Ohne Gewaltschutz kein Kinderschutz

Von Tina Steiger
Gehen Familien aufgrund von häuslicher Gewalt auseinander, schalten sich Fachstellen ein, die „Trennung und Scheidung“ im Sinne des „Kindeswohls“ begleiten.
Doch was genau ist das Kindeswohl? Eins sei vorab verraten: Dasselbe wie Kinderschutz ist es nicht. Am Ende ist es oft das Gegenteil und der sogenannte Kindeswohl-Begriff wendet sich in vielen Fällen als regelrechte Kindeswohlgefährdung gegen das Kind.
Warum ist das so? Welche Stellen sind involviert? Und welche Rechtsbegriffe sind damit verbunden? Der Versuch einer Analyse.
Kindeswohl-Begriff
Unter Kindeswohl verstehen Gerichte und Sachveständige folgende Definition. Der Paragraph 1666, Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) benennt als Elemente des Kindeswohls das körperliche, geistige und seelische Wohlbefinden. Demzufolge solle dem Kind die Möglichkeit gegeben werden, zu einer selbstständigen und verantwortungsbewussten Person heranwachsen zu können.
Bezogen auf einen Elternteil des Kindes gilt in Paragraph 1684 des BGB zunächst, (1) Das Kind hat das Recht auf Umgang mit jedem Elternteil; jeder Elternteil ist zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt (2) Die Eltern haben alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum jeweils anderen Elternteil beeinträchtigt oder die Erziehung erschwert.
In familiengerichtlichen Verfahren vor dem Hintergrund von häuslicher Gewalt geht es vor allem um Paragraph 1684. Das Recht des Kindes an beiden Elternteilen ist ein gewichtiges. Somit wird auch dem Recht des Kindes am gewalttätigen Elternteil eine besondere Stellung eingeräumt, noch vor dem Gewaltschutz des Kindes vor der Gewalt durch den Vater.
Das Wohl des Kindes definiert sich über das Recht des Kindes auf Umgang mit seinem Gewalttäter. Was paradox klingt, wird in Familiengerichten und Jugendämtern in Deutschland genauso umgesetzt und in seiner Handhabung strikt verteidigt. Zum einen, weil die Gesetzeslage es so vorsieht, zum anderen, weil die Präsenz eines Vaters im Leben als entwicklungsfördernd und damit unabdingbar für die gesunde Entwicklung eines Kindes betrachtet wird.
Das sagt der Kinderschutz
Diese Einschätzung gerät in den letzten Jahren ins Wanken. Inzwischen sind sich Entwicklungspsychologen anhand aussagekräftiger Studien einig, dass ein Vater nicht um jeden Preis einen Gewinn im Leben eines Kindes darstellt. Insbesondere dann nicht, wenn er Gewalt gegen die Mutter oder gegen das Kind ausgeübt hat. Auch ein Miterleben oder Aufwachsen im Klima von Gewalt und Bedrohung wird inzwischen als schädlich für die kindliche Entwicklung eingeordnet.
Entwicklungsschäden und Traumatisierungen
Gewalt, genauso wie miterlebte oder auch mitgehörte Gewalt, birgt Kinderschutzexpterten zufolge ein hohes Risiko eines unmittelbaren und/oder späteren schweren Entwicklungsschadens für Kinder. Prof. Dr. Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut (www.dji.de (Opens in a new window)) und dort Leiter der Fachgruppe 3 “Familienhilfe und Kinderschutz” in der Abteilung “Familie und Familienpolitik” des Deutschen Jugendinstituts e.V. München nennt in einem Fachvortrag im November 2024 unter anderem folgende Risiken:
30 bis 40 Prozent der Kinder zeigten sich zeitweise klinisch auffällig. Das sei damit vier- bis sechsfach mehr, als der Durchschnitt der Kinder der Kontrollgruppe. Zu beobachten seien vor allem nach Innen gerichtete Aufälligkeiten, auch bei Jungs und eine Einordnung in Prävalenz-Zahlen in anderen Problemlagen. Zudem zu beobachten seien stärkere Zusammenhänge bei länger anhaltender, breit gefasster Gewalt (Vu et al, 2016).
Traumatisierungen der Kinder nach häuslicher Gewalt beschreibt Prof. Dr. Kindler ähnlich ausgeprägt, wie bei Kindern nach Verkehrsunfällen oder Hundeattacken. Ausgeprägter seien die Traumatisierungen nur nach dem Miterleben eines gewaltsamen Todesfalls in der Familie.
Auswirkungen von Gewalt auf die schulische Entwicklung
Kindler bezieht sich auf 38 existierende Studien zur schulischen Entwicklung bei einer Belastung durch häusliche Gewalt. (Savopoulos et al., 2022). Die Gewalt (auch Miterleben) übe einen deutlichen Unterdrückunsgeffekt auf den IQ aus, je nach Schwere der Gewalt. Häufig seien zudem erhöhte Unruhe und Konzentrationsprobleme. Die mittlere Rate von Fähigkeitsrückständen von einem oder mehr Jahren in Kernfächern liege zudem bei 40 Prozent. Negative Kaskadeneffekte seien zudem zu beobachten. Kaskadeneffekte beschreiben Vorgänge ähnlich eines Dominoeffektes, wo der Ausfall in einem betroffenen Sektor jedoch stärkere Auswikungen zur Folge hat, als der ursprüngliche Ausfall.
