. Auf das Sterben meines Kindes und auf mein Weiterleben damit.

zweitausendzweiunzwanzig.

Meine Briefe lasen immer mehr Menschen und meine Worte an mich selbst auch. Bald schrieb ich auch dazwischen, wann immer ich Fragen hatte, nach Sinn suchte und wo Platz zum Diskutieren war. Pflegende Eltern, der Umgang mit lebensverkürzenden Erkrankungen, betroffene Geschwister begleiten und so ein bisschen Selbstfürsorge - das waren Themen, die mein Leben ausgemacht haben. Das sind Themen, die neben mir noch so viele andere bewegen und etwas angehen.

Ich schrieb für die, die es nicht konnten. Weil es wichtig war. Ich schrieb für die Seltenen, die insgesamt so viele sind. Ich schrieb für mich und wegen Fritzi. Ich schrieb für sie und immerfort. Einen Tag bevor ich sie ein letztes Mal in ein Krankenhaus begleitete, da begann ich einen Text, den ich beendete, als sie tot neben mir lag; zu Hause in unserem Bett. Ich schrieb ihr Leben. Unser gemeinsames. Und auch, als meine ersten Tränen und der tiefe Schock weniger und leiser wurden, da schrieb ich. Weiter für sie und ihretwegen. Für mich und uns und alle anderen.

zweitausenddreiundzwanzig.

Meine Worte erreichen Tausende. Tausende Menschen kennen unsere Geschichte und das tiefe Gefühl, auch Fritzi zu kennen. Von ihr berührt worden zu sein. Ein Flügelschlag. Mein Hummelkind.

Ich habe ein Netz geschrieben, in dem wir alle gehalten werden. Menschen halten ihre gesunden Kinder einmal mehr fest und bereiten sich auf das Lebensende ihrer kranken Kinder zweimal eher vor. Manche wechseln in die palliative Fachrichtung, sehen ihre Patientenfamilien mit anderen Augen, werden Trauerbegleiter*innen. Andere überdenken ihre Privilegien und schauen einmal mehr hin. Sie stellen kluge Fragen und lernen, ganz genau zu sagen, was sie meinen und hören ihr Herz wieder viel besser.

Ich schrieb und ich hatte das Gefühl, eine Stimme zu haben.

Und deshalb höre ich damit nicht auf.

Topic Das Fenster nach innen

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