Auswirkungen auf die sozioemotionale Entwicklung
Derzeit liegen 26 Studien zur Auswirkung von Gewalt auf die sozioemitionale Entwicklung von Kindern vor. (Bender et al., 2022). Darin zeigen 40–50 Prozent aller Kinder, die Gewalt erfahren und miterlebt haben, Probleme und Rückstände. Besonders beunruhigend seien weniger konstruktive Konfliktlösungen, eingeschränkte Regulation von heftigen Gefühlen und die Bildung weniger Freundschaften. (Aus Fachvortrag Prof. Dr. Kindler, Fachtag Paritätischer, LRA FFB, Starnberg, November 2024)
Der Zusammenhang zwischen erlebter Gewalt und den Folgen
Geht es um den Umgang des Vaters (Täters) mit seinem Kind, weisen Jugendämter, Verfahrensbeiständ:innen (als sogenannte Anwält:innen des Kindes) und Sachverständige regelmäßig darauf hin, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen Auffälligkeiten des Kindes und einer vorausgegangenen, wiederholten Gewalt durch den Vater an der Mutter und/oder am Kind nicht bestehe und nicht ursächlich sei. Das ist falsch und in Studien intensiv untersucht. Häufig führt die Falschannahme der Fachkräfte zu einer Täter-Opfer-Umkehr gegenüber der gewaltbetroffenen Mutter und zum Vorwurf einer sogenannten Bindungsintoleranz der Mutter gegenüber dem gewaltausübenden Vater. Das Bundesverfassungsgericht stufte diese Schlussfolgerung (Parental Alienation Syndrome, PAS) im November 2023 als unzulässig und unwissenschenschaftlich ein. (Beschluss vom 17. November 2023, Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 1076/23) Anwendung findet die These bis heute in diversen Formen, unter anderem als “Loyalitätskonflikt”, “gatekeeping”, “Übertragung von Ängsten”.
Zusammenhang zwischen Gewalthäufigkeit und Kindesentwicklung
Fergusson & Horwood stellten beispielsweise bereits 1998 in ihrer Dunedin Längsschnittstudie, NZL einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Gewaltvorfällen und der Auswirkung auf Kinder vor. (Aus Fachvortrag Prof. Dr. Kindler, Fachtag Paritätischer, LRA FFB, Starnberg, November 2024). Untersucht wurden die Störung des Sozialverhaltens, Angststörungen, Depression, spätere Alkoholabhängigkeit und Gewaltstrataten. Vereinfacht zusammengefasst steigt mit der Häufung der Vorfälle von Gewalt eine Auswirkung beim Kind von unter 4 Prozent bei einmaligen Vorfällen bis zu über 60 Prozent Ausprägung bei mehr als zwei Vorfällen.
Fachkräfte müssen diese Kindeswohlgefährdung berücksichtigen
Prof. Dr. Kindler weist darauf hin, international wachse in den westlichen Demokratien daher aufgrund der Forschungslage der Konsens, dass auch Jugendhilfe, Gesundheitshilfe, Familiengerichtsbarkeit und Polizei häusliche Gewalt als Kindeswohl-Thema aktiv aufgreifen müssen.
Die Schwierigkeit bestünde aber darin, dies in generalistischen Institutionen zu verankern und spezialisierte Fachkräfte up-to-date zu halten.
Fortbildung für Richterinnen und Richter
Eine Vielzahl von Gerichten sieht in der Gewalt eines Vaters in Anwesenheit eines Kindes inzwischen eine eigene Form der Kindeswohlgefährdung und schließt daher zum Wohle des Kindes den Umgang vorübergehen oder dauerhaft aus. Nachzulesen sind eine große Anzahl der Referenzurteile inklusive einer ausführlichen Begründung in der Fortbildungsbroschüre „Kindschaftssachen und häusliche Gewalt“. Eine Publikation des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend.
Die Fortbildungsbroschüre „Kindschaftssachen und häusliche Gewalt“ wurde im Rahmen des E-Learning-Projekts „Schutz und Hilfe bei häuslicher Gewalt – ein interdisziplinärer Online-Kurs“ erstellt und richtet sich an Familienrichterinnen und Familienrichter sowie an alle weiteren Akteurinnen und Akteure im familiengerichtlichen Verfahren, die bei der Regelung des Umgangs, der elterlichen Sorge und der Feststellung der Kindeswohlgefährdung (nach häuslicher Gewalt) mitwirken. Die Qualifizierung von Fachkräften ist ein zentrales Element zur Weiterentwicklung des Hilfesystems und für die umfassende Versorgung gewaltbetroffener Frauen und ihrer Kinder. Mit dem im Rahmen des Bundesförderprogramms seit 2019 geförderten E-Learning-Projekt wird hierfür ein wichtiger Beitrag geleistet. Der E-Learning-Kurs richtet sich an alle Akteurinnen und Akteure im Feld von Schutz und Unterstützung bei häuslicher Gewalt, darunter auch an Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe sowie an Fachpersonal aus allen relevanten Disziplinen und ist damit auch ein Beitrag zur Fortbildung im Sinne von Artikel 15 der Istanbul-Konvention. (Quelle: www.bmfsfj.de)
Literaturangaben:
Aus: Fachvortrag Prof. Dr. Kindler, Fachtag Paritätischer, LRA FFB, Starnberg, November 2024
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Sane, M. M., Cage, J., Holmes, M. R., Berg, K. A. , Voith , L. A. (2022).
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Savopoulos, P., Bryant, C., Fogarty, A., Conway, L. J., Fitzpatrick, K. M.,
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Vu, N. L.,
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Fergusson D &
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